Werde Magazin - Globen

Die Weltenbauer

Werde Magazin - Winterheft 2018

Aus Winterheft 2018 (leider vergriffen)

Beitrag Stories

James Bissell-Thomas will die Erde nicht retten. Sehr wohl aber die Art, wie wir sie sehen – der Engländer baut auf der Isle of Wight wunderschöne Globen. Und das aus Liebe und Überzeugung.

Da war dieser Artikel in einem der vielen englischen Revolverblätter. „Statue von Elvis auf dem Mars gefunden!“, stand da, und James Bissell-Thomas stellte den Kaffeebecher ab, sah von der Zeitung auf und kam ins Grübeln. Es war Ende der 1980er, er hatte gerade erst angefangen, Globen zu bauen und hoffentlich irgendwann auch mal zu verkaufen, und er dachte: Mars. Elvis. Wie cool. Also baute er den roten Planeten nach, stellte 23 keilförmige Felder aus den bekannten Marsdaten her – und eines mit, sagen wir mal: Bonusmaterial. Denn darin platzierte er eine winzig kleine Abbildung von Elvis Presley und nannte Punkte in der Umgebung „Graceland“ und „Suspicious Minds“ und „Heartbreak Hotel“. „Ich war fest davon überzeugt, dass das sofort ein Riesenerfolg werden würde bei all den Fans auf der Welt“, sagt Bissell-Thomas und kratzt sich am Kopf. War es nicht. Ganze zwei Stück hat er davon abgesetzt in fast 30 Jahren. Aber gerade gestern sei eine Bestellung für einen Presley-Mars reingekommen. „Man könnte also sagen, heute ist ein historischer Tag“, sagt Bissell-Thomas und lacht: „Elvis is leaving the building!“

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Die Welt der Welten

Dieses Gebäude ist ein ebenso schmales wie langgestrecktes, verwirrend verschachteltes Häuserensemble zwischen Union Street und Union Road, beste Innenstadtlage in Ryde auf der Isle of Wight, einer Insel im Ärmelkanal. Wenn man durch das Ladencafé „The Orrary“, das seit Jahren geschlossen ist, renoviert und einfach nicht fertig wird, zum vergitterten Haupteingang geht und von da ein paar Meter rechts hinunter zum Pier, kann man auf dem Festland drüben die Stadt Portsmouth sehen. Doch das will James jetzt nicht. Er fährt eh heute Abend wieder rüber und zurück nach London, dort wohnt er die meiste Zeit. Aber alle zwei Wochen ist er für drei Tage hier, dann hat er ordentlich zu tun. Nimmt Bestellungen auf. Bestellt seinerseits Material. Verpackt Globen in Kartons, flucht die Warteschleifenmusik der Paketdienste an, erteilt Anweisungen an seinen Kollegen David und bespricht sich mit Naomi, die keine Anweisungen braucht. Entwirft, klebt, schreitet sein Reich ab, 200 Quadratmeter auf drei Etagen, die Welt der Welten, wenn man so will.

Und die ist in erster Linie, in Ermangelung eines besseren Wortes: staubig. Eigentlich ist es Gipspulver, das sich hier fein über die Räume der Globen-Manufaktur „Greaves & Thomas“ gelegt hat. Die Luft ist irgendwie trocken und diesig zugleich, und das ist nun wirklich kein Wunder: Gips ist der Grundstoff, aus dem die Erdkugeln hier gemacht werden. Das ist Davids Job, unten am Hinterausgang zur Union Road ist sein Arbeitsplatz, vollgestellt mit Gipstüten, Holzrahmen, Klebern und Lösungen. An der Wand hängen ein Telefon mit Wählscheibe und ein Plakat mit Sicherheitsvorschriften bei der Holzverarbeitung von 1974. Der Hausherr hat es beim Einzug einfach hängen lassen. James hat ein Faible für altes Zeug, als Künstler hat er jung damit angefangen, historische Hutschachteln nachzubauen. Ist also kein Zufall, die Sache mit den Globen. Die faszinierten ihn schon immer.

Das schönste Symbol

Und dann, 1988, machte die letzte englische Firma dicht, die noch in traditioneller Handwerksarbeit Weltkugeln herstellte. James Bissell-Thomas, ein Künstler, der sein Geld als Drucker verdiente, konnte nicht akzeptieren, dass hier eine jahrhundertealte Kunstform einfach so aussterben sollte, ersetzt durch maschinell hergestellte amerikanische Plastikkugeln. „Der Globus“, sagt er, „ist das wichtigste, das schönste Symbol dafür, wo wir sind und wer wir sind.“ Also machte er sich daran, das Handwerk zu lernen. Seinen ersten kommerziellen Globus stellte er 1991 her, den Nachbau eines klassischen viktorianischen Modells von 1881. Dieser wurde auf Anhieb ein Verkaufsschlager.

David ist einer seiner vier Mitarbeiter, er ist ein bisschen über 60. Früher hat er mal Englischkurse für deutsche Ingenieure gegeben, jetzt trudelt er hier dem Ruhestand entgegen. Er pfeift zu BBC South mit, Easy Listening, das mag er. Er legt zwei halbkugelige Formen mit einem Netz aus, füllt ein Gemisch aus Gips und Wasser drauf, lässt das Ganze trocknen. Später pustet er die Halbkugeln mit Luftdruck aus der Form. In zwei Wochen wird einer von ihnen die ausgehärteten Hälften zusammenkleben. Unbehauene, graue Erdkugeln sind es dann, mal mit nur wenigen Zentimetern Durchmesser, mal mit zwei Metern. 24 Keile aus Papier kleben James und Co. auf die größeren von ihnen. Die modernen Computerprogramme und digitalen Drucker sind ein Segen für ihre Arbeit. Naomi arbeitet mit Pinsel und Wasserfarbe noch Feinheiten heraus, bevor die Globen mit Acryl- und Schellack ihre robuste Hülle bekommen.
James kommt herunter, seine Jeans, sein blaues Hemd, seine braunen Stiefel, seine wilden Haare, sein Bart: all das ist mit einer weißen Gipsschicht überpudert. Er ist 58, aber das fällt schwer zu glauben. Denn er hat etwas Lässiges, etwas Jungenhaftes, das nicht zu seinem Jahrgang passt. Er klopft auf einen fertigen Globus, der ihm in seinem blankpolierten Holzgestell bis zur Brust reicht. „Der geht morgen raus“, sagt er, „den haben wir nach aktuellen NASA-Messdaten gebaut.“ Die Berghöhen, die Meerestiefen, alles ist so akkurat wie nötig und so plastisch wie möglich, diese Welt glänzt und funkelt in den schönsten Farben. „Hat ein Typ aus der Ölindustrie gekauft“, sagt James, wirft einen Blick auf die USA und tippt auf Denver, Colorado. Da geht das gute Stück also hin. „13.000 Euro bringt der uns“, sagt er. Das ist nicht annähernd das teuerste Produkt, das die Firma je verkauft hat. Er hat mal 160.000 Euro für zwei Globen bekommen, versteigert bei Sotheby’s. Und vor ein paar Jahren ging einer nach Australien, ein Riesending mit zwei Metern Durchmesser. Das hängt jetzt von der Decke der Pausenhalle einer Schule und dreht sich in 24 Stunden mechanisch einmal um die eigene Achse. Kostenpunkt: 28.000 Euro. „Es geht aber auch günstiger“, sagt James. So ab 160 Euro bekommt man einen handgemachten Globus bei ihm. Die Welt soll ja schließlich nicht die Welt kosten.

Unter Dutzenden von fertigen und unfertigen Weltkugeln

James hat im Garten seiner Mutter mit den Globen angefangen, in einem Zelt. Als der Laden zu brummen begann, brauchte er etwas Größeres und verlagerte den Betrieb auf eine Themse-Insel im Londoner Westen. Dort warf ihn Ende der 90er der Vermieter raus, Eigenbedarf ist auch in England ein Thema. Also suchte James eine neue Bleibe für sein prosperierendes Traditionsgewerbe. Und fand sie, als er seinen Bruder besuchte, der auf der Isle of Wight lebte. James liebt die See, er ist auf Jersey geboren, einer anderen Insel im Ärmelkanal. 1999 ist „Greaves & Thomas“ in das leerstehende Gebäude in der Hauptstrasse von Ryde gezogen.

Seit drei Jahren ist auch Naomi dabei, in Vollzeit. „Sie ist das digitale Genie hier, sie ist brillant“, sagt James, und Naomi, 43, die souverän drei Kinder geboren und halb groß bekommen hat, kichert und wird ein bisschen rot. Sie klebt gerade einen Teil östliche Hemisphäre auf eine Gipskugel, ein Streifen Sibirien und Ostasien vom Nordpol bis zum Äquator. Sie liebt diesen Job, sagt sie, er war ihre Chance auf einen Wiedereinstieg nach der Elternzeit. Sie fühlt sich wohl in diesem Chaos, zwischen überfüllten Arbeitstischen, unter Dutzenden von fertigen und unfertigen Weltkugeln, die überall im ersten Stock an Eisenstielen von der Decke hängen. Wie viele sie jedes Jahr verkaufen? Naomi weiß es gar nicht, und auch James zuckt mit den Schultern. „Ich habe keine Zeit zum Nachzählen“, sagt er.

Es gibt Dutzende von Motiven in seinem Portfolio. Der ostdeutsche Mond-Globus von 1963. Ein Alice-im-Wunderland-Globus mit horoskopischen Motiven aus dem Buch. Prähistorische Globen mit der Welt, wie sie in der Jurazeit, im Eoarchaikum, im Paläozoikum ausgesehen hat, vermutlich jedenfalls. Vincenzo Coronellis berühmter Sternzeichen-Globus von 1693. Aber auch Erdkugeln, auf denen die Städtenamen durch die ansässigen Fußballvereine ersetzt wurden, hat Bissell-Thomas im Programm und „Hermatic Globes“ – auf ihnen sind 360-Grad-Fotos aufgebracht. Eine Art optische Täuschung, „Darauf bin ich besonders stolz. Ist aber nicht mein Bestseller. Die Leute erkennen das Potenzial irgendwie noch nicht.“
James hat den Ruf, einer der besten Globenmacher der Welt zu sein. Und das liegt an seinem Meisterstück. 1992 wurde „Martin Behaims Erdapfel“ 500 Jahre alt – der erste Globus der Welt, auf dem sein deutscher Schöpfer Martin Behaim Amerika natürlich noch ausgelassen hat. James wollte den Behaim nachbauen. Viele haben sich daran versucht, nicht zuletzt Experten am Germanischen Museum in Nürnberg, wo das Original steht. Dorthin ist er gereist, um ihn sich anzuschauen. Warum?, haben sie ihn gefragt. Um ein Faksimile zu bauen, sagte er. Das wollten die Deutschen nicht, schließlich arbeiteten sie an einem eigenen Nachbau. Sie haben ihn hinauskomplimentiert. James hat es trotzdem angefertigt. Fotografiert, und die Aufnahme nach Nürnberg geschickt. „Mich für die freundliche Hilfe bedankt“, sagt James und grinst. Nicht lange danach standen drei Herren vor seiner Tür. Sie wollen sich den Behaim-Globus anschauen, sagten sie. James ließ sie rein. Sie nahmen das Werk in Augenschein. Zogen sich in eine ruhige Ecke des matschigen Gartens zurück. Berieten sich. Sagten schließlich, sie seien im Auftrag des Germanischen Museums bei ihm und beeindruckt. Sie würden nun von eigenen Nachbauversuchen Abstand nehmen und lieber seinen Behaim für ihn vermarkten wollen. „Und ich dachte, die wollten mich verklagen“, sagt James. Er stimmte dem Deal zu. Jetzt stehen Behaim-Nachbildungen in sehr vielen Museen auf der ganzen Welt, eine sogar in der Bibliothek des US-Kongresses. „Aber meinen ersten Behaim“, sagt James und zeigt auf eine Weltkugel auf einem mit Bastelmaterial überladenen Tisch, „den habe ich behalten.“

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Zeit für eine späte Mittagspause. James geht ein paar Hauseingänge weiter in der Union Street. Ein ziemlich einfacher Coffeeshop mit günstiger Hausmannskost ist sein Ziel. Das hier ist das alte England, er bestellt ein Stück Fleisch mit Kartoffelbrei und Erbsen. Und erzählt ein bisschen von der „Greaves“ im Firmennamen. „Das ist Rosie, meine Frau“, sagt er, „eigentlich hat sie nichts mit dem Laden zu tun, aber ich wollte, dass die Firma groß und bedeutsam klingt, deshalb habe ich damals ihren Namen geborgt.“ Sie ist ein paar Jahre älter als er und nicht gesund, das setzt ihm zu. „Eigentlich müsste ich das hier nicht machen“, sagt er. Er hat Geld geerbt, ein Grundstück auf Jersey und überhaupt gut verdient in den vergangenen 25 Jahren. Er braucht auch nicht viel, schon gar keine Statussymbole, der Firmenwagen ist ein altersschwacher Fiat. „Aber ich habe hier etwas aufgebaut, für das ich mich verantwortlich fühle“, sagt James Bissell-Thomas. „Das ist mein Erbe, meine Verantwortung. Ich habe ein altes Handwerk wiederbelebt. Da kann ich mich doch nicht einfach vom Acker machen“.
Noch einen Kaffee. Dann muss er zurück, der Paketdienst kommt gleich. Sollen ja noch ein paar Erden in die Welt geschickt werden heute.

 


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Der Ur-Globus: Martin Behaims Erdapfel

Als der Tuchhändler Martin Behaim 1490 in seine Heimatstadt Nürnberg zurückkehrte, wurde er wie ein Rockstar empfangen – einfach nur deshalb, weil er es gewagt hatte, Franken zu verlassen und sich in der Welt umzuschauen. In den Niederlanden hatte er gelebt und dann vor allem in Portugal, auf den Azoren hatte er die Tochter des Gouverneurs geheiratet und an Expeditionen entlang der Küste Afrikas teilgenommen. Der Weitgereiste schlug dem Nürnberger Rat vor, einen Globus zu bauen, um den Geschäftsleuten der Stadt plastisch vor Augen zu führen, wie die Welt außerhalb der Stadtmauern aussah – und welche Möglichkeiten sie bot.
Der Rat stimmte zu, und so gab Behaim eine Lehmkugel mit einem Durchmesser von 51 Zentimetern in Auftrag, ließ diese mit Leinen und Pergament und Papier überziehen und beauftragte den Illustrator Georg Glockendon damit, die Welt nach seinen Vorgaben auf die Kugel zu malen.
Behaims Weltbild setzte sich aus verschiedenen Quellen zusammen. Da war zum Beispiel die „Geographike Hyphegesis“ des Claudius Ptolemäus, ein damals schon 1300 Jahre altes Standardwerk des Kartenwesens. Seine eigenen Reisen flossen ein, aber auch die Berichte von Marco Polo und Jean de Mandeville. Woher wir das wissen? Weil Behaim das alles auf dem Globus verewigte, genau wie Bodenschätze, astrologische Symbole, seltsame Fabeltiere. Amerika fehlt, na klar, es wurde ungefähr zur selben Zeit entdeckt, als der Globus im fernen Franken fertig wurde. Deshalb ist Behaims Erdapfel sicher nicht der akkurateste Blick auf die Welt – aber der älteste, der noch erhalten ist.

 

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Isle of Wight: So besonders

In Großbritannien hat die Regierung nach dem Zweiten Weltkrieg einige Teile des Königreiches zu „Areas of Outstanding Natural Beauty“ erklärt, zu Deutsch: Gebiete von außerordentlicher natürlicher Schönheit. Die Isle of Wight ist fast komplett in diese Liste aufgenommen worden, und wenn man die 380 Quadratkilometer große Insel einmal betreten hat, bedarf das auch keiner weiteren Erklärung. Kreidehügel ziehen sich mal sanft, mal schroff über die gesamte Insel, entzückende Städtchen wie Yarmouth, Ryde oder Cowes liegen wie hingetupft an der Küste, die von Seglern und Schwimmern gleichermaßen geschätzt wird. Königin Victoria hatte hier einen Sommersitz, und unten an der Südküste in Freshwater hat sich Ende des 19. Jahrhunderts ein Künstlerkreis zusammengefunden, der in England seinesgleichen suchte. Der Dichter Alfred Tennyson gehörte dazu, die Fotografin Juliet Margaret Cameron, aber auch Charles Darwin und Lewis Carroll, der Schöpfer von „Alice im Wunderland“. Aber in den vergangenen Jahrzehnten hat sich die Isle of Wight auch zu einem Sehnsuchtsort für Aus- und Umsteiger entwickelt. James Bissell-Thomas ist einer von ihnen. Richard Hodgson ein anderer – der Mittdreißiger strebte eigentlich eine Karriere im Fernsehgeschäft an. Doch davon hatte er die Nase voll, bevor sie richtig losging. Er zog planlos auf die Insel, aber er sah, dass sich die Nachfrage nach regionalen Produkten gerade rapide vermehrte. Was es nicht gab: einen eigenen Inselkäse. Also las Richard ein paar Bücher über das Käsemachen, kaufte sich bei einem Milchbauern ein und gewinnt mit seinem Blauschimmelkäse jetzt einen Preis nach dem anderen. Auch das bedarf keiner Erklärung, wenn man mal reingebissen hat. Denn auch der ist, wie fast alles auf der Isle of Wight: besonders.