Menschen sind einzigartig. Wenn Fremde einander näherkommen wollen, müssen sie sich kennenlernen. Neugierig sein auf das, was sie unterscheidet, und Gemeinsames entdecken. Dabei gibt es manchmal Angst. Und immer wieder große Freude: Zu Gast im Sharehaus Refugio.
Der Schriftsteller Sven Lager versteht die Ängste der Menschen vor dem Fremden und Ungewohnten. Besonders jetzt, wo die Welt näher zusammenrückt. „Ich will kein Gutmensch sein“, sagt der 50-Jährige, der ebenso herzlich wie gelassen wirkt. Das „Sharehaus Refugio“, das im Juli als Projekt der Stadtmission in Berlin-Neukölln eröffnet wurde, versteht er nicht als Sozialprojekt. „Was wir hier zu leben und auch vorzuleben versuchen, ist schlicht Gemeinschaft.“
20 Einheimische wohnen seit Sommer mit 20 Flüchtlingen gemeinsam unter einem Dach. Vor der Zimmervergabe gab es Gespräche. Wie möchtest du dich einbringen? Was weckt Begeisterung in dir? „Die gemeinsame Idee für eine Sache zeigt oft überraschende Schnittmengen“, sagt Lager. An was er dabei denkt, an die Fahrradwerkstatt im Keller, den nachmittäglichen Nachhilfeunterricht für Flüchtlingskinder, den gemeinsam bewirtschafteten Dachgarten oder an die feierlichen „long tables“, bei denen die Bewohner an einer Tafel sitzen und Selbstgekochtes verspeisen?
Es gibt hier viele Möglichkeiten. Miriam Kehrberger, 21, geht jetzt jeden Mittwoch mit zwei Afghanen zum Fußball. Die Studentin, die sich selbst „eher schüchtern“ nennt und mit vorsichtiger Stimme spricht, findet es toll, dass es in der Gemeinschaftsküche jetzt statt Nudeln auch mal Reis, Auberginen, Hühnchen gibt. Manchmal bilden sich spätabends Grüppchen, beim Tee. „Die Gespräche, die sich früher vor allem ums Studium gedreht haben, sind jetzt viel weiter geworden.“
Benno Hinkes, 39, ist hauptberuflich Bildhauer. Manchmal unterbricht er jetzt seine Arbeit, um zu helfen. Gestern zum Beispiel war er mit einem neu angekommenen syrischen Paar zur Anmeldung für einen Sprachkurs auf dem Amt. Er sieht noch die Frau mit diesem Zettel in der Hand, auf dem steht, wohin sie nun dreimal die Woche zum Deutschlernen kommen soll. Sieht ihre leuchtenden Augen, hört sie sagen: „Dreimal! Das ist ja wunderbar!“
So wird Liebe sichtbar
Wie kommen sich Menschen also wirklich nahe? „Man muss sich selbst hinterfragen“, sagt Lena Krauthäuser, 16, die ein Praktikum im Sharehaus macht. Anfangs hat sie, die einen Nasenring und lange, grell-grün lackierte Nägel trägt, das gestört: dass sich von den Flüchtlingen offenbar fast nur Frauen um die Kinder kümmerten. Dann aber sah sie, immer wieder, wie Männer sich im Gespräch zu ihren Frauen stellen und wie liebevoll jeweils er seinen Arm um sie legt. Nie zuvor hat Lena gesehen, dass Liebe so sichtbar gemacht wird. „Bei uns Deutschen jedenfalls, so scheint mir, gibt es dieses deutliche Sich-Bekennen nach außen weniger.“
Für Sven Lager war vor allem die Zärtlichkeit der somalischen Männer untereinander eine Überraschung. „Von diesem Umgang miteinander können wir lernen.“ Er hat schon in Südafrika und Thailand gelebt und weiß, dass man bestimmte Verhaltensweisen nicht vorschnell kommentieren sollte. Die Thais zum Beispiel lachten, wenn sein kleiner Sohn sich irgendwo angestoßen hatte. Lachten sie ihn aus? Mit der Zeit wurde klar: Lachen wird dort auch eingesetzt, um den anderen das Gesicht wahren zu lassen. Auf jeder Fernreise können wir beobachten: Was hier als höflich gilt, kann woanders der berühmte Tritt ins Fettnäpfchen sein.
Der interkulturelle Trainer und Coach Klaus Steinkemper beschäftigt sich tagtäglich mit der Gefahr von Missverständnissen. Während des Studiums wurde ihm klar: Wie ich fremde Kultur wahrnehme, das kann eine große Täuschung sein. Damals saß er mit den anderen Teilnehmern im Halbkreis. „Ihr befindet euch auf einer imaginären Insel, sollt eure Beobachtungen später auf einer Postkarte nach Hause mitteilen“, lautete die Aufgabe.
Zuerst betritt ein männlicher Rollenspieler aufrecht den Halbkreis, eine weibliche Spielerin folgt gebückt. Dann gibt es Erdnüsse. Der Mann sitzt auf einem Stuhl und greift als Erster mehrfach in die Schüssel. Dann erst darf die Frau, die auf dem Boden sitzt, sich nehmen. „Krasse Unterdrückung“ oder „total hierarchisch“, waren die Bewertungen in der Runde, sagt Steinkemper. Und erinnert sich, wie der – übrigens frei erfundene – Ritus schließlich erklärt wurde: Die Erdgöttin sei weiblich, daher das Privileg für die Frau, sich näher an ihr zu bewegen. Erdnüsse seien eine rituelle Speise. Männer haben die Pflicht, alle Speisen zuerst zu probieren. Sie könnten giftig sein, der Mann kostet vor – um die Frau zu schützen.
Warum Vorurteile wichtig sind
„Jeder Mensch hat Vorurteile“, sagt Steinkemper. Ohne müssten wir vor jeder Entscheidung ganz genau hinschauen und abwägen. Vorurteile ermöglichen schnelles Handeln, sind eine wichtige Orientierungshilfe. Der Haken dabei: „Sie verhindern, in Kontakt zu treten.“
Das Team eines Krankenhauses, in das zunehmend Patienten mit Migrationshintergrund kamen, spürte das – und wollte gegensteuern. Was heißt das, wenn jemand ständig Besuch hat? Ist er laut und rücksichtslos? Nein, es bedeutet vielleicht, dass dieser Mensch viel stärker in Gemeinschaft lebt als wir und das auch für sein Wohlbefinden braucht.
„Unsere Kultur ist individualistisch geprägt“, so Steinkemper. Bei uns sind Mütter der Ansicht, ein Neugeborenes soll von zu vielen Reizen abgeschirmt werden. Nebenan wird ein Baby aus einem anderen Land durch zahlreiche Hände gereicht, es wird gelacht, der Geräuschpegel ist hoch. Welten, die aufeinanderprallen und manchmal zum Konflikt führen. Patentrezepte gibt es leider nicht, so Steinkemper. Doch je mehr verschiedene Kulturen aufeinandertreffen, desto weniger hilft es, bestimmte Verhaltensweisen mithilfe von Faustregeln lexikonartig übersetzen zu wollen. Hier sind Dialog und gegenseitiges Verstehen-Wollen gefragt.
Fragen und verstehen
In Kontakt treten braucht Zeit, dann geht vieles leichter. Etwa wenn verstanden wird, dass die Vorbehalte des Patienten, der sich nicht von der weiblichen Pflegekraft waschen lassen will, mit Intimität und Scham zu tun haben. „Der respektiert mich nicht.“ Mit dieser Meinung ist die Pflegerin künftig vielleicht vorsichtiger. Oder, noch besser: Sie fragt nach.
Wie bei der türkischen Patientin, die anhaltend über Leberschmerzen klagt, obwohl alle Untersuchungen dafürsprechen, dass das Organ gesund ist. Denn Leberschmerzen sind in manchen Kulturen Ausdruck tiefer Traurigkeit. Überhaupt werden einige Kulturen Krankheiten eher beispielsweise magisch-religiös erklären als naturwissenschaftlich-kausal wie bei uns üblich.
Dieses Wissen kann helfen – genau wie das Wissen darum, dass zahlreiche Forschungsarbeiten zu dem Ergebnis kamen, dass alle Menschen Basisemotionen emotional überall in der Welt gleich empfinden. Freude ist Freude, Angst ist Angst – in Papua-Neuguinea wie in Paderborn.
Wertschätzung statt Angst
Menschen zu hören, die hier erste Antworten gefunden haben, das macht Mut. „Wir spüren deutlich, wie das Klima im Land sich ändert“, sagt zum Beispiel Aletta von Hardenberg, Geschäftsführerin des gemeinnützigen Vereins Charta der Vielfalt. Plötzlich passiert, was noch vor Kurzem undenkbar schien: Unternehmen bieten in Absprache mit öffentlichen Einrichtungen Sprachkurse an. Konzerne stellen gezielt Flüchtlinge ein. Firmen machen Betriebsräume als Unterkunft frei.
Sie kommt ins Schwärmen, wenn sie erzählt, was sich seit Gründung des Vereins vor neun Jahren getan hat. Von einer Reise spricht sie, zu der wir uns aufmachen müssten. Von einer Reise weg von Angst- und Defizitdenken hin zu mehr Wertschätzung für den Einzelnen und seine Besonderheit.
Wie Integration selbst dann gelingen kann, wenn Menschen aus unterschiedlichen Nationen zusammentreffen, zeigt das Kunst-, Film- und Theaterprojekt „Berlin interkulturell“ vom Jugendbund Deutscher Regenbogen. Was geschieht zwischenmenschlich, wenn sieben Schüler zwischen 17 und 20 lernen wollen, wie man einen Film dreht? Die Leiterin Juliane Marquardt, 33, erzählt von Johanna aus Berlin und von Alexander aus Argentinien. Während Johanna schon in der Vorstellungsrunde in vielem auf den Punkt kam, wollte Alexander erst mal vor allem eines: Tee trinken. Zu jedem Treffen brachte er eine Bambustasse, einen metallenen Trinkhalm und eine Kanne Matetee mit, aus der er immer wieder nachgoss.
Klaus Steinkemper weiß, dass das zielgerichtete deutsche Arbeiten im Widerspruch zum „Erst-mal-Plaudern“, sprich Beziehungen aufbauen anderer Kulturen steht. „Wir kennen uns doch gar nicht, können doch hier nicht gleich loslegen“, fand ein Sozialarbeiter aus Ghana bei einem Training. Und brachte die Gruppe dazu, sich den kompletten ersten Seminartag lang anfangs ein paar Stunden nur mit Small- Talk-Themen zu beschäftigen: Wie ist das Wetter? Die weltpolitische Lage? Wie geht es deiner Familie? Der Austausch über das eigentliche Thema sei danach intensiver und persönlicher als sonst gewesen.
Ähnlich beim Filmprojekt. Juliane Marquardt erzählt, wie die Bambustasse irgendwann reihum gewandert ist. Und wie extrem produktiv die Kursteilnehmer abseits der Teepausen waren. Für die interkulturelle Pädagogin selbst der noch größere Erfolg: wie die Teilnehmer in sechs Monaten zusammengewachsen sind. „Eine Botschaft“ nennt Juliane Marquardt das. „Botschafter“ sind für Sven Lager auch die Bewohner des Sharehauses.
Zum Beispiel Alex, 37, der vor einem Jahr aus Syrien nach Deutschland kam und dessen Stimme beim Erzählen mal fest und entschlossen klingt, dann wieder zittert. Aufgefangen gefühlt hat er sich in Deutschland, es gab zu essen, ein warmes Bett. Aber er war ein Fremder. Die Gesichter der Menschen auf den Straßen zeigten das. Inzwischen gibt er selbst Essen für Wohnsitzlose aus. Für viele von ihnen ist das verkehrte Welt: Du bist doch Syrer – wieso hilft du denn uns?
Ehrlich mit sich selbst sein
„Machen wir uns nichts vor“, sagt Sven Lager, „nicht jeder kann so etwas.“ Wie viel Nähe ist gut für mich? Wie viel kann ich geben? Ehrlich mit sich sein sei der erste Schritt von Nähe. Ich bin ein ruhiger Mensch, und genau das kann ich geben: Ruhe. Auch so könne es gehen. Lager gibt zu: Die letzten Monate seien auch ein Opfer gewesen. Bevor es das Sharehaus Refugio gab, haben er und seine Frau eine Vierzimmerwohnung bewohnt. Jetzt machen sie es wie alle anderen, haben ein Zimmer. „Wenn ich mehr Liebe will, muss ich mehr lieben. Ich darf keine Rechnungen aufmachen. Nur weil ich gerade etwas gespendet habe, Geld, Zeit oder was auch immer, hab ich ja kein Minus auf meinem Konto.“
Hoffnung und Wärme bestimmen das weitere Leben
Können wir das schaffen? Edith Kiesewetter-Giese ist 80 und stammt aus dem Sudetenland. Die Berlinerin mit dem kurzen, silbergrauen Haar und den großen klugen Augen erinnert sich an die Zeit, als ihre Familie aus der Heimat vertrieben wurde. Es erstaunt, eine Frau, die so etwas als Zehnjährige erlebt hat, hier so lebensfroh sitzen zu sehen. Edith Kiesewetter-Giese ist keine, die den erhobenen Zeigefinger mag. Sie will einfach nur erzählen.
Von diesem wunderbar warmen Kachelofen in der Stube und dem frischen Brot und den in Stückchen geschnittenen Äpfeln zum Beispiel. Oder von dem fremden Ehebett, in dem sie übernachten durften, die Mama, der Papa, die Schwester und sie, während die Leute, die sie zu sich mitgenommen hatten, auf der Couch schliefen. Acht Wochen Fußmarsch mit Hunger, Erschöpfung und Angst hatte die Familie da hinter sich. Edith Kiesewetter-Gieses Gesicht verrät, wie groß die Verzweiflung gewesen sein muss. Aber schon im nächsten Moment erzählt es von Hoffnung und Wärme.
Über Felder sind sie zu einem kleinen Dorf gelaufen, in dem das fremdes Paar lebte, das sie angesprochen hatte, einfach so. „Diese Familie, ihr Mitgefühl und ihr Mut haben mein weiteres Leben bestimmt“, davon ist Kiesewetter-Giese überzeugt. „Unser guter Start hat sich wie ein roter Faden durch meine spätere Biografie gezogen“, sagt die 80-Jährige. Darum will sie zurückgeben. Das Schicksal der vielen Tausend Menschen, die jetzt nach Deutschland kommen, berührt sie. Beim Weltflüchtlingstag kam ihre Rede im Anschluss an die des deutschen Bundespräsidenten. „Unsere Traditionen und Werte stießen auf Vorbehalte“, sagte sie. „Auf Vorbehalte, die die Menschen überwunden haben“, sagt sie jetzt. Vom Sharehaus hat sie gehört. Die Idee gefällt ihr. „Vielleicht“, so sagt sie, „muss ich da ja mal hin.“