Weil der portugiesische Landwirt Alfredo Cunhal Sendim die Grenzen der Natur im Alentejo achtet, gibt ihm die trockene Region eine Vielfalt an Gemüse, Obst und Fleisch. Der Weg dahin führte über Geduld, Mut und die Erkenntnis, nicht alles allein bewerkstelligen zu müssen
Hier müssen sie sein, irgendwo“, sagt Alfredo Cunhal Sendim. Der Portugiese, klein und schmal, eilt voran, doch der lichte Wald sieht aus, als wäre lange kein Mensch mehr da gewesen. Spröde Äste und Zweige liegen kreuz und quer am Boden, sie knacken bei jedem Schritt. Dazwischen winden sich Wurzeln, wachsen junge Triebe und Büsche. Die Nachmittagssonne lässt das Gras hellgelb schimmern, in den Baumkronen zwitschert es, der Wind raschelt sanft im Laub. Wärme. Und über allem Stille.
Uralte Bäume
Aber plötzlich sind da doch Stimmen zu hören, Rufe und immer wieder ein kurzes, trockenes Geräusch, als würde Styropor zerbrochen: Ein Dutzend Männer ist dabei, Korkeichen zu schälen. Mit gezielten Hieben schlagen sie Äxte in die Bäume, gerade so tief, dass sie keinen Schaden anrichten, aber mit dem Stielende hinterher dicke Stücke Borke abhebeln können. Zurück bleiben Stämme, deren unteres Ende rötlich glänzt und wie wund aussieht. Neun Jahre haben sie jetzt Zeit, sich zu erholen und Kork nachzubilden. Neun Jahre, in denen hier kaum wieder jemand vorbeikommt. „Manche Bäume sind 200 Jahre alt, viele hat noch mein Großvater gepflanzt“, sagt Alfredo, als er von Eiche zu Eiche geht und die Arbeiter begrüßt.
Ich träume davon, dass ich bis zu meinem Lebensende dreimal mehr Bäume habe
Der ganzheitlich denkende Landwirt und Gutsbesitzer möchte nicht unbedingt mehr Kork verkaufen. Längst macht das Naturprodukt nur noch einen geringen Teil seines Einkommens aus. Auf seiner Farm „Herdade do Freixo do Meio“, eine gute Stunde östlich von Lissabon, wachsen mitten im Alentejo, dem trockensten Landstrich Portugals, Gemüse von Brunnenkresse bis zu grünen Bohnen, Erdbeeren, Oliven, Feigen und Pinienkerne. Schweine, Schafe, Ziegen und Truthähne führen ein artgerechtes Leben, ehe sie zu Fleisch verarbeitet werden, in einem alten, gemauerten Ofen wird wie früher aus Weizen- und Eichelmehl knuspriges Brot gebacken.
Mut und Durchhaltevermögen
Von den insgesamt 300 Produkten – „die gesamte mediterrane Kost außer Fisch und Milch, in kleiner Stückzahl, aber großer Vielfalt“ – sind die meisten bestimmt für den Hofladen im Mercado da Ribeira, dem ältesten Markt der portugiesischen Hauptstadt. Als Alfredo ihn 2011 eröffnete, war es sein letzter, geradezu verzweifelter Versuch, sich mit seiner Idee eines nachhaltigen Umgangs mit der Natur zu behaupten. Der Shop war weder auf dem Hof gelaufen noch im nächstgrößeren Ort oder in der nahen Weltkulturerbe-Stadt Évora. „Es ist eine Geschichte des Überlebens“, sagt Alfredo nicht ohne Stolz, und dass er 2013 erstmals einen Gewinn verzeichnen konnte. Neben all dem Zuspruch seiner Kunden war das auch die finanzielle Bestätigung für seinen Entschluss, Landwirtschaft auf traditionelle Weise zu betreiben. Und die wäre hier ohne Bäume nicht möglich.
Die ursprüngliche Landschaft des Alentejo, der „Montado“, besteht aus einer komplexen Symbiose aus Bäumen, Büschen und Gras. Aus dem Miteinander von Pflanzen, Tieren und Menschen. Kork- und Steineichen wurzeln tief hinab ins eigentlich karge Erdreich, pumpen Grundwasser nach oben, gehen nebenbei Symbiosen mit Bakterien und Pilzen ein, die wiederum den Boden beleben. Schwarze Iberische Schweine auf Futtersuche lockern ihn mit ihrer Nase auf und düngen ihn mit ihren Ausscheidungen; Eicheln, die sie im Buschwerk nicht entdecken, wachsen als neue Bäume nach. Wein und Oliven – deren Überreste bei der Olivenölproduktion heute ebenfalls den Schweinen vorgeworfen werden – wurden hier seit jeher gepflanzt, außerdem etwas Gemüse und Obst. Gut gepflegt, versorgte der Montado die Menschen jahrhundertelang in bescheidenem Umfang, bis der portugiesische Diktator Salazar die Region zur Kornkammer seines „Neuen Staates“ machen wollte: Er ließ weite Flächen einebnen, nach der Revolution 1974 fuhren Kooperativen damit fort, frühere Grundbesitzer wurden enteignet. So auch die Cunhals. Als die Familie von Alfredo ihr Land 1992 zurückerhielt, „war es eine Wüste“, erinnert sich der 48-Jährige, der am 25. April Geburtstag feiert, dem Tag der Revolution: „Nicht einen Vogel hörte man singen.“ Ringsum nur Tomaten, Paprika und Tabak auf Feldern in Monokulturen.
Im Kreis denken
Vorne an der Straße zwischen Lavre und Montemor-o-Novo, nur wenige Hundert Meter von seiner heutigen Farm entfernt, sieht man sie daliegen wie Laken, aus denen fast nur Strommasten mit Storchennestern ragen und die jedem Besucher aus Mitteleuropa völlig normal erscheinen. Und doch wirken sie seltsam leblos gegen Alfredos lichte Eichenwälder. Einige zumindest haben den Kahlschlag überstanden, so das entlegenere Gebiet, wo er den Kork ernten lässt, und direkt auf seiner Farm. Auch der prächtige, fast 2000 Jahre alte Olivenbaum steht noch dort.
Alfredo und seine Geschwister versuchten es zunächst mit ökologischem Landbau, aber dann stiegen die anderen aus und ließen ihn mit dem Land und den Schulden allein – für sie kam nicht genug dabei rum, er sei verrückt, freiwillig auf ein Vermögen zu verzichten. Seine Frau trennte sich von ihm und zog mit den Kindern nach Spanien. Er erlitt drei Bandscheibenvorfälle. Das war 2008, und er dachte erstmals daran aufzugeben. „Doch dann wurde mir bewusst, dass mein Kapital nicht das Geld ist“, sagt Alfredo, „es ist die Erde, und es sind die Menschen.“ Spätestens seitdem denkt er im Kreis. In Kreisläufen, wie auch der Montado einer ist. Anders als biologische Landwirtschaft kommt er sogar ganz ohne Dünger von außen aus.
In Alfredos Büro hängt an einer Wand ein gerahmtes Mandala. Er hat es mit Buntstiften selbst gemalt. Im ersten Ring, der die Mitte umgibt, steht in Blau „Dienstleistungen“, in Grün „Umwelt“, in Gelb „Energie“ und in Rot „Nahrung“, und für ihn ist alles miteinander verbunden.
„Nahrung“ nimmt den meisten Raum ein und fächert sich auf in Produkte von Tieren und Pflanzen sowie des Waldes (wie Pinienkerne) und seines Weinbergs, in Oliven, Olivenöl, sonnengetrocknete Zucchini. Bei „Energie“ setzt er auf die Kraft der Sonne, die im Alentejo reichlich vorhanden ist, und auf Fotovoltaik.
„Umwelt“ erinnert ihn an den selbst gewählten Auftrag, die Artenvielfalt zu erhalten oder sogar zu vergrößern. Und zu „Dienstleistungen“ gehören (bisher noch wenige) Übernachtungsangebote für Ökotouristen (unter anderem an einem verschwiegenen See) und regelmäßige Besuche von Gruppen aus Lissabon, die das Restaurant im ehemaligen Bullenstall für ein traditionelles Essen buchen.
Sie erfahren dann mehr über sein Konzept, genauso wie die Schulklassen, die einmal in der Woche hinaus aufs Land fahren. Ihnen erklärt er mit leiser, aber selbstbewusster Stimme den Wert von Grenzen, im Mandala wie im Leben: „Unser Job als Menschen ist es, die Natur zu beobachten, sie zu verstehen und uns um sie zu kümmern und ihre Grenzen zu respektieren. Ansonsten gehen wir verloren.“ So haben die Gemüsebeete, die er bewusst im gnädigen Halbschatten eines Olivenhains anlegte, eher die Ausmaße eines ambitionierten Schrebergartens. Aber er kann damit 100 Familien in Lissabon ernähren.
Wer den Weg auf seinen Hof findet, staunt, was er aus dem einst verfallenen Anwesen auf einem kleinen Hügel, dem „Monte“, gemacht hat: In der Mitte, am höchsten Punkt, hat er einen Teich mit einem Steg und Schilf angelegt, an einem Ende wachsen Kräuter und blühen Blumen. In dem lang gestreckten, weiß getünchten Gebäude rechts davon sind Helferinnen aus dem Dorf dabei, Gemüse zu putzen, es abzupacken, daraus Suppen und Soßen zu kochen. In dieser dünn besiedelten Gegend finden sie kaum andere Arbeit.
Den Boden bereiten
In den ehemaligen Unterstand für die Kutschen seines Urgroßvaters ist ein Handwerker eingezogen, der „archaische Technologien“ anbietet und die handbemalten Schilder auf der Farm angefertigt hat. Den Stall nutzt ein Reitlehrer kostenlos, da er sich um die Pferde der Farm kümmert und Reitausflüge anbietet. Denn Alfredo beschloss 2008 auch, nicht alles allein zu machen und andere zu seinem Projekt dazuzuholen. So wie auch Mafalda und André aus Lissabon, ein junges Paar, dem er unentgeltlich Land für seinen Kräuteranbau verpachtet. Weil die verschiedenen Sorten von Thymian, Rosmarin und Lavendel nicht nur intensiv duften und Schmetterlinge anlocken, sondern auch die Erde vitalisieren, dürfen die beiden alle Gewinne behalten. Das Land fällt am Ende der Pacht an Alfredo zurück. „Diese Menschen ziehen andere an, die dann auf den Hof kommen und die übrigen Angebote kennenlernen“, sagt der Gutsherr, von seinem Ansatz überzeugt. „Ich glaube an das Individuum, vor dem Hintergrund der Gemeinschaft“, fügt er hinzu, und dass Autonomie nur gelinge, wenn jedem bewusst sei, wie sehr er von den Übrigen abhänge. Alfredo bereitet den Boden dafür, dass andere wachsen können und er mit ihnen.
Als treibende Kraft in der Mitte verhält er sich doch respektvoll anderen gegenüber: ein guter Zuhörer, der still nickt und damit Verständnis vermittelt, sein Geschirr nach dem gemeinsamen Mittagessen selbst abspült und am Boden liegendes Papier wortlos aufhebt und in den Mülleimer wirft. Zu tun gibt es für ihn immer etwas. Jeden Mittag aber gönnt sich Alfredo zumindest einen kurzen Mittagsschlaf: „Danach bin ich wie neu!“ Außerdem nimmt er sich Zeit für Yoga.
Morgens um acht, wenn die Sonne noch tief steht und die Luft angenehm kühl ist, versammeln sich die Männer und Frauen aus dem Dorf und freiwillige Helfer vor dem ehemaligen Bullenstall. Marta, 30, aus dem spanischen Valladolid, ist dabei – ihre Großeltern verstehen nicht, dass sie Erfahrungen auf dem Feld sucht, wo sie doch Umweltwissenschaften studiert hat. Auch Sarah, 31, aus Paris, hilft mit drei Freundinnen für einige Wochen bei der Ernte. Sie gab ihre Arbeit in einem Kino auf, weil sie nicht länger Popcornschachteln und Cola-Flaschen mit einer Plastiktüte aufsammeln wollte. Im Kontakt mit der Natur hofft sie auf eine Inspiration, welche Richtung sie ihrem Leben geben soll.
Viet aus Bremen, ein 23 Jahre alter Landschaftsgärtner mit Dreadlocks und vietnamesischen Eltern, macht hier auf seiner Europareise mit dem Fahrrad halt. Ein 54 Jahre alter Topograf, der im Portugal der Wirtschaftskrise keine Arbeit mehr fand, steht seit zwei Wochen täglich mehrere Stunden in der Hitze im Weinberg. Alfredo tritt wie jeden Morgen in den Kreis, begrüßt jeden Einzelnen mit einem „Bom día!“, einem kräftigen Händedruck, einem kurzen, festen Blick.
Dann wird die Arbeit verteilt. Wer erntet Gemüse? Wer geht heute in die Küche? Wer hilft im Weinberg?
Als er gegen 10 Uhr selbst nach Montemor-o-Novo hinüberfährt, wo sein Wein wächst, huscht eine unterarmlange Eidechse über die Straße. „Die hab ich ja lange nicht gesehen“, sagt Alfredo erfreut. Ein gutes Zeichen.
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