Chefköchin Rebecca Clopath würzt mit jungen Fichtennadeln statt Zitronen. Und zeigt, dass die Zutaten für gutes Essen keine weite Reise hinter sich haben müssen.
Mit dem Team der Schweizer Junioren-Kochnationalmannschaft holte Rebecca Clopath zweimal Gold bei der Koch-Olympiade. Außerdem war sie einige Jahre lang Chefköchin in einem Sternerestaurant – in der Spitzengastronomie standen ihr alle Türen offen. Doch die junge Frau entschied, ihre Menüs lieber auf dem elterlichen Bauernhof zuzubereiten, denn ihr geht es darum, der Landwirtschaft zu mehr Geltung zu verhelfen.
Durch bäuerliche Arbeit geprägt
Rebecca Clopath steht vor einer Fichte, rupft einen hellgrünen Trieb ab und beißt hinein. „Schmeckt schön sauer“, sagt sie. „Die jungen Nadeln sind mein Ersatz für Zitronen, denn diese wachsen bei uns nicht.“ Die Dreißigjährige steht am Rande eines ihrer Kräuter- und Gemüsegärtchen, die sie auf dem Bauernhof ihrer Eltern angelegt hat. Auf 1600 Höhenmetern befindet er sich, in Lohn, einem Dorf mit gerade 40 Einwohnern. Von hier oben schweift der Blick weit über Schams, eine Umgebung, die seit Jahrhunderten durch bäuerliche Arbeit geprägt ist. Es ist ein Abschnitt der Region Viamala in Graubünden.
Zutaten aus dem Wald
Hier findet Rebecca die Zutaten für ihre Menüs. Bewaldete Hänge, Weiden mit Kühen, Ziegen und Schafen sowie Wiesen voller Kräuter und leuchtender Blumen sind quasi die Vorratskammer der Köchin. „Ich will den Geschmack der Alpen auf den Teller bringen“, sagt sie und betastet das Harz, das aus einer Spalte der Fichte dringt. Um die rötliche Rinde des Baumes nicht zu verletzen, entfernt die junge Frau mit den Fingern vorsichtig die transparente, klebrige Masse, die einen kräftigen Waldgeruch verströmt und ein wenig an Weihrauch erinnert.
Dieses Harz schmeckt ganz ähnlich wie Vanille und ist zur Zubereitung von Süßspeisen bestens geeignet. „Unsere ländliche Umgebung stellt alles zur Verfügung, was wir für eine schmackhafte und gesunde Ernährung brauchen“, erläutert Rebecca, die nicht nur deshalb auf regionale und saisonale Küche setzt, weil es umweltfreundlich ist. Indem sie auf Vanille, Curry und Pfeffer verzichtet und Speisen ohne Zutaten wie Hummer, Jakobsmuscheln und Kaviar serviert, möchte sie auch zeigen, wie wertvoll ihre Region ist.
Nahrung und Natur
„Als Jugendliche wollte ich weg vom Land“, erzählt die Spitzenköchin, die zehn Jahre lang an verschiedenen Stationen in der Schweiz wie in Bern und Umgebung Karriere gemacht hat. Doch vor drei Jahren beschloss sie, nicht mehr in Gourmetrestaurants zu kochen. Sie wollte auf dem Lichthof arbeiten, dort wo sie aufgewachsen ist und als Kind die ersten Kochversuche unternahm.
Zurzeit bereitet sie hier an jeweils 20 Tagen im Frühling und Herbst Neun-Gänge-Menüs für jeweils zwölf Gäste zu. Während Rosa Ingenhoven, die für zwei Monate in der Küche und im Service mitarbeitet, für das morgige Menü ein Mohnmousse anrührt, setzt sich die Köchin in einem angrenzenden schlichten Raum an einen Tisch, an dem auch ihre Gäste Platz nehmen werden. „In allen Küchen, in denen ich angestellt war, habe ich eine gute Zeit verbracht“, erzählt sie, „doch ich war es leid, mit Karotten beliefert zu werden, an denen keine Erde mehr dran ist.“ Beim Gemüse müsse unbedingt deutlich werden, dass es vom Land stammt, aus der Hand der Bäuerin oder des Bauern, in deren Verantwortung es liegt, Nahrungsmittel zu produzieren und gleichzeitig die Natur zu pflegen.
„Mein Ziel ist es, hauptsächlich mit Lebensmitteln vom eigenen Hof oder aus der freien Natur zu kochen“, sagt sie. Damit sie in der Lage ist, die Zutaten für ihre Gerichte selbst zu produzieren, hat die Spitzenköchin in den vergangenen zweieinhalb Jahren eine Ausbildung zur Bäuerin durchlaufen.
Landwirtschaft fördern
Aus der Küche dringen Brutzelgeräusche: Rosa Ingenhoven frittiert Haferkörner in einem tiefen Topf mit heißem Öl. Das Ergebnis hat eine knackige Konsistenz und schmeckt nussig und würzig. Rebecca Clopath unterstützt die Initiative Gran Alpin, durch die in der Umgebung der Anbau von Hafer, Weizen, Roggen und Gerste einen kleinen Aufschwung erlebt. Auch sie selbst plant, Getreide anzubauen. In ein paar Monaten wird Clopath zusammen mit einem befreundeten Ehepaar den Hof der Eltern übernehmen.
„Mein Vater muss an sieben Tagen in der Woche jeweils 12 bis 16 Stunden arbeiten, um wenigstens in etwa so viel zu verdienen wie ein Berufsanfänger nach der Lehre“, sagt sie. „Wir wünschen uns mehr Freizeit und eine angemessenere Bezahlung.“ Indem sie die Produkte des Hofs zu feinen Gerichten veredelt, für die sie mehr Geld verlangen kann, will sie dieses Ziel erreichen.
Menüs mit Geschichte
Kandierte Blüten , Wildgemüse und Honigwaben Selbst für Rebecca Clopath ist die Frage, was sie kochen soll, nicht immer einfach zu klären. „Um ein Neun-Gänge-Menü zu kreieren, benötige ich ein halbes Jahr“, erläutert sie, während sie eine Forelle filetiert, die aus der Zucht eines regionalen Fischers stammt. Allerdings wartet sie dann auch mit einer Vielfalt an Speisen auf, für die die Gäste fünf bis sechs Stunden Zeit mitbringen müssen. „Kürzlich meldete sich ein Interessent, der nur vier Gänge bestellen wollte“, erzählt die Köchin und streift mit dem Zeigefinger über den Fisch, um die letzten Gräten zu entnehmen. „Doch ich möchte mit meinen Menüs Geschichten erzählen, und da macht es keinen Sinn, in der Mitte abzubrechen.“
Als Ideenlieferanten für die Esswahrnehmungen, wie Rebecca Clopath ihre kulinarischen Kreationen nennt, dienen ihr historische Fakten, die häufig mit der landwirtschaftlichen Entwicklung der Region zusammenhängen, Anekdoten, Sagen und Märchen. „Ich übersetze die Geschichte der Region in Gerichte“, sagt sie. Bei ihrem aktuellem Menü geht es um das Tal Schams, die Umgebung. Vermutlich bedeutete Schams einst Sonne. Den Begriff veranschaulicht ein Gang aus den verschiedenen Bestandteilen des Löwenzahns, dessen strahlende Blüten auf den Weiden und Wiesen wie ein einziger Sonnenteppich wirken. Es gibt kandierte Löwenzahnwurzeln, ein Pesto aus den Blättern, Knospen in Öl und sautierte Stängel. „Das schmeckt alles recht bitter“, urteilt die Bäuerin, „deshalb bereite ich aus den fruchtigen Löwenzahnblüten ein Gelee zu, das einen geschmacklichen Ausgleich bewirkt.“
Für ihre Gäste hält sie eine Broschüre bereit mit landeskundlichen Informationen und groben Angaben zu den Gerichten, die sich mitunter wie ein Haiku lesen. Ein Beispiel dafür ist Gang neun, den sie mit capitel nov überschreibt, der Bezeichnung in Rätoromanisch, der regionalen Sprache: Berberitzen-Fruchtleder mit Blüten, kandierte Blüten und Wildgemüse, Honigwaben.
Im Permakulturgarten
Wo ist sie nur zwischen all den Pflanzen geblieben? Rebecca Clopath hat die beigefarbene Küchenschürze gegen ein zartgrünes Hemd getauscht und ist mit schnellen Schritten in ihren Garten gelaufen. Es macht den Eindruck, als wollte sie inmitten von Kräutern und Gemüse unterstreichen, dass sie sich als Teil der Natur empfindet. Wie gelingt es ihr, trotz der Produktion von Nahrung die Umwelt zu schützen? „Diese Frage stellt sich nicht, da ich im Einklang mit der Umgebung arbeite“, erklärt die Schweizerin. Ihre Gehilfin und sie ernten Meerrettichblätter, die stark nach dem Gemüse und auch ein wenig nach Erde duften. „Klein geschnitten streue ich sie über den Fischgang“, verrät die Expertin.
Ihre Bewirtschaftungsform nennt sich Permakultur. „Das ist ein Konzept, mit dem wir Ökosysteme schaffen, die für uns von Nutzen sind, sich aber gleichzeitig weitgehend selbst regulieren, wie ein Wald.“ So setzt die Naturliebhaberin bestimmte Pflanzen auf kleinem Raum zusammen, wie beispielsweise Fenchel neben Erdbeere. Das Gemüse ist der bevorzugte Lebensraum von Marienkäfern, die die Läuse von der Erdbeere fernhalten. Rebecca Clopath zeigt auf wilden Sauerampfer, wilde Pimpinelle und wilden Salbei, die sie auf den Wiesen gestochen und in ihrem Garten angepflanzt hat: „Die Pflanzenvielfalt zieht eine Vielfalt an Insekten an.“
Rebecca Clopath weiß: Indem die Landwirte für Bienen und Käfer, Schmetterlinge und Fliegen Lebensräume schaffen, fördern sie eine intakte Umwelt. Die Art dieser Landbewirtschaftung birgt noch andere Vorteile. „Weil wir die Pflanzen so wachsen lassen, wie es ihnen gefällt, ist der Arbeitsaufwand im Garten, nachdem er einmal angelegt ist, recht gering“, erklärt sie.
Die Bauern ernähren uns
Die Bauern ernähren uns „Schon als Kind hast du viel in der Küche ausprobiert“, sagt Rebeccas Mutter. Ihre täglichen Wege kreuzen sich häufig mit denen der Tochter, die erwidert: „Die Begeisterung für gute Küche hast du gefördert, denn du hast mich machen lassen.“ Die Mutter lacht und sagt: „Während deines letzten Schuljahrs hattest du jeden Montagvormittag frei.“ „Ich wäre gerne länger im Bett liegen geblieben“, erinnert sich die Tochter. „Das kam gar nicht infrage“, so die Mutter. Stattdessen musste die 14-Jährige zusammen mit ihrer Mutter für die vierköpfige Familie ein Mittagessen zubereiten. Es gab zum Beispiel Spargelcremesuppe als Vorspeise, Kardamomlinsen oder Gemüsepfanne mit Nudeln als Hauptgang, dazu Salat und zum Dessert Panacotta oder Pudding.
Nach dem Schulabschluss beschloss Rebecca, das in der Familienküche erworbene Wissen beruflich zu nutzen, und absolvierte eine Kochlehre. Bereits mit 24 Jahren war sie Chefköchin. „Ich bereitete andere Köchinnen und Köche auf den praktischen Teil der Prüfung zum Chefkoch vor, die meist älter waren als ich“, erzählt sie. Ob sie in der Schule auch schon unter den Besten gewesen sei? „Nein“, antwortet sie. „Ich galt immer als die Dümmste.“ Auch wenn die Lehrer ihr damals wohl nichts zutrauten – heute stimmen Rebecca Clopaths Gleichungen. „Die Bauern ernähren uns, egal wo auf der Welt. Ohne sie kein Essen – nach ein paar Wochen kein Leben“, sagt sie. „Die Bauern haben viel mehr Wertschätzung verdient.“
Weil es ehrlich ist
Der Vater von Rebecca Clopath züchtet Rinder. „Er führt eine alte Tradition fort“, erläutert die Tochter. „Die Schamser Bauern sind seit Jahrhunderten bekannt für ihr hervorragendes Rindfleisch.“ „Drei Kühe sind schon zwölf Jahre alt, aber die meisten lassen wir im Alter von fünf Jahren schlachten“, erzählt Christian Clopath. „Sie sind mir ans Herz gewachsen, doch ich lebe von ihnen. Bis ganz zum Schluss begleite ich sie. Die Tiere kommen ruhig hinter mir her in den Schlachthof. Dann bedanke ich mich für das gute Fleisch und halte sie.“ Auch davon wird Rebecca Clopath morgen bei der Esswahrnehmung erzählen, während ihre Gäste confiertes Rind, das die Köchin auf einem Feuerring sautiert, serviert bekommen. „Weil es ehrlich ist und vielleicht dazu beiträgt, dass wir bewusster und weniger Fleisch verzehren“, sagt sie.
Bauer Clopath möchte seiner Tochter und ihren Freunden den Hof schon bald übergeben. „Jetzt ist Rebecca jung und hat ehrgeizige Pläne, so wie wir damals“, sagt er. Wilma und Christian Clopath stellten gemeinsam mit den anderen Bauern aus Lohn ihren Betrieb bereits 1992 auf Bio um. „Wir wurden belächelt“, erinnert sich der Landwirt, „doch inzwischen hat mehr als die Hälfte aller Bauern der Region umgesattelt.“ Das Ehepaar setzte zudem früh auf Direktvermarktung und richtete ein Café ein, in dem Wilma Clopath zweimal in der Woche hausgemachte Menüs und Kuchen anbietet.
Für die Tochter sind das willkommene Vorleistungen, an die sie anknüpft. In ihrer Küche knetet Rebecca Clopath Sauerteig für ein Brot, das sie mit Ziegenbutter und Bachkresse darreichen wird. „Wir Gastronomen haben in der letzten Zeit so viel Applaus bekommen“, sagt sie. „Dabei ist es hauptsächlich dem Bauern zu verdanken, dass ein Nahrungsmittel schmeckt, schließlich sind die Zutaten viel länger in seiner Hand als bei der Köchin oder beim Koch.“
Die Schweizerin möchte den Teig über Nacht gehen lassen. Am kommenden Tag wird ihre Mutter Brotlaibe formen und im Holzofen backen. „Nur wenn die Landwirte durch nachhaltiges Wirtschaften eine große Vielfalt an Nahrungsmitteln gewährleisten, kann meine Küche gelingen“, sagt Rebecca Clopath.