Eigentlich wollte Rosa Luxemburg Botanikerin werden. Es kam anders. Doch ihre Leidenschaft für die Natur begleitete sie ein ganzes Leben lang.
Was würde Rosa Luxemburg tun, wenn ein Zaubertrank sie zu neuem Leben erwecken und ihr die Kraft geben würde, den rechteckigen, rötlichen, tonnenschweren Stein auf ihrem Grab wegzustemmen? Würde sie, die Sozialistin, den Zaubertrank schwesterlich-brüderlich teilen mit all den anderen auf dieser Grab- und Gedenkstätte, um zu debattieren, zu politisieren, zu revolutionieren? Mit ihrem Kampfgefährten Karl Liebknecht, ermordet wie sie am 15. Januar 1919 in Berlin? Mit Rudolf Breitscheid, dem Sozialdemokraten, mit den Kommunisten Ernst Thälmann und John Schehr? Oder würde Rosa Luxemburg vielleicht gar nicht mit ihnen reden wollen, sondern etwas ganz anderes vorziehen?
Liebe für die Botanik
Die „Gedenkstätte der Sozialisten“, eine halbe S-Bahn-Stunde östlich von Berlin-Mitte im Bezirk Lichtenberg. Bis heute kommen am Todestag von Luxemburg und Liebknecht im Januar Tausende hierher auf den Zentralfriedhof Friedrichsfelde, um Nelken niederzulegen auf den Gräbern, die kreisförmig um eine gewaltige Stele angeordnet sind.
Rosa Luxemburg würde vermutlich zuerst die Natur erkunden. Die genügsame Kriechmispel mit ihren kleinen glänzenden Blättchen, die die Grabplatten wie ein immergrüner Teppich überzieht, im Frühjahr weiß bis rosafarben blüht und im Spätsommer kleine rote Beeren ausbildet; die vereinzelten Margeriten zwischen den Gräbern, die wohl der Wind hergetragen hat, die Fuchsien und Begonien, den Efeu, die Gräser, den Lavendel. und natürlich die mächtigen Bäume ringsum, Ahorn und Birke, Eiche und verschiedene Nadelbäume, die Edelkastanie mit ihren pfeifenputzergleichen männlichen Blüten. und ganz bestimmt würde sie versuchen, die unsichtbaren Vögel in den Bäumen an ihren Stimmen zu erkennen, solange die Räder der nahen S-Bahnen nicht kreischen.
Hefte voller Blüten
Die Naturwissenschaften, vor allem die Botanik, aber auch die Geologie, „das war Rosa Luxemburgs Bestimmung, ihr Jugendtraum. Sie wollte Naturwissenschaftlerin werden, und diese Art zu Denken – exakt, gründlich, naturwissenschaftlich – die saß ganz tief bei ihr. Sie war Naturforscherin, auch wenn sie den Beruf nicht ausüben konnte, was sie immer bedauert hat.“ Das sagt Holger Politt, Leiter des Warschauer Regionalbüros der Rosa-Luxemburg- Stiftung. Politt befasst sich mit dem polnischen Werk Rosa Luxemburgs, und er war es, der 2009 ihr Herbarium in einem Warschauer Archiv aufstöberte: ein bläulicher Pappkarton von der Größe einer Schuhschachtel mit 18 blaugrauen Schulheften, von denen 17 Luxemburgs Pflanzensammlung enthalten. Blätter, Blüten, Gräser, zweige, gepresst und getrocknet, penibel bezeichnet mit ihren deutschen und lateinischen Namen, dazu jeweils das Datum und gelegentliche Anmerkungen; im 18. Heft, ihren „Geologischen u. Botanischen Notizen“, lässt sie sich seitenlang aus über Pflanzenklassen und -familien, über Steinbrechartige und Balsamgewächse, über Storchschnabel- und Doldenblütige, über Vielfruchtige, Kreuzblütler, Mittensamige und unterirdische Blüten, über die Vegetation in Salzsteppen und Mangrovenwäldern; in der „Systematik der Gesteine“ referiert sie über Feldspat, Quarz und Augit.
„Man kann annehmen“, sagt Holger Politt, „dass Rosa Luxemburg schon in ihrer Schulzeit in Warschau Pflanzen gesammelt und geklebt hat, aber dafür gibt es keine Belege.“ Gesichert ist freilich, dass sich die Abiturientin 1889 in Zdürich – eine der wenigen Städte Europas, wo Frauen studieren durften – an der Universität für Naturwissenschaften einschreibt, Vorlesungen in Botanik und Zoologie hört und einen Kurs im Mikroskopieren belegt. Durch die Liebe zu einem jungen Revolutionär aus dem zaristischen Russland, der in die Schweiz geflohen ist, wird die junge Frau zunehmend politisiert – und wechselt schließlich zur Volkswirtschaft und anderen sozial- und geisteswissenschaftlichen Fächern. Später, die Beziehung ist längst zerrüttet, schreibt sie ihm: „Du wurdest mir verhasst als derjenige, der mich für immer an diese verfluchte Politik geschmiedet hat.“
Und noch später, in einem Brief aus dem Gefängnis an die Frau Karl Liebknechts, offenbart sie: „Ich habe manchmal das Gefühl, ich bin kein richtiger Mensch, sondern auch irgendein Vogel oder ein anderes Tier in Menschengestalt; innerlich fühle ich mich in so einem Stückchen Garten wie hier oder im Feld unter Hummeln und Gras viel mehr in meiner Heimat als – auf einem Parteitag (…) Mein innerstes Ich gehört mehr meinen Kohlmeisen als den ,Genossen‘.“ Angezogen und aufgesogen von der Politik, drängt Rosa Luxemburg ihre Neigung für die Natur lange Zeit an den Rand, doch im Frühjahr 1913, mit 42, als sie wegen der politischen Situation vor dem Ersten Weltkrieg eine persönliche Krise durchleidet, erfasst sie in Berlin ein „Rappel“, wie sie selbst schreibt: Es „packte mich die Leidenschaft für Pflanzen; ich fing an zu sammeln, zu pressen und zu botanisieren. Vier Monate lang machte ich buchstäblich nichts anderes, als im Feld schlendern oder zu Hause zu ordnen und zu bestimmen, was ich von den Streifzügen mitbrachte. Jetzt besitze ich zwölf vollbepackte Pflanzenhefte und orientiere mich sehr gut in der ,heimischen Flora‘.“ Es ist der Anfang ihrer Herbariumshefte, die sie während der meisten Zeit ihrer Gefängnisaufenthalte zwischen 1915 und 1918 dank gewisser Freiheiten in den Haftanstalten weiterführen kann.
Die Beschäftigung mit den Pflanzen ist Trost und Ablenkung, Holger Politt glaubt sogar, dass Rosa Luxemburg während ihrer letzten Haftzeit in Breslau ohne das Herbarium „kaputtgegangen“ wäre. Und doch sind die Blumenkladden mehr als das: Sie zeigen die Genauigkeit und Ernsthaftigkeit, die Fachkenntnis, Tiefe und Systematik, mit der die Inhaftierte ihr Thema durchdrang.
Beobachtungsgabe
„Die Herbarien waren mehr als ein Hobby, mehr als eine Fußnote in ihrer Biografie“, sagt Evelin Wittich von der Luxemburg-Stiftung. „Die Herbarien zeigen Luxemburg als eine ganzheitlich denkende Frau, die erkennt, wie rabiat Menschen untereinander, aber auch mit der Natur umgehen.“ In pflanzen- und tiergeografischen Büchern, die ihre Hauptlektüre im Gefängnis sind (darunter ein Lehrbuch über „spezielle und medizinisch-pharmazeutische Botanik“), stößt sie 1917 auf Zusammenhänge, die einhundert Jahre später aktueller erscheinen denn je: „Gestern las ich über die Ursache des Schwindens der Singvögel in Deutschland: Es ist die zunehmende rationelle Forstkultur, Gartenkultur und der Ackerbau, die ihnen alle natürlichen Nist- und Nahrungsbedingungen (vernichten): hohle Bäume, Ödland, Gestrüpp (…).“ Der „unaufhaltsame Untergang dieser wehrlosen kleinen Geschöpfe schmerzt“ sie so sehr wie der Anblick von Büffeln, die einmal durch den Gefängnishof getrieben werden, beladen mit Säcken voller Soldatenuniformen. Luxemburg leidet mit den Tieren und beschreibt sie gleichzeitig mit der Akribie eines Forschers: „Sie sind kräftiger und breiter gebaut als unsere Rinder, mit flachen Köpfen und flach abgebogenen Hörnern, die Schädel unseren Schafen ähnlicher, ganz schwarz mit großen sanften Augen (…) Die Soldaten erzählen, daß es sehr mühsam war, diese wilden Tiere zu fangen und noch schwerer, sie (…) zum Lastdienst zu benutzen (…) Dazu bekommen sie, die an die üppige rumänische Weide gewöhnt waren, elendes und karges Futter (…) Und eines der Tiere, welches blutete, schaute dabei vor sich hin (…), es war direkt der Ausdruck eines Kindes, das hart bestraft worden ist und nicht weiß, wofür, weshalb (…).“
Ein Gärtchen im Gefängnis
Um ihre Blumenhefte zu bestücken, greift Luxemburg nach allem, was erreichbar ist. Während sie im Gefängnis in Wronke bei Posen sogar ein Gärtchen mit Zierjohannisbeere und Ligusterstrauch bewirtschaften darf – „ich bin jetzt fast den ganzen Tag draußen, schlendere in den Sträuchern herum, suche alle Winkel meines Gärtleins ab und finde allerlei Schätze“, am Weg entlang der Mauer kennt sie „nun schon jeden Stein und jedes Unkräutlein“ –, klagt sie über ihre Zeit im Breslauer Gefängnis, wo es auf dem gepflasterten Hof nichts zu entdecken gebe. Bei ihren Briefpartnern, vor allem bei ihrer Vertrauten und Privatsekretärin Mathilde Jacob, ordert Luxemburg regelrecht Pflanzen, nicht ohne freundliche Ermahnung, „das Blatt mitzuschicken, das erleichtert sehr die Bestimmung“, „namentlich die Grundblätter“. Sie schreibt ihr, wann und auf welchen Wiesen bestimmte Pflanzen zu finden sind, und gibt ihr „die Vollmacht, an meiner statt die Wiesen zu plündern“. „Begierig“ wartet sie auf Berichte über die Orte ihrer Korrespondenzpartner, „was alles jetzt blüht dort und wie es im ganzen aussieht, auch was man an Vögeln hört“. Sie rätselt fachkundig über zugesandte Pflanzen, deren Blüten schon vertrocknet sind: „Calamagrostis (auf Deutsch: Federgras) ist es ganz gewiss nicht, denn eine Grasart hat nie solche Blüten. Ich halte es am ehesten für eine Art Lavendel. Wo haben Sie es gepflückt?“ Maßlos ärgert sie sich, wenn sie Pflanzen nicht bestimmen kann: „Wieviel litt ich, wenn ich vor einem neuen Pflänzchen saß und es lange nicht festzustellen und einzureihen wußte; ich wurde mehrmals fast ohnmächtig in solchen Fällen.“ Entsprechend spart sie nicht mit Details, wenn die Bestimmung glückt: „Die kleineren gelben mit der braunen samtigen Mitte, das ist der Alant (Inula Helenium), die großen gelben, die der Sonnenblume ähnlich sind, das ist Topinambur (Helianthis Tuberosus), endlich die winzigen gelben in den vielen Trauben, so schön duftend, das ist die Canadische Goldrute (Solidago Virgaurea), alle drei aus der Familie Compositen.“ Die botanischen Bücher, die ihr dabei helfen, seien streng wissenschaftliche Grundwerke – und doch erscheinen sie ihr „wie eine Kette von lauter Märchen“.
Nicht anders bei den Vögeln. Sie reflektiert, wie sie als 15-Jährige dank ihrer „modernen naturwissenschaftlichen Bildung“ die Naivität ihrer Mutter belächelte, die behauptete, König Salomo verstehe die Sprache der Vögel. Und „jetzt bin ich selbst wie König Salomo“, erkennt sie und erörtert in ihren Briefen deren Rufe („Gligligligligliglick“, „Zizi bä-Zizi bä“). Rosa Luxemburgs Wissensdurst auf die Natur scheint unstillbar. „Ich bin jetzt tief in der Geologie“, schreibt sie aus dem allzu grauen Breslauer Gefängnis, „sie wird Ihnen wohl als eine sehr trockene Wissenschaft vorkommen, das ist aber ein Irrtum. Ich lese sie mit fieberhaftem Interesse und leidenschaftlicher Befriedigung, sie erweitert kolossal den geistigen Horizont und verschafft eine so einheitliche, allumfassende Vorstellung von der Natur, wie keine Teilwissenschaft es vermag.“ „Mineralogie, Chemie, Physik, Zoologie, Botanik, Astronomie – von alledem ein wenig gehört dazu, und das gibt einen schönen großen Zusammenhang. Schade, daß das Leben zu kurz ist und die Politik andere Pflichten aufdringt, sonst würde ich mich gern dem widmen.“
Buchtipp:
„Rosa Luxemburg. Herbarium“, von Evelin Wittich (Hrsg.), erschienen im Karl Dietz Verlag, Berlin, gibt berührende Einblicke in Luxemburgs Leben, ihr botanisches Werk und verhilft zu einem neuen Blick auf ihre Persönlichkeit.
Eine Persönlichkeit ihrer Zeit
Rosa Luxemburg war klein von Statur, aber sehr aktiv. Getragen von starken Überzeugungen und einer bewundernswerten inneren Haltung, setzte sie sich lebenslang für die Rechte anderer Menschen ein. Ihre große Herzensangelegenheit jedoch war die Natur.
Rosa Luxemburg sei „eine der unbekanntesten Bekannten“ in Deutschland, hat der Historiker und Luxemburg-Herausgeber Jörn Schütrumpf geschrieben: „Es gibt fast niemanden, der ihren Namen nicht wenigstens schon einmal gehört hat. Doch von dem, was sie gewollt hatte, weiß kaum jemand etwas.“ Dabei war die 1,50 Meter kleine Frau mit dem Hüftschaden eine ganz Große ihrer Zeit. Journalistin, Publizistin, fesselnde Rednerin (vornehmlich vor männlichem Publikum, der erste große Auftritt mit 22), Pazifistin, Internationalistin, Mitgründerin des Spartakusbunds und der Kommunistischen Partei Deutschlands, marxistische Theroretikerin, Parteischul- Dozentin, Briefeschreiberin, Kapitalismuskritikerin, Frauenrechtlerin und Urheberin des berühmten Zitats „Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden“ (das sich gegen die Unterdrückung einer oppositionellen Öffentlichkeit wendete). Und verhinderte Naturwissenschaftlerin, Botanikerin, Ornithologin und Zoologin.
Geboren 1871 im Königreich Polen als letztes von fünf Kindern einer jüdischen Familie. Sie spricht viele Sprachen, heute würde sie als Hochbegabte gelten. Nach ihrer Promotion in Zürich (magna cum laude) erhält sie per Scheinehe die deutsche Staatsbürgerschaft, zieht nach Berlin und wird zur Wortführerin des linken Flügels in der SPD, mit der sie sich überwirft, als diese 1914 für Kriegskredite für die Mobilmachung stimmt. Weil sie 1913 auf einer Veranstaltung Arbeiter dazu auffordert, im Kriegsfall den Dienst an der Waffe zu verweigern, wird sie zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, an die sich eine Schutzhaft anschließt. So sitzt sie zwischen 1915 und 1918 in Berlin, Wronke bei Posen und zuletzt mit angeschlagener Gesundheit in Breslau ein. Zum Ende des Ersten Weltkriegs, im November 1918, wird sie entlassen und gründet in den Nachkriegswirren die KPD, versucht die Revolution zu beeinflussen. Im Januar 1919 wird der Spartakusaufstand niedergeschlagen, wenige Tage darauf ermorden Soldaten Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. Erst fünf Monate danach wird Luxemburgs Leiche aus einem Berliner Kanal geborgen.
Ihr Herbarium gelangte unter bis heute nicht restlos geklärten Umständen über die USA nach Polen. Es galt lange Zeit als verschollen, bis es Holger Politt von der Rosa- Luxemburg-Stiftung 2009 in einem Archiv in Warschau fand. Es sei inzwischen restauriert und in absolut tadellosem Zustand. „Die Blumen“, sagt Politt mit großer Freude, „sind fantastisch erhalten.“
Text: Stefan Scheytt