Nach einem Herzinfarkt begann Alvaro Abreu, Löffel aus Bambus zu schnitzen. Fast jeden Tag, in 20 Jahren mehr als 4000 Stück. Das Ritual gibt dem Leben des Brasilianers einen neuen Rhythmus und einen tieferen Sinn.
Selbst direkt nach Weihnachten gönnt sich Alvaro Abreu, keine Pause. Es ist sieben Uhr morgens, als der Brasilianer an der Universität von Vitória zum Unterricht erscheint. Doch zwischen den Jahren ist kein Student da. Zum Glück, wird er später sagen, denn so kann er umkehren und seine Frau Carol bitten, ihn zum Arzt zu bringen. Zwar hat er nicht mehr diese starken Schmerzen in der Brust, mit denen er morgens erwacht ist, aber er fühlt sich schwach und beklommen. Der Arzt schickt ihn ins Krankenhaus, dort zeigt das Röntgenbild mehrere verstopfte Arterien – ein Herzinfarkt. Es gelingt den Medizinern, sein Leben zu retten. Doch als Alvaro Abreu Silvester nach Hause darf, endet nicht nur das Jahr 1994. Es endet auch sein Alltag, wie er ihn kannte. Stress. Immer unter Strom, Arbeit rund um die Uhr.
Ein Jahr zuvor erst hat sich der Wirtschaftsingenieur, der nach dem Studium für das Bildungsministerium und später für eine Bank tätig war, mit einem Freund selbstständig gemacht und ein Beratungsunternehmen gegründet. Er saß zu viel im Büro, ernährte sich nicht gesund und rauchte viel zu viel. Seine Cholesterinwerte waren besorgniserregend. Seine Frau und die fünf Kinder sahen ihn kaum – einen Fels von einem Mann, hoch aufragend, stattlich, immer in Aktion. Nun ist er mit 46 Jahren auf einmal zu Hause, ängstlich, abhängig, grüblerisch. „Es dauerte einige Monate und kontinuierliche Behandlung, ehe ich begriff, dass ich nicht plötzlich an einem Herzleiden sterben würde“, erinnert sich Abreu.
Die Wandlung
Zwei Dinge helfen ihm in dieser Zeit, wieder auf die Beine zu kommen. Das eine ist das Buch eines amerikanischen Kardiologen, der zeigte, wie ein veränderter Lebensstil kranke Herzkranzgefäße heilen könnte. „Ich hatte einen Teil meines Herzens verloren“, sagt Abreu. „Also beschloss ich, seinen Worten zu glauben, auch wenn es lange dauern und all meinen Willen erfordern würde.“
Er ernährt sich ausgewogener, beginnt im Haus umherzugehen, dehnt den Radius auf die Straßen in der Umgebung aus, später bis zum nahen Strand. Er fängt mit Yoga an, um seinen Geist zu beruhigen und seinen Körper zu kräftigen, und entwickelt eine Wertschätzung für die schönen Augenblicke des Alltags. Und er gibt das Rauchen auf. Es heißt, wenn jemand erkrankt, wachsen in seiner Umgebung genau die Pflanzen, die er benötigt, um gesund zu werden.
Der Vertraute aus der Kindheit
Just in dieser Zeit, in der seine Hände, der Zigaretten beraubt, nach einem neuen Halt suchen, begegnet Abreu einem alten Vertrauten aus der Kindheit. Der Herzinfarkt liegt drei Monate zurück, als er einen Freund auf dessen Farm besucht. Beim Umherschlendern schneidet Abreu gedankenverloren einen großen Zweig von einem Bambusstrauch ab, legt mit dem Taschenmesser die verschiedenen Schichten bloß und erinnert sich plötzlich, wie es sich anfühlt, das schlanke Holz zwischen den Fingern zu spüren – wie zuletzt als Junge, als er biegsame, aber robuste Angelruten daraus hergestellt hatte.
„Dieses Wiederentdecken war so elementar, da hat es innerlich Klick gemacht. In mir entstand eine tiefe Sehnsucht, Bambus wie früher mit dem Messer zu bearbeiten, aber ohne eine Absicht“, erzählt Abreu. Diesmal würde er keine Fische fangen, diesmal würde es um das Tun als solches gehen, um den Prozess. Wohin auch immer er ihn bringen würde. Abends schläft er mit dem Gedanken an den Bambus ein, und als er morgens erwacht, kann er es kaum erwarten, das dicke, einen halben Meter lange Holzstück vom Vortag in die Hand zu nehmen, zu bearbeiten, zu erforschen.
Warum dabei ein Löffel herausgekommen ist und inzwischen mehr als 4000 folgten, von denen etliche in Ausstellungen in Brasilien, in Deutschland und zuletzt 2015 im schweizerischen Winterthur zu sehen waren (dort zusammen mit großformatigen Aufnahmen des Hamburger Fotografen Hans Hansen), kann ihr Schöpfer selbst nicht beantworten. Er zitiert stattdessen den bekannten Goldschmied Hermann Jünger, der als Professor an der Akademie der bildenden Künste in München lehrte und aus aller Welt eine Löffelsammlung zusammengetragen hatte. „Der Löffel“, so habe dieser gesagt, „bringt uns zurück zum Ursprung. Er ist eines der ersten Objekte, die der Mensch im Leben benutzt: Er wird damit von seiner Mutter gefüttert.“
Der Löffelmacher
Aus Alvaro Abreu, dem pausenlos Arbeitenden, wird Alvaro Abreu, der Löffelmacher. So nennt er sich gerne selbst. Einfach einer, der viele Löffel herstellt, große und kleine, lange und kurze, breite und schmale, alle vom gleichen Wesen und doch grundverschieden. Lauter Löffelpersönlichkeiten. Längst kann er „die Begrenzungen jedes Holzstücks respektieren“ und zugleich seine Eigenarten herausarbeiten. Mit schrägen Schnitten lockt er elliptische Maserungen hervor, bei einem Längsschnitt zeigen sich hauchzarte Linien, und schneidet er quer ins Holz, entstehen dunkle Flecken. Am Anfang schnitzt er, weil es ihn mit Freude erfüllt, das Messer in das Holz eindringen zu sehen – und er wieder etwas bewirken kann.
Er bekommt Muskelkater im Arm von den gleichförmigen Bewegungen. Manche sind unkontrolliert und machen vorherige Arbeit zunichte, weil sein Körper noch zu schwach ist. Er entdeckt, dass er zwischen verschiedenen Werkzeugen wechseln muss. Um tief ins Holz zu schneiden und die Rohform eines Löffels zu erhalten, nimmt er am liebsten die scharfe Sichel, die einst die Feder eines Lastwagens war. Für nach innen gewölbte Oberflächen, „das sind die schwierigsten“, verwendet er ein Hohleisen. Zum Schneiden, Schaben, Glätten verschiedene kleine Messer, für die letzte Politur Glasscherben – wie er es einst in der Kindheit gelernt hat.
Mit der Flamme eines Gaskochers beschleunigt er den Trocknungsvorgang, der sonst einen zuvor geraden Bambus für immer krümmen kann. Die Hitze lässt zudem einen Saft aus der Faser austreten, der die Oberfläche glänzen lässt, wenn er ihn mit einem feuchten Tuch verteilt. „Der intensive, süßliche Geruch, der dabei aus der Küche drang, führte zu freundlichen Protesten meiner Familie“, lächelt Abreu. Seither darf er für kleine Löffel die Mikrowelle benutzen.
Bis heute steht seine Werkbank im Wohnzimmer, wo die Familie oft beisammensitzt. „Ich liebe es aber auch, morgens aufzustehen und allein in der Stille die Bambusstücke zu putzen, meine Werkzeuge zu reinigen, mir das Stück anzuschauen, das ich an diesem Tag bearbeiten möchte, und dann zu beginnen“, berichtet Abreu. „Ich kann Stunden damit zubringen, oder ich gehe an den Strand, nehme etwas Bambus und ein kleines Messer mit und schnitze dort.“
Keine starre Routine
Drei Jahre nach seinem Herzinfarkt hat er auch wieder begonnen zu arbeiten, inzwischen geht er nachmittags kurz in sein Unternehmen und schaut nur nach dem Rechten: „Ich bin im Oktober 68 geworden, und ich glaube, ich darf das jetzt.“ An manchen Tagen will Abreu keine Löffel sehen. Dann liest er Zeitung, repariert Dinge im Haus oder Spielzeuge seiner sechs Enkel, kocht, schreibt eine Kolumne für die Lokalzeitung oder geht Kanu fahren.
Er will sich keine starre Routine mehr auferlegen. An den meisten Tagen aber zieht es ihn zum Bambus. „Es ist dann genau das, was ich tun möchte“, sagt Abreu. Wie viele Menschen müssen ihr Leben mit Tätigkeiten verbringen, die ihnen nicht gefallen! „Wenn ich mit rhythmischen, wiederholten Bewegungen den Bambus bearbeite“, so Abreu, „kommen meine Hände direkt in Harmonie mit meinem Herzen, und ich bin mir sicher, dass dies mich ruhig werden lässt und einen günstigen Einfluss auf mein Herz hat. Besonders wenn ich einen Löffel für jemand schnitze, den ich mag.“
Rund tausend Löffel hat er bereits verschenkt. Sie zu verkaufen kommt für ihn ebenso wenig infrage, wie einen schon vorhandenen Löffel wegzugeben: „Die Arbeit mit den Löffeln hat mich zu einem besseren Menschen gemacht, in meinen Augen und den Augen anderer.“
So erleben ihn die Besucher während einer Handwerksmesse in Europa als großen, grauhaarigen Mann mit Zopf, der inmitten all des Trubels Löffel aus Bambus schnitzt. Und dabei eine Ruhe ausstrahlt, wie sie es vielleicht bei einem Asiaten, nicht jedoch einem Brasilianer erwartet hätten. Einmal probiert er bei einer befreundeten Keramikerin das Töpfern aus. Der Ton fühlt sich gut und „verführerisch“ an. Das fertige Teil steht zu Hause, und Abreu sieht es jeden Tag: „Man könnte es Feigheit nennen, dass ich es nicht noch einmal versucht habe.“ Tatsächlich aber freut er sich jedes Mal über seine Entscheidung, dem Bambus treu zu bleiben.