„Wenn man in einen Wald eintritt, so ist es, als trete man in das Innere einer Seele“, schrieb der französische Dichter Paul Claudel. Ob bei einem großen Fest oder auf einer einsamen Wanderung: Der Wald lebt. Wir können das spüren.
Es ist still im Wald. Still – und doch lebendig. Vögel zwitschern, Blätter rauschen, und durch die Wipfel sickert grüngedämpftes Sonnenlicht. Der feuchte Boden federt sanft unter unseren Füßen. Oder sind wir es selbst, die plötzlich federn? Kaum sind wir im Wald, atmen wir tiefer. Alltagsstress und Kummer perlen ab wie die Regentropfen von einem Buchenblatt. Wir lauschen, atmen tief ein, spähen ins raschelnde Gebüsch. Sind abgelenkt und doch ganz bei uns.
Körper und Seele brauchen Natur
Als Kinder hat man uns zum Spielen nach draußen geschickt. Als Erwachsene müssen wir uns selbst aufmachen, zum Spazieren im Wald, zum Wandern oder vielleicht sogar zu einem mehrtägigen Festival unter Baumkronen. Das Eintauchen ins Grüne tut uns gut, das spüren wir intuitiv.
Doch es ist mehr als ein Gefühl: Seit einigen Jahren bestätigt die moderne Wissenschaft, wie sehr Körper und Seele vom Kontakt mit der Natur profitieren. Studien zeigen, dass eine Auszeit im Wald unsere Konzentration, das Kurzzeitgedächtnis und die Stimmung verbessert. Schon nach einer Viertelstunde sinkt deutlich das Level von Stresshormonen; der Blutdruck wird niedriger und der Herzschlag ruhiger.
Es mangelt also nicht an Belegen dafür, dass die Natur sich wohltuend auf Körper und Psyche auswirkt.
Die Fragen der Wissenschaft
Trotzdem bleiben den Wissenschaftlern Fragen, Fragen, Fragen – fast so viele wie Bäume im Wald. Wie lassen sich die positiven Effekte erklären? Was ist es genau, das uns im Wald so guttut? Die Luft oder die Bewegung? Oder setzt das Betrachten bestimmter Farben oder Formen in unserem Gehirn Botenstoffe frei, die zur Entspannung beitragen?
Evolutionsbiologen glauben, dass die tiefe Bindung zur Natur in uns genetisch verankert ist. Über Millionen Jahre hielt der Mensch sich überwiegend im Freien auf, und dafür sind unsere Sinne bis heute angelegt. Doch inzwischen verbringen wir die meiste Zeit in Gebäuden, blinzeln ins Kunstlicht, atmen Heizungsluft. Dazu kommt, so die amerikanischen Umweltpsychologen Rachel und Stephen Kaplan, dass heute fast ununterbrochen unsere „zielgerichtete Aufmerksamkeit“ gefragt ist: Wir brauchen sie, um Zahlenkolonnen am Computer abzuarbeiten oder das Auto sicher durch den Verkehr zu lenken. Doch regelmäßig erlahmt unsere Konzentration, und die Aufmerksamkeitsreserven sind erschöpft.
Anstrengungslos aufmerksam sein
In der Natur finden wir neue Kraft, weil sie unsere Sinne weder über- noch unterfordert, vermutet das Forscherehepaar Kaplan. Sie nennen es „soft fascination“ („weiche Faszination“), wenn wir beim Waldspaziergang den Blick über knorrige Eichen schweifen lassen oder Wildblumen bewundern. Die sanfte Ästhetik zieht uns zwar in ihren Bann, aber sie ermüdet uns nicht. Wir werden „anstrengungslos aufmerksam“ – und können dieses gute Gefühl eine Zeit lang in unseren Alltag retten.
Waldbaden und Heilungswälder
Einige Länder setzen inzwischen gezielt auf die wohltuende Kraft des Waldes. In Japan wird „Shinrinyoku“, also das „Waldbaden“, als therapeutische Anwendung anerkannt und von Krankenkassen bezahlt. Oft schicken Firmen ihre gestressten Mitarbeiter zwei oder drei Tage in die Wälder, wo sie spazieren gehen, Entspannungstraining machen und einfach die Natur auf sich wirken lassen. Auch in Südkorea entstehen immer mehr „Heilungswälder“: In ihnen arbeiten speziell ausgebildete Ranger, die Kinder, Büroarbeiter oder Rentner bei ihren Ausflügen ins Grüne begleiten.
Das gibt es bei uns (noch) nicht – und womöglich ist es hier auch gar nicht nötig: Beinahe ein Drittel Deutschlands ist von Wäldern bedeckt, fast immer locken Fichten, Kiefern und Buchen nicht weit vor unserer Haustür. Sie wippen einladend mit ihren Ästen – und wir müssen nur losspazieren und genießen. Der Wald ist ein Glücksort, der wie ein wundersames Heilmittel wirkt. Seine einzige Nebenwirkung? Matschige Schuhe.
Buchtipps
Richard Louv,
„Das Prinzip Natur“: Der Journalist und Umweltaktivist zeigt, wie die Natur zum Ruhepol im hektischen Alltag wird und wie wir ihre Kräfte nutzen können.
Peter Wohlleben,
„Das geheime Leben der Bäume“: Der Autor ist Förster und erzählt, welch ungeahnte Fähigkeiten in Tannen, Birken oder Eichen stecken.
Henry David Thoreau,
„Walden oder Leben in den Wäldern“: Der Naturphilosoph berichtet, wie er 1845 eine Waldhütte baute und dort im Einklang mit der Natur lebte. Wie kann man wirkliche Freiheit erlangen?
Kraftort Natur
Für den Fotograf Jewgeni Roppel ist der Wald einer von vielen kraftvollen Orten. In einem Langzeitprojekt beschäftigen ihn Natur, Spiritualität, Transzendenz und Heilung in Westsibirien.
Zur Person
Jewgeni Roppel, geboren 1983 in Kasachstan, ist Fotograf und beschäftigt sich in seinen Langzeitprojekten mit dem Menschen und seiner Beziehung mit der Natur. Dabei interessieren ihn die Sehnsucht und die Suche nach neuen Utopien. Er studierte Fotografie & Medien (M.A.) an der FH Bielefeld und recherchierte über neue spirituelle Bewegungen in Sibirien. Seine Arbeiten werden international ausgestellt und wurden mit Preisen ausgezeichnet, zuletzt mit Gute Aussichten, neue deutsche Fotografie 2015/16.