Die Philosophin Hilal Sezgin engagiert sich als Autorin und Aktivistin für die Rechte von Tieren und gibt ihnen auf ihrem Bauernhof bei Lüneburg ein neues Zuhause. In ihrem Buch „Nichtstun ist keine Lösung. Politische Verantwortung in Zeiten des Umbruchs“, beschreibt sie, warum uns erst ethisches Handeln mit anderen und der Welt verbindet.
Frau Sezgin, Sie sind von Frankfurt in die Lüneburger Heide gezogen, wo sie heute auf Ihrem eigenen Hof leben. Wie kam es zu diesem Ortswechsel?
Hilal Sezgin Ich habe mich auf dem Land immer schon wohler gefühlt als in der Stadt. Es liegt mir einfach mehr, mich mit Wald und Wiesen zu umgeben als von Beton umzingelt zu sein und auf Einkaufszentren zu gucken. Zudem hatte ich zum Zeitpunkt des Umzugs sieben Jahre als Redakteurin bei einer Zeitung gearbeitet und wollte mich wieder mehr dem Schreiben eigener Bücher widmen. Da war es die perfekte Möglichkeit, beides auf einen Schlag zu ändern. Raus aufs Land und mehr Zeit für mich.
Und ist diese Rechnung aufgegangen? Ist das Landleben wirklich so idyllisch wie man es sich vorstellt?
Hilal Sezgin In vielerlei Hinsicht ist es das, ja. Mir gefällt es unglaublich gut, die Veränderungen durch die verschiedenen Jahreszeiten um mich herum mitzuerleben. Plötzlich geht es einen wirklich an, wenn ein Sturm tobt. Zum einen, weil es wunderbar ist, wenn die Bäume vor dem Fenster im Wind rauschen, zum anderen aber auch, weil man hofft, dass sie einem nicht auf den Kopf fallen.
Was sich aber ganz anders entwickelt hat als ich mir das vorgestellt habe, ist, dass ich nach kurzer Zeit Tiere auf dem Hof übernommen habe. Erst kam eine Schafherde, dann Gänse und nach und nach immer mehr Mitbewohner, sodass mein Hof jetzt ein richtiger Gnadenhof ist. Da ich überzeugte Veganerin bin, esse ich die Tiere nicht, sondern versuche ihnen einen schönen Lebensabend zu ermöglichen. Das ist aber viel Arbeit und kostet mehr Zeit als gedacht.
Verbinden Sie mit Veganismus und Ihrem tierrechtlichen Engagement auch eine politische Agenda?
Hilal Sezgin Ich sehe mein Tun in jedem Fall als Teil einer politischen Bewegung. Aus meiner Sicht ist es nämlich nicht damit getan, lediglich auf tierische Produkte zu verzichten, sondern da hängt eine echte Protestbewegung dran, die durchaus mit früheren Menschenrechtsbewegungen vergleichbar ist. Eine zentrale Forderung des Veganismus ist es beispielsweise, den Lebenswillen von Tieren ernst zu nehmen. Es ist reine Willkür, Tiere den Anspruch auf Freiheit und Leben deshalb abzusprechen, weil sie Tiere sind. Natürlich sollen und können Tiere gar nicht in allen Punkten das gleiche Leben führen wie wir, dennoch muss zumindest deren Recht auf Leben gewährleistet sein.
Von Leo Tolstoi stammt das Zitat „So lange es Schlachthäuser gibt, wird es auch Schlachtfelder geben“. Würden Sie auch sagen, dass eine vegane Gesellschaft auch eine friedfertigere wäre?
Hilal Sezgin Auch wenn ich nicht glaube, dass es da eine kausale Verbindung gibt, geht mit dem Essen von Tieren natürlich das moralische Übel einher, dass man eine Unterscheidung zwischen sich und einem wie auch immer gearteten anderen trifft und dessen moralische Ansprüche einem dadurch weniger wert zu sein scheinen. Sei es, weil der jeweils andere ein anderes Geschlecht hat, anders aussieht, oder eben einer anderen Spezies angehört. Wäre dieser Mechanismus der Abgrenzung in der Gesellschaft weniger selbstverständlich, hätte das auf jeden Fall positive Auswirkungen auf unser Zusammenleben.
Der antike Denker Epikur verstand unter dem guten immer auch das moralische Leben. Sehen Sie das auch so?
Hilal Sezgin Dass diese beiden Lebensweisen miteinander verbunden sind, sieht man ja schon allein daran, dass wir Menschen soziale Wesen mit einem Gewissen sind und eine tiefe Verbundenheit zueinander haben. Auch wenn es oft behauptet wird und es uns auch manchmal so vorkommen mag, sind wir als Menschen keine Einzelkämpfer. Wie oft tun wir etwas für andere und fühlen uns auch selbst gut dabei.
Dennoch werden oft gerade die Menschen verspottet und als naiv bezeichnet, die Gutes tun. Der „Gutmensch“ ist sogar zu einem Kampfbegriff geworden.
Hilal Sezgin Natürlich ist nichts einfacher als jemanden abzuwerten, der etwas Großes und vielleicht sogar Träumerisches versucht. Warum wir zunächst mit dieser abwehrenden Haltung und nicht mit Zuspruch auf das Tun anderer reagieren, ist moralpsychologisch leicht zu erklären. In dem Moment nämlich, in dem jemand anderes etwas Gutes tut, kommt man sich in seiner Passivität automatisch schlecht vor. Um unser Bild vor den anderen und auch vor uns selbst jedoch zu verteidigen, motzen wir erstmal rum und zwar auch dann, wenn wir eigentlich gut finden, was da gemacht wird. Diese Trotzphase ist also ganz normal. Wirklich negative Auswirkungen hat das Ganze nur, wenn man anschließend nicht in einen kooperativeren Modus umschaltet und ebenfalls aktiv wird.
Moralisches Handeln ist also im besten Fall ansteckend?
Hilal Sezgin Das würde ich auf jeden Fall sagen. Man darf ja nicht vergessen, dass jeder von uns nur einer von 7 Milliarden ist. Da kann von dem Einzelnen ja gar nicht der große Knall kommen. Davon darf man sich aber auch nicht entmutigen lassen, weil jeder natürlich trotzdem etwas bewegen kann. Ein gutes Bild dafür ist der Staudamm, der aus vielen Sandsäcken besteht. Natürlich schleppt jeder nur einen Sack, der allein erstmal überhaupt nichts bringt. Wenn das aber viele tun, ist da am Ende ein riesiger Staudamm. Würden also alle sagen, dass sie ja nur einen Sack hinlegen können und das überhaupt nichts bringt, käme nie ein Damm zustande.
Würden Sie ein solches Zusammenspiel vieler Menschen als stille Revolution bezeichnen?
Hilal Sezgin Ich würde nicht unbedingt von einer stillen Revolution sprechen, weil das Tun in so einer Protestbewegung ganz verschiedene Lautstärken und Tonarten hat. Was sie ausmacht, sind eben diese ganz leisen, wie auch die sehr lauten Töne. Da geht es darum, dass sich viele ergänzen und ineinandergreifen, weil ja auch nicht jedem alles in der gleichen Weise liegt.
Im besten Fall stimmt das jedoch alles zusammen in einen Protestchor, der sehr wohl Gehör findet. Dass das funktionieren kann, hat man sehr gut im Herbst und Sommer 2015 gesehen, als die unterschiedlichsten Menschen sich für die ankommenden Flüchtlinge eingesetzt haben. Auf dem Dorf in dem ich aktiv war, haben sich Leute mit ganz unterschiedlichen Hintergründen versammelt und einfach zusammen Gutes getan. Wir haben weder auf die Gegenstimmen der anderen noch auf die in unserem Kopf gehört, sondern einfach gemacht, was uns richtig erschien.
Was ist denn die Voraussetzung dafür, damit ein Einzelner auf eine solche Weise ins Handeln kommt?
Hilal Sezgin Die Grundvoraussetzung ist sicherlich dieses diffuse schlechte Gewissen, das wir ja auf die ein oder andere Weise alle mit uns herumtragen, nicht andauernd zum Verstummen bringen zu wollen. Wir sollten diese Stimme nicht einfach verdrängen, sondern sie vielmehr ernst nehmen und uns eingestehen, dass dahinter ja tatsächlich auch ein Wissen um schlechte Zustände steckt. Dieses Wissen nicht einfach zu übergehen, sondern mal hinhören und es zum Keim eines Aktivismus werden lassen, ist eine Chance, die jeder für sich ergreifen kann.
Zur Person
Die Philosophin Hilal Sezgin engagiert sich als Autorin und Aktivistin für die Rechte von Tieren und gibt einigen von ihnen auf ihrem Bauernhof bei Lüneburg ein neues Zuhause. 2017 erschien ihr Buch „Nichtstun ist keine Lösung. Politische Verantwortung in Zeiten des Umbruchs“ (DuMont), in dem sie darlegt, warum uns erst ethisches Handeln mit anderen und der Welt verbindet.
Tipps der Philosophin
Zum Lesen
Beruflich lese ich so viel, dass ich manchmal beinah vergesse, wie schön und nahezu lebenswichtig das zweckfreie Lesen von Romanen ist. Im Moment versinke ich genüsslich in „Water. The Adventures of Misfit Defne Kaman“ von Buket Uzuner. Eine mutmachende Lektüre, die unsere notwendige Verbindung zur Natur beschreibt.
Buket Uzuner
The Adventures of Misfit Defne Kaman Water
Everest Yayinlari,
Istanbul, 2012.
Zum Lesen
All denjenigen, die gerne mehr meditieren möchten, die das stille und formlose Herumsitzen jedoch nur schwer durchhalten, seien die Meditationen von David Less ans Herz gelegt. Sie sind für Einsteiger und Fortgeschrittene geeignet, kommen ganz unscheinbar daher und überraschen mich doch immer wieder.
David Less
Universelle Meditation.
Rezepte für einen friedvollen Geist.
Hooh press, 2010
Zum Sehen
Oft vergessen wir, dass auch Tiere fühlende und schützenswerte Individuen sind. Die Videos auf dem YouTube-Kanal der Stiftung Hof Butenland rufen einem diese Tatsache in wundervoller Weise ins Gedächtnis. In einem meiner Lieblingsvideos begegnet Kuh Lotti erstmals dem Phänomen Schnee.