Wir trafen den Naturphilosophen Andreas Weber zu einem Gespräch darüber, wie uns die Natur hilft, mutige Verbindungen zu knüpfen.
Herr Weber, warum sind Naturerfahrungen für uns so wichtig?
Andreas Weber Natur, das bedeutet für mich die Gesamtheit aller Geschöpfe und Lebewesen. Dazu zählen also auch wir Menschen. Andere Lebenwesen betrachten mich niemals nur als Mittel. In dem, was wir Natur nennen, bin ich immer auch ein Zweck.
Die Frage lautet so gesehen: Warum möchten wir Menschen uns so gerne mit anderen, fremden Wesen verbinden? Und meine kurze Antwort darauf lautet: In anderen Wesen erkennen wir uns selbst. Wir begreifen uns selbst, indem wir in eine Gegenseitigkeit mit der Gesamtheit der Geschöpfe treten. Das ist eine sehr tiefe, letztlich sogar mystische Erfahrung.
So beruht der Impuls, am Wochenende zu sagen: „Heute fahren wir mal raus in die Natur“, für Sie letztlich auf der Sehnsucht, das eigene Selbst in der Natur zu finden und zu erkennen?
Andreas Weber Ja, obwohl ich hierbei keine wesentliche Trennung zwischen Erfahrungen der Natur und der Kultur machen will. Auch der Besuch einer Ausstellung oder ein Spaziergang durch das Gewusel der Innenstadt kann das bewirken.
Was wir allgemein gefasst suchen, sind Erfahrungen der Verbundenheit. Der entscheidende Unterschied besteht für mich nun zwischen solchen Erfahrungen, in denen ich selbst in Verbindung mit anderen sein kann, und Erfahrungen, in denen mir diese Verbindung genommen wird, weil ich darin lediglich als ein Mittel zum Zweck vorkomme oder wahrgenommen werde.
Aber gibt es nicht doch etwas, was die Erfahrung mit nicht menschlichen Wesen, sagen wir mit Bäumen, Wiesen, Insekten oder auch Hunden, besonders auszeichnet?
Andreas Weber Was uns so beglückt, ist, dass Bäume oder Tiere, anders als Menschen, nicht über mich urteilen, also keine wertenden Meinungen über mich entwickeln. In einer Naturerfahrung trete ich mit einem Baum, einer Wiese, einem Tier in Beziehung, aber es ist eine Beziehung, in der mich der Baum oder das Tier so sein lässt, wie ich bin. Und das ist ein extrem gutes Gefühl.
In Naturerfahrungen erleben wir uns also als vom anderen so angenommen, wie wir sind. Ohne Vorurteile, Verstellungen, Wertungen?Andreas Weber Ja, und das ist etwas, was ich mir auch für soziale Zusammenhänge des Zwischenmenschlichen in unserer gesamten Gesellschaft mehr wünschen würde. Offen zu sein für das So-Sein des jeweils anderen. Diese Akzeptanz können wir von der Natur lernen.
Das bedeutet dann aber immer auch, Grenzen zu akzeptieren, Scheitern zu akzeptieren, Ausgesetztheit zu akzeptieren. Denn der Baum, der mir gegenübersteht, ist gleichzeitig auch der Baum, der mir nicht zu Hilfe eilen wird. Es ist auch der Baum, der noch da ist, wenn ich lange vergangen sein werde.
So erleben wir in der Natur auch immer die Grenzen unserer Kontrolle, unserer Macht?
Andreas Weber Es steckt noch mehr drin. Lebewesen leben ja nicht aneinander vorbei, sondern ernähren sich voneinander. Und sie tun das, weil sie letztlich alle von einem Schlage, alle auf eine tiefe und geheimnisvolle Weise miteinander verwandt sind. Das gilt auch für den Menschen. Wenn ich einen Apfel, eine Kastanie oder ein Steak esse, dann nehme ich diesen Apfel oder dieses Tier ja ganz konkret in mir auf. Es wird zu mir. Und ich werde zu ihm. Wenn ich ausatme, dann atme ich mich selbst aus in die gesamte Atmosphäre. Das gehört auch zu dem, was ich meine, wenn ich von Erfahrungen der tiefen Verbundenheit mit allem Lebenden spreche. Diese Verbundenheit zu erkennen, ja in konkreten Erfahrungen überhaupt erst zuzulassen, erfordert ziemlich viel Mut.
Wie meinen Sie das?
Andreas Weber Es verlangt den Mut, mich für die Gegenwart des anderen zu öffnen, mich im wahrsten Wortsinne davon „berühren“ zu lassen und damit auch, mich angreifbar zu machen. Die Naturerfahrung ist ja immer auch mit dem Wagnis verbunden, Kontrolle aufzugeben, sich auf ihre Wildheit und grundlegende Unbezähmbarkeit einzulassen. Aber das ist doch oft auch mit Angst verbunden. Das kann man schon an der Wespe sehen, die sich dem Picknickkorb nähert.
Wird es in solchen Situationen nicht gerade unmöglich, die Natur zu genießen, sich ganz und gar auf sie einzulassen?
Andreas Weber Aber warum denn? Ich würde sagen, jemand, der sich auf eine Wiese setzt und Wespen ausschließen möchte, der verbindet sich gerade nicht. Für den gibt es „die Natur“ nur im Postkartensinn. Sich wirklich zu verbinden heißt auch, sich wirklich zu riskieren. Mal ganz abgesehen davon, dass Wespen in diesem Ökosystem ja eine gewisse Rolle und Funktion haben. Sie einfach als störend ausschalten zu wollen bedeutet, wenn man es weiterdenkt, die Grundlagen ebenjenes Systems zu zerstören, das man vorgeblich genießen will.
Ist es nicht typische westliche Art, über die Natur zu denken: als ein Raum, den es zu zähmen, zu beherrschen, zu kontrollieren gilt?
Andreas Weber Ja, dieses Bestreben liegt ganz tief in unserer abendländischen Kultur. Und wir bezahlen einen immer höheren Preis dafür. Denn Wesen, die einen Teil der Wirklichkeit vollständig kontrollieren oder gar eliminieren möchten, berauben sich so der Möglichkeit, Verbindung mit ihren Mitwesen zu treten. Sie machen sich damit selbst ärmer.
Für mich fühlt es sich deshalb zutiefst richtig an, Verbindungen zu suchen, auch wenn man begreift, dass zu diesen Verbindungen das Unangenehme, Unkontrollierbare, vielleicht sogar Zerstörerische gehört. Es gilt, gerade diese „Wildnis“ als Wirklichkeit zumindest zu akzeptieren, sich darauf einzulassen, dass sie zumindest etwas mit mir zu tun hat. Denn diese Wildnis ist ein wichtiger, kreativer Teil von uns.
So sollen wir also auch die Wespe, vielleicht sogar die Zecke als Teil der Natur, also erkenntnisfördernde Störung lieben lernen?
Andreas Weber Ich will niemandem direkt sagen: „Liebe diese Wespe, liebe diese Zecke“, das ist doch klar. Schließlich sticht sie manchmal oder beißt. Das tut dann weh, überträgt im Fall der Zecke vielleicht schwere Krankheiten. Aber gleichzeitig möchte ich auch nicht sagen: „Eliminiere sie“, sondern: „Akzeptiere, dass die Wirklichkeit aus Licht und Schatten besteht, dass es auf dieser perfekten Wiese draußen in der Natur auch Wesen gibt, die stören, verärgern, uns bedrohen.“ Das gehört dazu, gehört zu unserem Leben.
Das klingt nach einer recht umfassenden Lebensphilosophie.
Andreas Weber Ja, worauf es mir hier ankommt, nenne ich „Daseinstapferkeit“, also eine Form der Zivilcourage oder eben der Naturcourage. Das hat auch ganz direkt mit unserem Bewusstsein der Endlichkeit, der zeitlichen Begrenztheit unseres Daseins zu tun.
Denn unser „Natur- Sein“ bedeutet ja nicht zuletzt, dass wir eines Tages gefressen werden. Wir werden verdaut, verspeist, umgewandelt: durch Würmer, oder wir werden zu Schimmelpilzen. In dem Moment, wo wir in diesen Kreislauf eingehen, gedeiht dadurch anderes und blüht auf. Das ist doch schön.
So sind echte Naturerfahrungen für Sie auch immer Erfahrungen, in denen wir als Menschen unsere eigene Endlichkeit anerkennen?
Andreas Weber Absolut. Es sind Endlichkeitserfahrungen. Aber Endlichkeit ist hier immer eine Durchdringung von Sterben und Geborenwerden. Beides ist immer präsent. Es ist damit die Erfahrung der eigenen Endlichkeit im Rahmen der absoluten Unendlichkeit: eben eine „endliche Unendlichkeit“, wie es der Naturphilosoph Friedrich Schelling so treffend nannte.
Was war denn in letzter Zeit Ihre intensivste Naturerfahrung?
Andreas Weber Ich mache solche intensiven Erfahrungen eigentlich jeden Tag, Auf diesem Tisch steht zum Beispiel eine Vase mit blühendem Flieder – ein wundervoller, betörender Duft. Und gleichzeitig ist der Flieder ein Gehölz, das immer zum Geburtstag meiner Tochter blüht. Also sind meine aufblühende Tochter und dieser Flieder für mich zutiefst miteinander verwandt.
Was ich sagen will: Wir können uns in diesen Erfahrungen der Verbundenheit üben. Sie sind fast immer und überall möglich. Nicht nur draußen in der Natur, sondern auch den eigenen vier Wänden.