Kreativität ist zeit- und grenzenlos: Vor 25 Jahren begann eine Malerin Lucia Lienhard-Giesinger aus Bregenz ein Projekt für Flüchtlingsfrauen aus Bosnien. Noch heute stellen sie zusammen außergewöhnlich kunstvolle Quilts her.
Von der bosnisch-herzegowinischen Hauptstadt Sarajewo fährt ein Kleinbus durch die Nacht in die 100 Kilometer entfernte Kleinstadt Goražde. Im Bus sitzt ein Dutzend Frauen, und jede von ihnen verbindet mit dieser Straße schreckliche Erinnerungen: Kinder, die am Straßenrand standen und Steine auf vorbeifahrende Autos warfen; UN-Fahrzeuge als Begleitschutz vor Anschlägen. Im Dämmerlicht des Kleinbusses reden und lachen die Frauen, bis irgendwann eine von ihnen, Emina Hošo, nach vorne geht, sich auf den Platz neben den Fahrer setzt und zu singen beginnt.
Es sind bosnische Volkslieder, in die der Fahrer und bald der ganze Bus einstimmen. Immer wieder streckt Emina Hošo vorne neben dem Fahrer singend beide Arme in die Höhe wie ein Fußballfan auf dem Heimweg nach einem gewonnenen Spiel. Es ist, als würden die Frauen das Ende ihrer Angst besingen, die sie mit dieser Straße verbinden. Und die Freude, sich als Gruppe gefunden und so lange zusammengehalten zu haben.
Ein Stern in dunkler Nacht erscheint
Am Nachmittag haben die Frauen am Flughafen von Sarajewo Lucia Lienhard- Giesinger und ihren Mann Daniel Lienhard abgeholt, so wie sie es seit vielen Jahren ein- oder zweimal im Jahr tun. Manchmal nennen die Frauen Lucia respektvoll „Chefin“, und manchmal sagen sie, Lucia sei ihnen wie ein Stern in dunkler Nacht erschienen.
Diese ungewöhnliche Geschichte einer Frauengruppe hat zwei Hauptfiguren. Die eine ist Lucia Lienhard-Giesinger aus Bregenz, 64, eine Frau mit weichen Gesichtszügen, weicher Stimme und diesem einnehmenden, gemütlicherzählerischen Ton des österreichischen Dialekts; sie läuft gerne barfuß und trägt oft ein einfarbiges blaues Hemdkleid. Sie ist eine beharrliche Kümmerin.
Malerin ohne Pinsel
Als 1993 während der Kriege im zerfallenden Jugoslawien Flüchtlinge aus Bosnien in einer ehemaligen Kaserne in Vorarlberg einquartiert werden, folgt Lucia dem Aufruf, mit ihnen zu arbeiten. Sie ist gelernte Volksschullehrerin und Malerin, aber sie will den Gestrandeten nichts anbieten, bei dem sie, die Künstlerin, von oben herab ihre Fähigkeiten vermittelt. Und auch nichts, das die Frauen kennen und sie an ihre zerstörte Heimat erinnert. „Ich wollte etwas mit ihnen tun, das die Gedanken weglenkt, und etwas, an dem beide Seiten ihren Anteil haben.“ So landet sie bei Quilts, die den Frauen aus Bosnien so neu sind wie ihr selbst.
Die Idee: Sie ist die „Malerin ohne Pinsel“, die zu Hause am Boden auf Knien mit Stoffbahnen Quilts entwirft; die Frauen sind die Zeichnerinnen, die mit ihren individuellen Steppnähten Linien über Lucias Komposition legen, „in ihrer Handschrift drüberschreiben“. Mit ihrer ersten Entwurfsmappe fährt sie ins Heim, unsicher, auf der Mappe stehen ein paar bosnische Übersetzungen, die wichtigste: „Dopada li ti se?“ – gefällt es dir?
Ein Mann im Heim sagt einmal im Vorbeigehen „nix brauchen Picasso“, er meint damit, dass künstlerisches Arbeiten doch sinnlos sei angesichts der täglichen Schreckensnachrichten aus der Heimat. „Ich hab nichts dazu gesagt, aber ich hab es gut verstanden“, sagt Lucia.
Die Garage ist der Anfang
Eine Garage ist ihre Werkstatt. Dreißig Frauen, zwei Biertische, Bierbänke, ein Wasserkocher für den Kaffee, ein Radio, aus dem die Frauen Kriegsmeldungen saugen. „Aber sie konnten zeitweise auch ein bisschen weg sein vom Elend“, erinnert sich Lucia. Auch weg von der Enge der Zimmer im Heim mit den Stockbetten, weg von den Kindern, den Hausaufgaben, der Unruhe, den Männern. „Man musste viel Schnaps trinken“, erzählt Lucia, die oft heimlich Wasser nachgoss. „Und wenn ich dann sagte: ,Es ist lustig bei euch‘, dann antworteten sie: ,Du hättest uns erst vor dem Krieg kennenlernen sollen!‘“ Die Garage ist der Anfang von Bosna Quilt. Und bei der ersten Ausstellung der Quilts tanzen und singen die Frauen, zum ersten Mal seit Langem.
Die zweite Hauptfigur ist Safira Hošo, 63, eine resolute und warmherzige Frau, eine Dame mit rosa lackierten Nägeln, viel Schmuck an den Händen, die raucht und vor dem Krieg Buchhalterin war. 1993 kommt sie mit ihren zwei kleinen Söhnen und ihrem kranken Mann nach Österreich, und gleich bei der ersten Begegnung mit Lucia im Stuhlkreis zwinkert sie der Frau mit der Quilt-Idee zu: Wir machen das gemeinsam. Safira lernt rasch Deutsch, wird zur Stimme der anderen Frauen. Vier Jahre und viele Quilts später, der Krieg ist zu Ende, packt Safira im Flüchtlingsheim die Koffer, zum Abschied sagt sie zu Lucia: „Wenn wir wieder zu Hause sind, musst du diese Arbeit mit uns weitermachen.“
Zu Hause, in der muslimischen Enklave Goražde am Fluss Drina, die einer dreijährigen Umzingelung durch serbische Milizen widerstand, gibt es kaum noch ein Gebäude ohne schwerste Schäden. In den Häusern, Garagen, Schuppen, die noch Schutz bieten, hausen ehemalige Nachbarn oder Fremde, es gibt kaum Strom und Wasser, keine Arbeit, kein Geld. Tausende von Einheimischen sind nicht mehr zurückgekehrt, blieben in Österreich, Deutschland, der Schweiz, suchten ihr Glück in Kanada, den USA. Safira Hošo bleibt. Mithilfe der Flüchtlingsbeauftragten der Stadt und des Arbeitsamts sucht sie neue Näherinnen, leitet sie an – und besorgt sich ein Faxgerät für den Kontakt mit Lucia.
Betriebsversammlung der besonderen Art
September 2017: Auf Safiras Terrasse in Goražde sitzen ihre zehn Kolleginnen, Lucia und ihr Mann Daniel auf Bierbänken und Plastikstühlen, auf dem Gartentisch stehen Kaffeetassen, Aschenbecher und Schälchen mit Bratäpfeln und Sahne. Die Frauen erzählen sich von den kleinen Freuden und den großen Sorgen, es ist so etwas wie Normalität bei ihnen eingekehrt . Sie haben zwei Leben, jenes vor dem Krieg und jenes danach. Über das erste reden sie selten, das zweite wollen sie genießen. „Wir sind zu einer guten Gemeinschaft zusammengewachsen, ich kann jede um Mitternacht anrufen, wenn ich Hilfe brauche“, sagt Safira.
Dann wechselt die Gruppe in Safiras Nähzimmer. Hier treffen sie sich einmal im Monat, nachdem Safira in Sarajewo den Koffer von Lucia aus Bregenz abgeholt hat, darin die neuen Entwürfe: elf Quilts, für jede einen, fixiert mit Stecknadeln, dazu je eine Wachskreideskizze als Anleitung, ein Papier mit den Maßen und je zwei Garne für die Steppnähte. Ein paar Wochen später sammelt Safira die gesteppten Quilts wieder ein und bringt den Koffer auf den Fernbus nach Bregenz. Lucia kennt die „Handschriften“ der Frauen, und doch ist jeder zurückkehrende Koffer aus Goražde eine Überraschung, jeder Quilt ein doppeltes Unikat.
Im Nähzimmer erzählt nun Lucia von den Kunden in aller Welt, von den neuen Orten der Quilts auf Betten und Sofas, an den Wänden privater Häuser und öffentlicher Einrichtungen, von den Besuchern in den Ausstellungen. „So viele Leute lassen euch grüßen, unbekanntermaßen“, sagt Lucia in die Runde. „Ihr macht das mit Herz und Hand, jede so gut sie kann, zu meinem Entwurf kommt eure Arbeit dazu: Wir sind gemeinsam Künstlerinnen.“
In den Tagen nach dieser Betriebsversammlung der besonderen Art folgt, wie bei jedem Besuch von Lucia und Daniel in Goražde, eine Tour zu jeder der Näherinnen, in ihre Wohnzimmer, in ihre Gärten, Lauben, Garagen. Mit Nachbarn und Verwandten, mit gedeckten Tischen, die sich manchmal fast biegen unter Lammfleisch und Linsen, Krautsalat, Forellen, Paprika und Pita, Hühnerschlegeln, Hackfleischbällchen, Auberginen, dazwischen klärender Sliwowitz und hinterher Kartoffeln, um den Sliwowitz in der Kehle zu besänftigen, zuletzt Baklava, Tulumba und anderes Süßes. Zu Sada Srna, die mit ihrem Mann am Rande von Goražde unmittelbar an der Grenze zur Republika Srpska wohnt, dem serbischen Teil Bosnien-Herzegowinas. Nach dem Krieg war von ihrem Haus nur noch die Garage bewohnbar, sie haben es wieder aufgebaut. Sada, die früher in einer Textilfabrik arbeitete, hat für die Quilts das Steppen von Hand mühsam gelernt. „Ich musste viel langsamer arbeiten und durfte keine geraden Linien mehr machen, hatte Angst, ob ich das schaffe. Aber jetzt kann ich es fast im Schlaf“, sagt sie lachend.
Oder zur energischen Emina Hošo, die vom Tod ihres Mannes im Krieg am Telefon in Deutschland erfuhr und deren Garten und Gartenhäuschen, das im Krieg als Notlazarett diente, von einem unbändigen Gestaltungswillen zeugen. Sie überschreibt Lucias Quilts gerne mit welligen Linien, als wollte sie die Wellen der Drina, die an ihrem Häuschen vorbeifließt, nachahmen.
Zu Munira Karo, einer kleinen, drahtigen Frau mit spitzem Gesicht, die in einem unverputzten Haus am Stadtrand wohnt. In ihrem Wohnzimmer hängt ein riesiges Foto des Eiffelturms, ein Geschenk ihrer Schwestern, Brüder und ihres Sohnes, die es nach Frankreich verschlagen hat. Neben dem Foto steht ein Tischchen mit einem Computer, darauf ein aufgeklappter Laptop zum Skypen. Nie würde sie ihnen folgen, „mein Leben ist hier“, sagt sie bestimmt. Zu Vesna Malokas, einer Frau mit ruhiger Ausstrahlung, die Haare zu einem kleinen Dutt gefasst.
Vesna, die, wie Safira, den Krieg mit ihren zwei Kindern und ihrer Mutter im Flüchtlingsheim in Österreich überdauerte, wohnt jetzt im 6. Stock eines der wenigen Hochhäuser in Goražde. Die Fassade ist übersät von den dunklen Flecken der ausgebesserten Einschusslöcher; vor den Häusern türmen sich Brennholzhaufen. Die vielen Todestage von Verwandten und Bekannten, vor allem jenen ihres Bruders, könne sie nicht verdrängen, aber das Leben habe sich stabilisiert. „Früher hatte ich so einen Druck im Kopf, aber das Quilten ist wie eine Therapie. Ja, ich schäme mich nicht, das zu sagen: Wir sind wie eine Therapiegruppe, auch wenn jede für sich arbeitet. Hier herrscht keine Konkurrenz, und wir lieben diese Arbeit.“
Ich dachte, wir sehen uns nie wieder
Oder zu Sabina Dolo, einer pensionierten Maschinentechnikerin, die den Krebs niedergerungen hat und seither nur noch kleinere Quilts steppen möchte. Die auch malt und schreibt und beim Besuch von Lucia und Daniel ein Gedicht vorträgt, in dem von „einer Frau und guten Seele aus Österreich“ die Rede ist, von „fleißigen Händen“ und „Brücken der Freundschaft, die uns verbinden“.
Bei ihrem ersten Besuch in Bosnien, im Winter 1997, fragte Lucia: „Safira, hast du wirklich geglaubt, dass wir unsere Arbeit nach eurer Rückkehr fortsetzen?“ „Und dann“, erinnert sich Lucia Lienhard-Giesinger, „hat Safira geweint und gesagt: ,Ich dachte, wir sehen uns nie wieder.‘ Sie hat’s nicht geglaubt, und ich hab es auch nicht geglaubt.“