Eine Verbesserung des Fußverkehrs wertet den öffentlichen Raum auf, sagt Bertram Weisshaar. Er ist seit dreißig Jahren als Spaziergangsforscher unterwegs. Ein Gespräch über die Bedeutung der eigenen Anwesenheit vor Ort, eine gerechtere Verteilung von Flächen und das Spazierengehen in der Stadt.
Herr Weisshaar, Spaziergangswissenschaft klingt erst mal harmlos. Bei näherer Beschäftigung stellt man jedoch fest, dass sie auch ins Politische hineinreicht. Um was geht es?
Bertram Weisshaar Die Spaziergangswissenschaft kommt aus der Stadt- und Landschaftsplanung. Sie wurde vom Soziologen Lucius Burckhardt gegründet, der in Kassel unterrichtete und dort das Seminar Spaziergangswissenschaft angeboten hat. Er hat hinterfragt, wer bestimmt, was geplant wird: Wer plant die Planung? Wie kommen die Projekte in der Stadtplanung auf den Weg? Diese Wissenschaft stellt die Frage, ob Architekten und Planer nur Schreibtischtäter sind oder ob sie sich mit dem Ort, den sie planen, eingängig beschäftigt haben. Städte können nicht auf Grundlage von Plänen und Zeichnungen entworfen werden. Deshalb ist die Forderung, dass man den Ort durch die eigene Anwesenheit und die eigene Beobachtung kennenlernen muss und daraus die entsprechende Planung entwickeln kann.
„Es gibt natürlich die Natur, die Bäume, den Wind, die Sonne – aber dass wir das alles zu einem Ganzen zusammenfügen und es als Landschaft bezeichnen, ist eine kulturelle Erfindung.“
Wie haben Sie den Spaziergang als Kommunikationsmittel entdeckt?
Bertram Weisshaar Für mich war eine wichtige Frage: Wie nehmen wir Landschaft wahr, warum ist sie schön? Also der Hinweis darauf, dass Landschaft im Wesentlichen in unserem Kopf entsteht. Es gibt natürlich die Natur, die Bäume, den Wind, die Sonne – aber dass wir das alles zu einem Ganzen zusammenfügen und es als Landschaft bezeichnen, ist eine kulturelle Erfindung. Wir können die Landschaften einerseits umbauen, also neue Bäume pflanzen, andere Wege anlegen. Wir können aber auch unseren Bezug zur Landschaft verändern. Heute werden beispielsweise auch technische Orte und Industrieregionen wie das Ruhrgebiet landschaftlich wahrgenommen.
Es geht also auch um Sichtbarmachung, Vermittlung, Wahrnehmung.
Bertram Weisshaar Richtig. Eine Redewendung von Lucius Burckhardt ist „vom Sehen zum Erkennen“. Es geht darum, unsere Wahrnehmung zu hinterfragen und zu reflektieren. Warum sehen wir etwas so, wie wir es beurteilen? Und das zu vergleichen mit der Wahrnehmung der anderen. Mit anderen gemeinsam spazieren gehen und sich entlang des Weges über die Orte zu unterhalten, die man aufsucht, hat eine ganz andere Qualität, als wenn man mit Studierenden in einem Seminarraum bleibt. Oder wenn es um Stadtumbau geht, nur in einem Versammlungsraum darüber zu berichten. Sobald man mit den BürgerIn nen auf die Straße geht und dort über die Dinge spricht, kommt man zu einer anderen Sprache. Solche Planungsspaziergänge sind eine wichtige Ergänzung der anderen Möglichkeiten. Quasi eine Erweiterung.
Wie sähe eine Stadt aus, in der jeder geht?
Bertram Weisshaar Die Art, wie wir uns fortbewegen, bedingt das Bild, das wir im Kopf haben. Wenn wir alle Wege mit den öffentlichen Verkehrsmitteln, mit dem privaten Pkw oder mit dem Fahrrad zurücklegen oder wenn wir hauptsächlich zu Fuß gehen: Jedes Mal bekommen wir ein anderes Bild von der gleichen Stadt. Sich das zu vergegenwärtigen ist sehr wichtig. Das rührt daher, dass man auf bestimmte Korridore angewiesen ist. Als Radfahrer brauche ich Radwege und fahre eben nicht auf der sechsspurigen Stadtautobahn. Ich erlebe zwar die Probleme der jeweiligen Verkehrsmittel sehr bewusst, bekomme aber von den Problemen der anderen nichts mit.
Ich unternehme regelmäßig Spaziergänge mit Menschen, die viel mit dem Pkw und weniger zu Fuß unterwegs sind. Deshalb sind ihnen die Bedürfnisse und Belange des motorisierten Verkehrs gegenwärtig und verständlich. Sie erleben jedoch weniger, was es bedeutet, zu Fuß unterwegs zu sein. Daraus erklärt sich häufig schon, wie die Straßen sind. Die Bedürfnisse der Autofahrer werden überdurchschnittlich bedient, die Belange der Radfahrer – das ändert sich seit 20 Jahren mehr und mehr – bekommen politisch mehr und mehr Gewicht. Entsprechend werden die Straßen umgestaltet. Die Anliegen der Fußgänger haben nach wie vor weniger politisches Gewicht. Das zeigt sich beispielsweise darin, dass das Abstellen von privaten Fahrzeugen auf den Gehwegen organisiert wird.
Also auf einem Bereich, der eigentlich den Fußgängern vorbehalten ist.
Bertram Weisshaar Genau. Da es angeblich eine so große Parkplatznot gibt, nimmt man da einen Meter weg und stellt das Auto zu zwei Dritteln darauf. Jetzt stellt sich natürlich die Frage: Wie kommt so eine Entscheidung zustande, und ist das gerecht? Kinder, Senioren oder Menschen, die beim Gehen eingeschränkt und auf den Gehweg angewiesen sind, werden gar nicht beziehungsweise deutlich weniger gefragt. Oder melden sich weniger zu Wort.
„Man muss das Auto nicht verteufeln. Es braucht aber einen anderen Stellenwert und einen anderen Umgang. Der kulturelle Umgang, den wir entwickelt haben, ist für Städte völlig unangepasst.“
Warum gibt es nach wie vor Widerstand, wenn es um die Einrichtung autofreier Zonen in Städten geht?
Bertram Weisshaar Das sind Gewohnheiten, die seit Jahrzehnten eingeübt wurden. Der Autobesitzer setzt kraft seines Besitzes seine Rechte durch, während Fußgänger und Radfahrer dem Citoyen, also dem Bürger entsprechen, der diese Ordnung ein Stück weit verinnerlicht hat. Man könnte die Klasse der Autofahrer als Bourgeoisie sehen, die sich nicht darum kümmert, was ihr Verhalten für andere bedeutet. Ich selbst fahre im ländlichen Raum auch Auto. Man muss das Auto nicht verteufeln. Es braucht aber einen anderen Stellenwert und einen anderen Umgang. Der kulturelle Umgang, den wir entwickelt haben, ist für Städte völlig unangepasst. Und natürlich brauchen wir ganz andere Autos.
Das heißt, es geht nicht darum, alle Autos aus den Städten zu verbannen, sondern um eine gerechtere Verteilung?
Bertram Weisshaar Es ist immer ein Kompromiss, eine Abwägung. In vielen Städten ist die Verteilung heute nach wie vor ungerecht. Der Querschnitt muss neu aufgeteilt werden, Fußgänger müssen eine stärkere Lobby bekommen. Es gibt in Deutschland seit den Achtzigerjahren den Fachverband Fußverkehr. Er wird allmählich stärker; man merkt, dass sich da etwas tut. Mitunter sitzen auch in den Stadtverwaltungen Menschen, die das verinnerlicht haben und gerne umsetzen wollen, aber in den letzten Jahrzehnten haben sich die Autofahrer so an ihre Privilegien gewöhnt, dass diese zur Selbstverständlichkeit geworden sind. Sobald der Gehweg zurückgefordert wird, gibt es einen Aufschrei.
„Wenn ein spezifischer Verkehrsträger optimiert wird, leidet der Rest des öffentlichen Raumes meistens. Eine Verbesserung des Fußverkehrs ist dagegen immer eine Aufwertung des öffentlichen Raumes.“
Sie erwähnten zuvor, Planer sollten nicht nur Schreibtischtäter sein. Hat sich das verbessert?
Bertram Weisshaar Was sich verändert die letzten 30 Jahre, weil einfach viele mitgewirkt haben: Der Fußgänger wird deutlich stärker berücksichtigt. Zum Beispiel wurden in Kassel zwei Spuren einer vierspurigen Straße zu einer Promenade umgebaut, von der alle Bürger profitieren. Wenn ein spezifischer Verkehrsträger optimiert wird, leidet der Rest des öffentlichen Raumes meistens. Eine Verbesserung des Fußverkehrs ist dagegen immer eine Aufwertung des öffentlichen Raumes.
Stadtplanungsämter befragen Sie als Spaziergangsforscher, bevor neue Wohngebiete erschlossen werden. Was ist Ihre Aufgabe?
Bertram Weisshaar Das muss ich etwas zurückhaltend formulieren (lacht). Das Unterwegssein zu Fuß in einem Gebiet ist eine Art Analyse. Man erfährt dabei Dinge, die man aus einem Plan nicht herauslesen kann. Dieses und letztes Jahr hatte ich sogenannte GrünGänge in Leipzig. Es ging darum, die Vielfalt des städtischen Grüns aufzuzeigen und zu erleben. Der Kontext ist, einen „Masterplan Grün“ zu erstellen. Weil mehr und mehr Brachflächen bebaut werden, muss man sich fragen, wie man das Grün schützen kann. Dazu ist ein Plan notwendig, der die ganze Stadt im Blick hat. Es geht dabei darum, die Bürger mit einzubinden. In diesem Sinne entwickelte ich sogenannte Querschnittsspaziergänge durch die Stadt.
Städte spielen durch Bevölkerungszuwachs und Zuzug eine Schlüsselrolle in der Zukunft. Wie kann eine „Stadtarchitektur der Zukunft“ aussehen?
Bertram Weisshaar Ganz wichtig sind die Durchmischung und die aktive Mobilität. Das bedeutet, sich aus eigener Kraft fortzubewegen, also mit dem Fahrrad oder zu Fuß, in Verbindung mit einem guten öffentlichen Nahverkehr. Man muss thematisieren, wie die bestehenden Strukturen unserer Städte umgebaut und angepasst werden an ein verändertes Verständnis von beispielsweise Klima- und Ressourcenschutz.
Meinen Sie Projekte wie die stillgelegte Güterzugtrasse High Line in New York, die zum Park umgestaltet wurde?
Bertram Weisshaar Für eine nicht mehr benötigte Infrastruktur des öffentlichen Verkehrs ist der High Line Park ein super Projekt. Aber im Hinblick auf Mobilität wäre das vorherige Beispiel der Goethestraße in Kassel geeigneter. In Leipzig gibt es ein ähnliches Beispiel. Vor wenigen Jahren wurde die Karl-Liebknecht-Straße umgebaut. Die Straßenbahn sollte beschleunigt werden und hätte dafür ein eigenes Gleis in der Mitte der Straße benötigt, die Gehwege links und rechts hätten halbiert werden müssen. Auf Protest einiger Initiativen wie des Ökolöwe-Umweltbund e. V., des ADFC und des FUSS e. V. wurden die Pläne infrage gestellt und noch mal überarbeitet. Jetzt fährt die Straßenbahn auf derselben Fläche wie der motorisierte Verkehr.
Was kann ich tun, wenn ich mich für eine gute Infrastruktur für Fußgänger einsetzen möchte?
Bertram Weisshaar Wenn Sie wollen, dass Infrastruktur für Fußgänger besser oder besser geschützt wird, sollten Sie dem FUSS e. V. beitreten. Das ist ihre Lobby. Die Rechte, die man hat, können artikuliert und durchgesetzt werden. Dass Autos auf Gehwegen parken, ist gesetzlich zwar verboten, wird aber nicht durchgesetzt. Die Ordnungsämter schauen daran vorbei – weil sie selbst das Auto nutzen und die Nöte der Autofahrer kennen (lacht). Die Not der Fußgänger wird als geringer angesehen.
„Seitdem versuche ich, auch wenn es vier Kilometer sind, Wege zu Fuß zu gehen. Man braucht zwar länger, aber man hat eine gute Zeit. Und darum geht es doch.“
Sie bieten geführte Spaziergänge in Städten an. Das scheint erst mal ein ungewöhnlicher Ort zu sein. Liegt darin schon ein Denkfehler?
Bertram Weisshaar Dazu fällt mir ein Zitat aus Franz Hessels Buch „Spazieren in Berlin“ ein, das er Ende der Zwanzigerjahre schrieb: „In Berlin geht man nicht, in Berlin geht man wohin.“ 2015 habe ich den Denkweg von Aachen bis Zittau entworfen und bewandert. Als Training für die Wanderung habe ich begonnen, jeden Weg zu Fuß zu gehen, und gemerkt, wie toll es ist. Dass es einfach Spaß macht. Seitdem versuche ich, auch wenn es vier Kilometer sind, Wege zu Fuß zu gehen. Man braucht zwar länger, aber man hat eine gute Zeit. Und darum geht es doch. Sobald man in irgendeiner Weise fährt, ist man auch in irgendeiner Weise mit dem Verkehrsmittel beschäftigt.
Welche Rolle spielt die Auswahl der Orte, die Abfolge und die Annäherung bei solchen geführten Spaziergängen?
Bertram Weisshaar In der Regel geht es immer um ein Thema, um einen vorher definierten Inhalt. Die Wege sind komponiert, gestaltet. Man sucht Orte und Situationen auf, bei denen man spezifisch etwas erfährt. Themen können zum Beispiel Stadtentwicklung sein, dann geht es um Architektur oder die Gestaltung des Raumes. Diesen Raum versteht man, indem man darin unterwegs ist.
Dabei werden Orte wahrgenommen, die eigentlich jeder kennt, an denen man aber meistens gedankenlos vorübergeht.
Bertram Weisshaar Ja, es gibt hinterher regelmäßig die Rückmeldung, dass Menschen, die schon jahrelang an diesem Ort leben, irgendetwas neu entdeckt haben. Es sind die räumlichen Bezüge, die sich herstellen, wenn man anders unterwegs ist. So wird plötzlich registriert, was zusammenhängt, was nicht, wo es vielleicht zehn Meter Verbindungsweg bräuchte, damit neue Wege und Bezüge in der Stadt entstehen.
Welche Rolle spielt das Thema Umweltgerechtigkeit?
Bertram Weisshaar Das ist ein ganz wichtiges Kriterium, zum Beispiel auch im vorher angesprochenen „Masterplan Grün“: Wer bestimmt, ob ein Hinterhof grün und im Sommer fürs Stadtklima hilfreich ist, ob dort Bäume stehen und das Wasser versickern und verdunsten kann? Oder ob dort zehn Autostellplätze stehen, Kinder dafür jedoch keinen Platz zum Spielen haben? Dass man auf eine Ödnis schaut und sich die Fläche im Sommer, wenn es 30 Grad oder mehr hat, enorm aufheizt? Grundsätzlich darf es natürlich auch Orte und Plätze geben, die den Großteil des Jahres leer stehen und die da sind, damit etwas Außergewöhnliches stattfinden kann. Davon gibt es einen oder zwei in der ganzen Stadt, wohingegen Parkplätze unzählige Hektar in Anspruch nehmen.
In Leipzig gibt es viele Siedlungsbauten aus den Fünfziger- und Sechzigerjahren: ein Gebäudetyp, der fünf- oder zehnmal nebeneinander gebaut wurde. Die Grundstruktur, die Abstände sind gleich. Es ist spannend, sie nacheinander anzuschauen. Der eine ist wunderschön grün, im anderen haben die Mieter Blumen gepflanzt, im nächsten sind lauter Stellplätze. Das wirft eine wichtige Frage auf: Wie wollen wir leben? Wie gestalten wir die Welt?
Zur Person
Bertram Weisshaar ist gelernter Fotograf und studierter Landschaftsplaner und seit den Neunzigerjahren als Spaziergangsforscher unterwegs. 2001 gründete er das Atelier Latent in Leipzig, bei dem er Fotografie und Spaziergangswissenschaft verbindet. Die Akademie LandPartie soll den Austausch zwischen Städtern und Landbewohnern durch gemeinsames Gehen fördern.
Sein aktuelles Buch „Einfach losgehen. Vom Spazieren, Streunen, Wandern und vom Denkengehen“ erschien im Eichborn Verlag.
Kulturtipps von Bertram Weisshaar
Hören Spyra: „Transitautobahn“
Ich bin kein ausgesprochener Musikkenner, aber es gibt ein interessantes Stück von Spyra: In „Transitautobahn“ schafft er es, Geräusche des motorisierten Verkehrs in die Musik einzubauen.
Sehen Wim Wenders: „Paris, Texas“ Ein Film, der mich wirklich gefangen hat und mit dem Gehen anfängt. Es läuft einer und läuft und läuft und läuft und haut dann wieder ab, wird wieder eingefangen.
Lesen Ulrich Beck: „Die Risikogesellschaft“
Beck reflektiert und beschreibt, dass wir in einer Zeit und in einer Gesellschaft leben, die die Risiken, mit denen sie konfrontiert wird – seien es Atomkraft oder Altlasten –, selbst produziert, und wie wir darauf reagieren. Gerade während Corona ist es sehr aktuell: Es gibt das Virus als natürliches Phänomen und den Umgang der Gesellschaft damit.
Text Aline Heß Fotos Lena Giovanazzi
Dieses Interview ist erschienen in Werde 03/2020