In dieser Geschichte wird es um einen Glücklichen im Unglück gehen, der unglaubliche 40 Minuten vom Himmel stürzt; Hamlet wird in diesem Text auftauchen, die Ukulele, der Schriftsteller und frühe Aussteiger Henry David Thoreau, außerdem geht es um einige Wolken, deren Namen man sich nur schwer merken kann. Und vor allem um Gavin Pretor-Pinney, den Wolkengucker. Als den „Typ mit den Wolken“ kennt man den 48-jährigen Pretor-Pinney an seinem Wohnort, dem südenglischen Dorf Somerton, und in gewissen internationalen Kreisen.
Jetzt steht er auf einem Hügel wenige Kilometer von seinem Haus entfernt, sein Blick geht gen Westen, Richtung Atlantik, unter ihm die grüne, flache Heckenlandschaft Südenglands, über ihm ein blauer Himmel mit belebter Wolkenlandschaft. Umstände, unter denen Pretor-Pinney gerne predigt. „Und jetzt denken Sie sich alle Wolken weg. Wie langweilig! Dieser Blauer-Himmel-Kult ist doch lächerlich. Weil Wolken in ihrer Unberechenbarkeit oft unsere Pläne durchkreuzen, wurden sie zu Metaphern für Chaos, Depression, Krisen, drohendes Unheil. Aber wie arm wäre das Leben ohne sie. Diese majestätische Architektur, diese Wildheit! Ganz davon abgesehen, dass sie den Lebensstoff schlechthin bringen, ohne den wir keine drei Tage überleben. Würden wir öfter auf das Wolkenspiel schauen, würden die Last, die Sorgen unseres Alltags kleiner.
Wolken sind die Poesie der Natur, sie beflügeln unsere Fantasie, der Anblick dieser Zuckerwattehaufen tut der Seele gut, ihre Schönheit entspannt. Wolkengucken ist ein herrlich zweckfreier, lebensbejahender Zeitvertreib, sie laden ein zum Innehalten, zur täglichen Meditation. Als Kind war ich übrigens davon überzeugt, dass Männer mit langen Leitern von diesen Wolken Baumwolle ernten.“
Vom kreativen Müßiggang
Inzwischen liegt er flach auf dem Rücken im Gras, den Dialog zwischen Shakespeares Hamlet und dessen kriecherischem Höfling Polonius zitierend: Hamlet: Seht Ihr die Wolke dort, beinah in Gestalt eines Kamels? Polonius: Beim Himmel, sie sieht auch wirklich aus wie ein Kamel. Hamlet: Mich dünkt, sie sieht aus wie ein Wiesel. Polonius: Sie hat einen Rücken wie ein Wiesel. Hamlet: Oder wie ein Walfisch? Polonius: Ganz wie ein Walfisch.
„Jeder Wolkengucker“, fährt Pretor-Pinney im Liegen fort, „der zu vernünftig geworden ist, um in den Wolken Formen zu erkennen, sollte seine Prioritäten neu ordnen. Er sollte seine vernünftigen Gedanken zur Seite schieben und den Grillen in seinem Kopf folgen. Ist es nicht toll, dass man für diese kostenlose Inspiration nicht um die halbe Welt reisen, sondern nur vor die Tür treten oder aus dem Fenster schauen muss? Ich hoffe, jeder, der das tut, sieht dann nicht nur, was man ihm zu sehen befiehlt, sondern entdeckt seine eigenen Wunschbilder, folgt seinen eigenen Fantasien und Ideen.“
Über den anregenden Müßiggang
Gavin Pretor-Pinney ist ein junger freischaffender Grafikdesigner in London mit Hang zum Kontemplativen, als er Anfang der 90er-Jahre mit einem Freund „The Idler“ ins Leben ruft, ein kommerziell eher mageres, aber höchst kultiges Lifestyle-Magazin, das den Müßiggang zelebriert, vom Brotbacken bis zum erfüllenden Schlafen, vom langsamen Fahrradfahren bis zum Blätterfangen im Herbst. „Der Müßiggang regt an, Ideen in sich zu entdecken“, ist Pretor- Pinney überzeugt.
Bevor man an dieser Stelle auf den Gedanken kommt, da rufe einer zum allgemeinen Faulenzen auf, sei gesagt, dass Gavin Pretor-Pinney ein multineugieriges Multitalent ist. In Oxford studiert er Physik und Philosophie, später auch Psychologie, wechselt dann auf die Kunsthochschule und wird freier Grafikdesigner, einer seiner ersten Auftraggeber ist der Stararchitekt Norman Foster. Während eines Sabbaticals in Rom entdeckt er in den Fresken der Kirchen und in den Bildern der Museen die Wolken für sich; wie schon als Kind, als er oft in seiner eigenen Welt versank, versinkt er jetzt in den Wolken, spürt sie in der Literatur auf, in der Musik, der Wissenschaft, den Religionen, der Mythologie.
Der Verein der Wolkenfreunde
Zurück in England, hält er bei einem kleinen Literaturfestival einen Vortrag über sein neues Thema und ruft dabei – mehr im Spaß – den „Verein der Wolkenfreunde“ ins Leben; dessen bald darauf eröffnete Website erzeugt einen unerwarteten, stetig wachsenden Strom an Fragen, Wolkenfotos, neuen Wolkenfundstellen in der Kunst, wissenschaftlichen Hinweisen aus aller Welt, und dieser Strom beschäftigt außer ihm inzwischen auch seine Frau und zeitweise freie Mitarbeiter.
Von Australien bis Kurdistan und Kanada zählen heute mehr als 40.000 zahlende Wolkengucker zur Cloud Appreciation Society. 2006 folgt sein sehr persönlich geschriebenes Wissenschaftsbuch „The Cloudspotter’s Guide“, das inzwischen in mehr als 20 Sprachen übersetzt worden ist (die deutsche Ausgabe heißt „Wolkengucken“).
Eine Symbiose von Wissenschaft und Kunst
Auf dem Hügel über der grünen Ebene und unter dem belebten Wolkenhimmel in Südengland sagt der Wolkengucker Gavin Pretor-Pinney, er wolle die Kluft zwischen der Wissenschaft und der Kunst überbrücken helfen. „Ich versuche immer beide Perspektiven einzunehmen – die ästhetische und die naturwissenschaftliche. Der Himmel eignet sich dafür sehr gut, weil es einerseits um physikalische Phänomene geht, die den Gesetzen der Natur unterworfen sind; Wolken sind schließlich eine Ansammlung von Wasserteilchen.“
Andererseits sei das Geschehen derart dynamisch und kaum vorhersehbar, dass darin eine magische Qualität liege: „Diese fortwährende Metamorphose ein- und desselben Stoffs – Wasser – von gasförmig und unsichtbar zu sichtbar und spürbar, ist faszinierend“, findet Pretor-Pinney. „Wolken entstehen scheinbar aus dem Nichts, verändern sich pausenlos, verschwinden wieder im Nu. Das ist geheimnisvoll schön.“
Ihm fällt ein Zitat von Henry David Thoreau ein, dem amerikanischen Poeten, Naturanbeter und Wolkenfan: „In der Natur gibt es nichts Schöneres als Sonnenlicht, zurückgeworfen von einer Wolke, die den Tränen nah ist.“ Und der sich in seinem Tagebuch ereiferte, die wissenschaftliche Sicht auf den Sonnenuntergang spreche seinen Verstand an, aber nicht seine Fantasie: „Denn diese rote Vision erregt mich, beschleunigt meinen Puls, lässt meine Gedanken fließen.“ Ach, bedeutet Pretor-Pinney, als wahrer Wolkenenthusiast könne man über solchen Debatten schweben und beides bestaunen – das Verhalten der Wassermoleküle und die dabei entstehende flüchtige Schönheit und unfassbare Naturgewalt.
Im Inneren der Gewitterwolke
Und dann erzählt er die Geschichte des amerikanischen Piloten William Rankin, der sich 1959 in 14 Kilometer Höhe über Virginia mit dem Schleudersitz aus seiner Maschine katapultierte und in einen Kumulonimbus geriet, eine Gewitterwolke, in der die Energie mehrerer Atombomben stecken kann. „Von außen wirken sie majestätisch, aber im Inneren tobt eine entfesselte Gewalt mit Starkwinden, Hagel, Blitzen, Tornados“, erklärt der Wolkenwissende. In diese Wolke sprang der Pilot im leichten Fliegeranzug mit dem Fallschirm bei etwa minus 50 Grad. Er raste durch die Dunkelheit, die Luftströme in der Wolke rissen ihn in die Höhe, er wurde 40 Minuten lang zu ihrem Spielball, dem Hagelkörner auf den Körper prasselten. Bis er in einem Wald landete, mit Erfrierungen und blauen Flecken. „Gestern gab es hier auch Kumulonimbuswolken“, sagt Pretor-Pinney auf dem Hügel, „aber sie waren natürlich viel kleiner.“
Der Boden unter den Füßen
Nach seinem Wolkenbuch hat der Selfmade-Autor noch eines über die Ukulele geschrieben und eines über Wellen aller Art, von Wasserwellen über elektromagnetische Wellen bis zu Druck- und Schallwellen, für das er einen renommierten Preis für Wissenschaftsbücher erhielt. „Je mehr man sich auf Dinge einlässt, umso interessanter werden sie“, sagt Pretor- Pinney, „vor allem Naturthemen, für die wir den Blick verloren haben.“ Ihn interessiere zum Beispiel auch der Boden unter seinen Füßen brennend, sagt er auf dem Hügel stehend, wenn man nur einen Kubikmeter Erde genau anschaue, sei das nicht mehr so langweilig, wie es zuerst klinge. „Dann öffnet sich ein Kosmos.“ Der ihm aber wohl doch verschlossen bleibt. „Mein Thema sind für absehbare Zeit die Wolken.“