Iva Farm, Serbien Blick in Richtung Strasse

Mein Leben in Jalovik

Beitrag Stories

Die Zukunft findet auf dem Land statt, das will Vivien Scheidler mit ihrem Biohof jungen Leuten zeigen. Verliebt hat sie sich schon längst in diese sanfte hügelige Gegend mitten in Serbien.

Milde Sonne, weiter Himmel und ein Flickenteppich aus Wald, Wiesen, Feldern und Obstgärten, roten Dächern. Wir sind in Jalovik, einem 700-Seelen-Dorf in Zentralserbien, nur etwa 70 Kilometer südlich der Hauptstadt Belgrad und doch inmitten von Nirgendwo. „Jalovik“ heißt „unfruchtbare Erde“. Vivien Scheidler aus Luckenwalde und Boudewijn Kegels aus Amsterdam beweisen, dass ein Name nicht unbedingt Programm ist. Vor zehn Jahren haben sie einen einsamen Bauernhof in Jalovik zu ihrer neuen Heimat auserkoren und aus der „unfruchtbaren“ Erde blühende Landschaften geschaffen.

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„Ich habe mich gleich in diese Gegend verliebt“, erzählt Viv, während wir in der kleinen Küche Kartoffeln und Karotten für die Ziegenfleischsuppe schnippeln. Lachende blaue Augen hat die schlaksige Frau, die so schnell sprechen kann. „Die liebliche Landschaft mit Hainen, Bächen, Tälern und versprenkelten Weilern mit verfallenen Gehöften hatte es mir angetan.“

Regenwürmer und gefüllte Kuhhörner

Viv und Bou sind gerade 30 Jahre alt, als sie den Hof kaufen. Sie will unbedingt einen Bauernhof, in dem Felder an das Haus anschließen, und das findet sie hier. Die Landschaft ihrer Kindheit. Von ihr ist sie begeistert. Umso größer ist ihr Entsetzen über den Umgang der Serben mit der Umwelt und mit ihren Böden.

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Viv und Bou beginnen, die ausgelaugte Erde von Jalovik nach den strengen Regeln der Biodynamik zu bearbeiten. Aus dem verlassenen Hof soll eine Einheit, ein Organismus entstehen, zu dem auch wild wachsende Pflanzen und frei lebende Tiere gehören. Selbstversorgung und Verzicht auf Chemikalien ist das oberste Gebot, aber der Weg ist langwierig und mühsam: Die Felder liegen seit Jahren brach, die ehemaligen Besitzer haben mit chemischen Pflanzenschutzmitteln nicht gespart, das Gift hat sich im Boden eingenistet. Kiloweise besorgt Viv Regenwürmer, die sich durch die Schollen schlängeln und so, auf natürliche Weise, die Erde atmen lassen.

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Kuhhörner, gefüllt mit Kuhdung, hat sie über den Winter vergraben und so das biodynamische Präparat Hornmist hergestellt. Es soll die Wurzelbildung und Keimfähigkeit anregen. „Als wir auf diesen Böden angefangen haben, ist eigentlich gar nichts gewachsen“, erzählt Bou. „Wir haben gesät und gesät – und es kam nichts. Und jetzt, was siehst du? Es blüht und gedeiht überall. Wir sind die größten Gemüseanbauer in der Gegend. Die Nachbarn können es kaum glauben.“

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Tomaten, Mangold, Wirsing, aber auch Pak Choi und japanischer Blattsenf Mizuna wachsen in den Himmel. Kräuter, Erdbeeren, Quitten, Äpfel und Birnen kommen dazu und Roggen. Tiere laufen frei herum, es sind alte serbische Nutztierrassen: kleine Buscha-Kühe, Balkan-Ziegen und Schafe aus dem Hochgebirge. Heute bewirtschaften Viv und Bou siebzehn Hektar Land, teils gekauft, teils gepachtet. Sieben Kühe, fünfzig Ziegen und einige Schafe gehören dazu. Mit dem Namen Iva Farm wollen sie die Salweide, die auf Serbisch Iva heißt, ehren. Sie gehört hier zu den wichtigsten Heilpflanzen.

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Seit dem frühen Morgen renne ich Viv hinterher, um mit ihr zu reden. Sie ist schwer zu fassen, denn, sie ist überall, ihr und ihrem Tatendrang zu folgen gelingt kaum. Und so ist das Ziegenmelken längst vorbei, das Frühstück mit Roggenkaffee auch. Bou hat sich um Kinder und Kühe gekümmert, Viv um Joghurt und Säfte. Jetzt sollte Rucola geerntet werden – die Blätter landen in Vivs Schürze, Kinder plärren – Viv tröstet, und gekocht wird zwischendurch auch noch. Am Abend sind wieder die Ziegen dran. Viv ist ganz stolz: „Ich habe Jahre gebraucht, um zu lernen, wie man richtig melkt. Nach langer Zeit bilden sich bestimmte Muskeln, wenn du deine Hand in eine bestimmte Position bringst. Erst dann wird das Melken mühelos, für dich und auch für die Ziegen.“

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Der Tag, der um sechs Uhr morgens begonnen hat, ist um zehn Uhr abends noch immer nicht zu Ende: Säfte werden im Freiofen im Garten pasteurisiert, Roggenbrot wird aus Sauerteig gebacken. Und während sich die Nacht über die Dächer legt, Kinder und Katzen schlafen, sitzen Viv und Bou am Laptop und kümmern sich um Rechnungen und andere Verwaltungsvorgänge.

Am Mittag des nächsten Tages folge ich Viv noch immer auf Tritt und Schritt. Auf der Weide schlafen Ziegen und grasen Kühe, im Heu spielen Kinder und kleine Katzen. In der natürlichen Kühlkammer, mitten auf der Wiese, liegen Köstlichkeiten, die einmal wöchentlich in Belgrad auf den Markt kommen: Obstkonfitüren mit Honig, Ingwer und grünem Pfeffer, eingelegtes Gemüse, Quittenlikör, Buttermilch und Joghurt. Und vor allem viele Käsearten, vom Quark bis zu aschebestreuten Käselaiben aus Ziegenmilch. Nun reden wir endlich oder vielmehr: spricht Viv. Zu ihrer Tochter in Deutsch: „Karla, zieh das Kleid aus, es ist zu nass.“ Zu Bojana, die jetzt zur Gemeinschaft gehört, in Serbisch: „Die Ziegen brauchen Futter“, und zu Henry, dem französischen Volontär, in Englisch: „Help Bou with the cows.“

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Und dann ist das Schütteln dran: Seit zehn Minuten schüttelt Viv unaufhörlich ein Schraubgefäß voller Milch. Viv, was machst du da? „Ich mache Butter, ich muss heute fünf Gläser zusammenschütteln. Pro Glas brauche ich zwischen fünf und zwanzig Minuten, am Nachmittag wasche ich die Butter aus und backe Butterkekse.“ Alles wird hier mit den Händen gemacht, und alles, was verkauft wird, stammt von diesem Hof.

Eigene Biohöfe für junge Serben

Viv und Bou sind beide Akademiker, Bou ist Architekt, und Viv hat in Berlin Indische Philologie, Kunstgeschichte und Religionswissenschaften studiert. Als sie nach Jalovik kommen, haben beide eine mehrjährige biologisch-dynamische Ausbildung hinter sich. Viv besucht 2002 ein Seminar in der Nähe von Belgrad und verliebt sich in die Landschaft. 2008, als sie längst Bou kennt, kann sie ihre Vision verwirklichen: Sie möchte junge Serben dazu bewegen, wieder auf dem Land zu leben und eigene Biohöfe zu gründen.

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Unter dem Birnbaum flirrt die Luft. Der lange Holztisch wird gedeckt, Töpfe und Teller, Suppe und Salat kommen auf die Tafel. „Die Ziegensuppe“ besteht nicht nur aus Kartoffeln, Karotten und Ziegenfleisch, Fenchel, Mangold, Wirsing, Brennnessel – alles, was der Garten hergibt, ist im Topf. Im Salat: Junger Spinat, Löwenzahn- und Mizunablätter, Äpfel und Zwiebeln, Walnüsse und Honig, mit Gänseblümchen und Kleeblättern bestreut.

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Auf den Bänken sitzen sie nun alle: die Serbin Bojana, ihr Mann und ihre drei Kinder, Henry, der Volontär aus Paris, Dagmar, die deutsche Fotografin, und ich. Dann Viv und Bou mit ihren Kindern Karla-Rubina und Antonin-Vidar. Beide sind in der Badewanne geboren, hier im Haus. Eine Hebamme aus Belgrad hat die Wassergeburt begleitet, und die Jalovik Bauern haben gestaunt. Karla ist heute sieben, Vidar drei Jahre alt. Ihre Namen hat Viv ausgesucht: „Als Karla kam, glitzerten ihre Augen wie Rubine – so wurde sie Karla-Rubina. Als ich Antonin in den Händen hielt, sagte ich ,Aaaaa‘, und suchte einen Namen mit ,A‘ – daraus wurde Antonin, wie der tschechische Komponist Antonin Dvorák. Antonin schaute in die Ferne, da fiel mir der serbische Name für das Wort Heiler ein: Vidar. Und so wurde mein Baby Antonin-Vidar.“

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Am Nachmittag unter dem Birnbaum kommt wieder Roggenkaffee auf den Tisch. „Der wird wie der serbische Mokka gebrüht, bisschen Zimt kommt dazu, und in der Kaffeerunde können auch die Kinder mittrinken“, lacht Viv. Den Roggenkaffee gibt es auch im Kindergarten in Jalovik, den Viv mithilfe einer Spende gegründet hat. 30 Kinder lernen dort, wie man mit der Natur lebt. Denn die Bäuerin legte auch hier einen Biogarten an.

Eine Schule für
biologisch-dynamischen Anbau

So ziehen Jahre ins Land, die Iva Farm wächst und gedeiht, Kinder und Katzen auch, der Traum von Viv ist wahr geworden: „Wir haben ,Biodinamika, Kultura i Ekologija‘, eine Schule für biologisch-dynamischen Anbau, gegründet, mit dem Ziel, junge Menschen in Serbien auszubilden. Die zweijährige Ausbildung bieten wir hier im Dorf an, im ,Dom kulture‘, einem Kulturhaus, wo wir unsere Seminare halten dürfen“, erzählt Viv stolz. „Wir denken, dass die größte Kraft für Serbiens Zukunft in der Landwirtschaft liegt. Die Bedingungen sind optimal für den ökologischen und biologisch-dynamischen Anbau. Denn es gibt viele kleinere Höfe mit Parzellen, die von Hecken gesäumt sind und ein gutes Mikroklima für die natürliche Nahrungsmittelerzeugung bilden. Immer mehr junge Menschen
verlassen das Land! Wir wollen etwas dagegen tun und ihnen zeigen, dass sie auch hier ein sinnerfülltes Leben führen können.“

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Die Seminare sind ausgebucht, und inzwischen haben mehrere Studenten eigene Höfe gegründet. Auch Studenten der Belgrader Landwirtschaftsuni kommen her, um vor Ort ihr Wissen in Praxis umzusetzen. Und nicht nur sie: Jährlich besuchen etwa 70 freiwillige Helfer aus aller Welt den Hof. Die kleine Iva Farm steht auf mehreren Webportalen, die neugierige Helfer nach Jalovik lotsen.
Im Moment wächst die Gemeinschaft. Bojana und ihr Mann haben ein Haus im Dorf gekauft. Sie ist nun für Küche und Kochen verantwortlich, Dragan hilft Bou mit den Tieren, die drei Kinder spielen mit Karla und Antonin und lernen, dass man Kätzchen nicht am Schwanz ziehen soll.

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Die Tage reihen sich wie Perlen aneinander. Das Leben auf der Iva Farm
hat nichts mit der Landlust in Hochglanzmagazinen zu tun. Hier drängt man sich oft auf engem Raum, das Geschirr ist zusammengewürfelt, Badewanne, Dusche und WC gehören allen. Für Eilige steht immerhin ein Plumpsklo auf der Wiese. Strom, Heizung, Internet und Telefon haben zwar die Provinz erreicht. „Doch es wäre schön, wenn wir etwas mehr Platz hätten“, sagt Bou. „Manchmal geht es durcheinander, wenn wir Käse und Brot gleichzeitig machen. Das kann manchmal ziemlich nerven, aber sehr oft lachen wir einfach darüber.“

Vom Glück, etwas gemeinsam
erschaffen zu haben

80 Stunden wöchentlich zu arbeiten, das ist – vor allem im Sommer – keine Seltenheit. Auch wenn das Lehmhaus mittlerweile zu einem Schmuckstück ausgebaut ist, auch wenn eine Tenne und zusätzliche Schlafplätze dazugekommen sind, auch wenn Wasserstellen ausgehoben wurden, es fehlt an allen Ecken: an Platz, an Land, an Maschinen, an Helfern. Und vor allem: Es fehlt das Geld. Bis jetzt finanzieren sich die Farm und die „Biodinamika“-Schule hauptsächlich von Spenden, oft aus Deutschland oder aus der Schweiz. Doch das reicht nicht. Unterstützung aus Serbien gibt es kaum, der Staat hält sich bei Förderung der Landwirtschaft bedeckt. Deshalb sind Viv und Bou darauf angewiesen, die Produkte ihrer Farm zu verkaufen.

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Trotz wenig Geld, kaum Platz, sengender Sonne und schwerer Arbeit fühlen sich die Menschen hier reich belohnt: Im Sommer erinnern die Farben der Felder an Bilder von Vincent van Gogh. Die unberührten Landschaften schmeicheln den Sinnen, doch viel wichtiger ist das Gefühl des Glücks und der Zufriedenheit, etwas gemeinsam erschaffen zu haben.

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Viv Scheidler Iva Farm Serbien

Wenn die Sommerhitze sich verzogen hat, schickt der Herbst die späte
Sonne über das Land – oft bis in den November hinein. Rot und golden leuchten dann die Obstgärten, nachts bellen die Hunde den Mond an. Mancher Winter protzt mit viel Schnee, dann setzen sich die schwarzen Äste der Obstbäume gegen die weißen Flächen ab. Der Tag ist auch dann eng getaktet: Sauerkohl wird in dicken Fässern eingelegt, späte Tomaten werden getrocknet, Tiere versorgt und geschlachtet, Schinken und Speck geräuchert. Verwandte aus Holland und Deutschland schneien herein, und es wird am Haus gewerkelt oder der Brunnen nachgebessert. Es gibt immer genug zu tun. Das ganze Dorf hilft mit.

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Wenn die Schneeverwehungen nicht zu heftig sind, kommt Oma Nata vom Hof nebenan vorbei. Sie hat die „komischen Ausländer“ ins Herz geschlossen. Sie sind der Ersatz für ihre Kinder und Enkelkinder, die das Land verlassen haben. Nata ist glücklich, dass die Erde wieder lebt und die Felder nicht brachliegen. Immer wieder sagt sie: „Kinder, vergesst es nur nicht: Das Brot fällt nicht vom Himmel, es wächst in der Erde.“ Als ob „die Kinder“ das nicht wüssten.