Giersch, Gundermann und andere Wildkräuter führten eine Zeit lang ein Schattendasein. In Wald und Flur kaum beachtet, im Garten verhasst, auf dem Teller verkannt. Zum Glück hat sich das gewandelt. Die Kräuterexpertin Elisabeth Teufner erklärt, warum uns die wilden Gewächse so guttun und was es braucht, um sich mit ihnen anzufreunden. Ein Gespräch über altes Wissen, die Magie der Natur und das richtige Bauchgefühl.
Liebe Elisabeth, du gehst mit deinen Kursteilnehmern in die Natur und zeigst ihnen essbare Heil- und Wildkräuter. Was wächst denn jetzt noch?
Elisabeth Teufner: Eine Menge! Im Herbst kommt es zu einer Art Revival. Giersch, Brennnessel, Gänseblümchen, Schafsgarbe, Spitzwegerich, Vogelmiere, Löwenzahn – all die Klassiker aus dem Frühling sind noch einmal voll da. Die Wiesen sind abgemäht, es wird feuchter, Morgentau glitzert auf dem Gras – dann treiben die Kräuter wieder frisch aus dem Boden. Wenn ich im Frühjahr versäumt habe, sie zu sammeln, dann habe ich im Herbst eine zweite Chance.
Also können wir jetzt aus dem Vollen schöpfen?
Theoretisch ja, aber man muss bedenken, dass sich die Natur im Herbst erholen muss. Beim Sammeln passe ich mich den Jahreszeiten an. Im Sommer habe ich richtig viel gesammelt, zum Trocknen für den Vorrat, aber auch für meine Salben und Tinkturen. Ab Mitte September pflücke ich nur kleine Mengen, um die Bestände zu schonen. Da wandert alles direkt in den Kochtopf. Was jetzt in die Samenreife kommt, was also noch mit Stiel, Stängel und Blüte steht, das pflücke ich gar nicht, damit sich die Pflanze wieder vermehren kann.
“Die Heilkunde hat sich über Jahrtausende aufgebaut. Mit der Schulmedizin ist das innerhalb von zwei Generationen verloren gegangen.”
Du erwähntest gerade Giersch und Brennnessel – einige Gartenbesitzer werden da Schnappatmung bekommen …
Das stimmt, Giersch und Brennnessel werden oft als Unkraut abgestempelt. Dabei ist der Giersch super vielseitig, sowohl gesundheitlich als auch kulinarisch. Und die Brennnessel ist eine der heilkräftigsten Pflanzen überhaupt bei uns in Mitteleuropa. Sie ist eine „Kraftpflanze“. Wenn man erschöpft ist, können ihre blutaufbauenden Eigenschaften Wunder wirken. Außerdem ist sie ausleitend, schwemmt Gifte aus dem Körper. Sie ist im Alltag super verwendbar.
Wie zum Beispiel?
Ganz simpel, als Tee: Ein bis zwei Teelöffel getrocknete Brennnesselblätter pro Tasse mit heißem, nicht kochendem Wasser übergießen und zehn Minuten ziehen lassen. Jeden Vormittag eine Tasse trinken – und dazu viel Wasser. So werden Giftstoffe, die von der Brennnessel gelöst werden, gut aus den Zellen gespült. Bei Eisenmangel oder nach Infekten ist das eine tolle Stärkung, lässt sich als Kur über drei Wochen prima machen*.
Für unsere Vorfahren waren Wildkräuter überlebensnotwenig, auf dem Teller genauso wie in der Hausapotheke. Warum?
Die Kräuter bereicherten den Speiseplan enorm. Früher lockte der Frühlingsbeginn die Menschen nicht nur wegen des Lichts und der Wärme nach draußen, sondern weil sie wieder sammeln konnten. Eine Suppe aus dem ersten Bärlauch und Giersch war ein Festmahl nach der eintönigen Nahrung im Winter – und ein Füllhorn an Vitaminen.
Ohne Arzt und ohne Krankenhäuser hat man genutzt, was da war – und das war die Natur. Die Scharfgarbe löste bei Regelschmerzen Krämpfe oder stillte den Blutfluss in frischen Schnittwunden. Spitzwegerich half gegen Husten, Gundermann gegen Durchfall. Die Heilpflanzen wurden sehr vielseitig eingesetzt.
Warum haben wir dieses alte Wissen verloren?
Die Heilkunde hat sich über Jahrtausende aufgebaut, denn die Menschen waren komplett angewiesen auf die Naturschätze vor ihrer Tür. Mit der Schulmedizin ist das innerhalb von zwei Generationen verloren gegangen. „Omas Wissen“ war nicht mehr in. Eine Tablette zu schlucken ist viel einfacher – und geht schneller. Dabei fußt die Schulmedizin aus der Naturheilkunde. Und man hat auch gemerkt, dass die Schulmedizin nicht nur Vorteile hat.
Mit der Schulmedizin haben wir leider ein Stück weit verlernt, auf unseren Körper zu hören – und ihm vor allem Zeit zu geben, gesund zu werden. Mit den Heilpflanzen regen wir unser Immunsystem an, zu arbeiten. Ich merke, dass mein Körper viel besser reagiert, als noch vor zehn Jahren, bevor ich mit den Kräutern angefangen habe.
Bei vielen Menschen entwickelt sich immer mehr das Bedürfnis, sich die Natur zurückzuholen. Merkst du diesen Trend auch bei deinen Kursen?
Total, vor allem seid Corona sind unsere Kurse gefragter denn je. Es ist ein bisschen so wie mit der Yoga-Szene. Jeder macht Yoga oder hat sogar eine Yoga-Ausbildung – das ist heute fast schon alltäglich. So wird es auch mit den Kräutern laufen: Ich bin davon überzeugt, dass sie wieder Bestandteil unseres Lebens werden. Wir waren noch nie so weit entfernt von der Natur, aber die Menschen spüren, dass sie sie brauchen. Die Natur zieht sie magisch an. Die Nachfrage an der Kräuterpädagogik-Ausbildung ist enorm. Egal in welche Berufsgruppe man schaut, ob im medizinischen oder pädagogischen Bereich, es gibt immer jemanden im Team, der eine Kräuterpädagogik-Ausbildung hat.
“Kaum zu verwechseln sind Gänseblümchen, Brennnessel oder Giersch, das sind meine drei Basis-Kräuter.”
Man kann bei dir auf Kräuterwanderungen aber auch erst einmal die Basics lernen. Was macht man da?
Hier geht es vor allem um das sichere Erkennen der Pflanzen und das sichere Sammeln. Aber auch darum, die Angst vor den unbekannten Pflanzen zu verlieren. Ich merke schon, dass viele Menschen teilweise großen Respekt davor haben. Gleichzeitig habe ich auch das Gefühl, dass der Wissenstand der Teilnehmer etwas besser geworden ist als noch vor zehn Jahren. Natürlich gibt es aber auch Teilnehmer, die bei null anfangen. Die erkennen höchstens das Gänseblümchen oder die Brennnessel. Da freut es mich besonders, dass sie reinschnuppern wollen und merken, wie gut es ihnen tut.
Was rätst du ihnen, wenn sie später alleine losziehen?
Nicht gleich lossammeln, sondern beobachten, was in der Umgebung wächst. Eine App oder ein Bestimmungsbuch ist immer sinnvoll, ich empfehle den Botanikführer „Was blüht denn da“. Was man wissen muss: Im Jahreskreislauf sieht die Pflanze anders aus – zum Beispiel im Frühjahr anders als im Herbst. Das kann auch irritieren. Man muss das Auge schulen und sich die Bestimmungsmerkmale der Pflanze einprägen. Dabei kann hilfreich sein, die Pflanzen zu fotografieren. In meinen Kursen lasse ich die Teilnehmer ein Herbarium anlegen. Durch die Beschäftigung mit den Pflanzen lernen sie das Hinschauen und das Erkennen.
Wenn man sich überhaupt nicht auskennt – gibt es idiotensichere Anfänger-Kräuter?
Zum Beispiel der Löwenzahn mit seinen gelben Blütensonnen und den gezackten Blättern – wie die Zähne von einem Löwen. Kaum zu verwechseln sind auch Gänseblümchen, Brennnessel oder Giersch, das sind meine drei Basis-Kräuter: Sie sind fast das ganze Jahr verfügbar, kommen häufig vor und sind vielfältig verwendbar.
Worauf kommt es beim Sammeln an?
Der Pflückort sollte sauber sein. Und man sollte nur Pflanzen mitnehmen, die gesund aussehen. Das ist wie beim Einkaufen – da nimmt man den Salatkopf, der am schönsten aussieht, auch wenn er ganz hinten im Regal liegt.
Wenn es nicht gerade Brennnesseln sind, verwende ich weder Messer noch Schere, sondern knipse die Pflanzen mit meinem Fingernagel ab. Knackt die Blattader ist das ein Zeichen, dass die Pflanze frisch ist. Ältere Pflanzen sind faseriger, man kommt dann weniger durch mit dem Fingernagel. Zarte Kräuter schmecken besonders fein, die harten und faserigen sind nicht mehr zu empfehlen, genauso wie beim Salat oder Gemüse.
Muss man die Kräuter vor dem Verzehr waschen?
Das ist eine ganz häufig gestellte Frage. Ich rate meinen Teilnehmern immer, auf ihr Bauchgefühl zu hören. Wenn sie das unbedingt brauchen, um die Kräuter mit Genuss essen zu können, dann sollen sie sie waschen. Man sollte aber bedenken, dass auf jeder Pflanze ein Mikrobiom sitzt, das unserer Darmflora guttut und dadurch abgewaschen wird, oder auch ätherische Öle. Bei den Blüten würde ich unter allen Umständen davon abraten, weil sonst der Geschmack von Nektar und Pollen verwässert wird. Der Holunderblütensirup oder Tee würde sonst nicht mehr schmecken und nicht mehr wirken.
Die zweithäufigste Frage ist die nach dem Fuchsbandwurm, vor dem alle Respekt haben. Die Statistik zeigt aber, dass die Gefahr sehr gering ist. Das ist wirklich kein Thema – ich mache mir eher Gedanken darüber, wo ich noch sammeln kann, ohne dass ich etwas Gespritztes erwische. Pestizide sind wirklich ein Problem!
“Die Pflanze kann noch so gesund sein, aber sie muss zu einem passen.”
Du wohnst mitten in der Natur. Was rätst du Stadtmenschen, die nicht ständig rausfahren können?
Es wächst mehr in der Großstadt, als man denkt. Zum Beispiel in Parks oder am Waldrand. Da findet man genauso die Brennnessel, den Giersch und das Gänseblümchen. Auf Kleewiesen in Parks wachsen die Braunelle oder der Löwenzahn. Man muss natürlich schauen und nachfragen, wie der Park gepflegt wird. Es gibt aber auch in Parks immer mehr Zonen, wo alles wild wachsen darf. Manche Gemeinden legen sogar „Essbare Wildpflanzen-Parks“ an, davon gibt es einige in Deutschland. Man kann außerdem versuchen eine Parzelle oder einen Gemeinschaftsacker zu bekommen, wo man Gemüse und essbare Wildkräuter anpflanzen kann. Die lassen sich super miteinander kombinieren.
Was viele gar nicht auf dem Schirm haben: der eigene Garten! Vielleicht wachsen dort ja bisher verkannte Schätze, und falls nicht, kann man sie anpflanzen. In allen guten Gärtnereien gibt es Wildkräuter und essbare Blumen fürs Hochbeet oder den Balkonkübel zu kaufen. Eine Pflanze reicht oft – die vermehrt sich dann von selber, wenn der Standort passt. Mein Hochbeet zu Hause ist fast schon eine Wildblumenwiese.
Das klingt alles ziemlich gut, ist aber auch ziemlich viel …
Ist es eigentlich nicht. Früher haben die Menschen das verwendet, was um sie herum in ihrer Umgebung gewachsen ist. Das sage ich auch bei meinen Kräuterwanderungen: Konzentriert euch auf die einfachen Dinge, die ihr in eurer Umgebung findet. Man muss nicht hundert Pflanzen bestimmen können. Wer zwanzig erkennt, ist schon gut. Fünf bis zehn Pflanzen sind aber völlig ausreichend, um sich damit von Kopf bis Fuß gut zu versorgen.
Wichtig ist, sich keinen Stress machen. Was man nicht sammeln kann, das kann man vielleicht auch kaufen. Im Herbst schwöre ich auf meinen Holunderblüten- oder Lindenblütentee mit Hagebutten, um die ersten Erkältungswellen unbeschadet zu überstehen. Wer im Frühsommer nicht zum Sammeln gekommen ist, kauft sich den Tee einfach lose in Apotheke oder Reformhaus – das geht genauso.
Wenig Stress ist immer gut. Hast du noch eine Botschaft?
Man sollte immer in sich hineinspüren, ob es einem guttut. Die Pflanze kann noch so gesund sein, aber sie muss zu einem passen. Ein Beispiel: Die Kur mit Brennnesseltee ist eine super Sache, aber gewöhnungsbedürftig. Für den, der das noch nie gemacht hat, schmeckt der Tee nach einer Ziehzeit von zehn Minuten sehr intensiv. Deshalb rate ich, langsam anzufangen. 30 Sekunden Ziehzeit (mit dem Timer stoppen) reichen für die ersten Male. Der Tee ist dann ganz zart gelblich. So habe ich es auch gemacht. Bei allen Dingen, die mir am Anfang nicht so geschmeckt haben, habe ich mich rangetastet, und das hat mir sehr geholfen.
Also aufs eigene Körpergefühl hören?
Genau! Das müssen wir wieder lernen. Nicht immer nur darauf schauen, was andere empfehlen, sondern auf sich selbst hören. In der Kräuter-Szene geht man total auf Rohkost. Für die ist aber nicht jeder gebaut – und hat auch nicht die passenden Enzyme dafür, ich auch nicht. Früher war ich sehr mager, oft krank und körperlich am Limit. Dann habe ich herausgefunden, dass ich eine andere Ernährung brauche, die laut unserer Gesellschaft eher als ungesund gilt, mir aber meine Gesundheit wieder zurückgebracht hat. Seit ich nach der Traditionellen Chinesischen Medizin und meinem speziellen Stoffwechsel esse, geht es mir richtig gut. Das heißt keine Rohkost, sondern alles gekocht, immer warm. Dazu achte ich auf regionale und saisonale Herkunft der Lebensmittel und auf ausreichend tierische Fette und Eiweiße in Bio-Qualität.
Mag der Wildkräutersalat noch so vitaminreich sein – wenn er mir nicht bekommt, dann ist er nichts für mich. Es hat lange gebraucht, bis ich das verstanden habe. Heute sagt mir mein Köper aber ganz deutlich, was er mag und was er nicht mag. Dafür bin ich sehr dankbar, auch weil ich anderen dadurch bei meinen Ernährungsberatungen helfen kann.
Zur Person

Die Pflanzenwissenschaftlerin und Wildkräuterexpertin Dipl.-Ing. Elisabeth Teufner wuchs auf dem Land auf und war schon immer am liebsten draußen unterwegs. Nach ihrem Studium der Agrar- und Pflanzenwissenschaften an der Universität für Bodenkultur in Wien absolvierte sie verschiedene Weiterbildungen im Bereich Wildkräuter, Ernährung und natürliche Hautpflege. Heute führt sie eine eigene Firma im niederösterreichischen Atzenbrugg (bei Tulln). In der „wild.wuchs.Natur-Akademie“ bieten die 39-Jährige und ihr Team berufliche Ausbildungen zur Kräuterpädagogik und Selbstversorgung an, aber auch Kräuterwanderungen und Workshops für interessierte Laien. Als TCM-Ernährungs- und Stoffwechseltypberaterin wendet sie die Grundsätze der Traditionellen Chinesischen Medizin an, um für jeden Klienten die richtigen Essgewohnheiten zu finden.
Mehr Infos: wildwuchsnatur.at
Text: Angela Murr