Als Kari Furre einst in ein Steinhaus an der Küste zog, war es, als würden sich alle bisherigen Wege verbinden. Seitdem gestaltet sie Kunstwerke aus Fischhaut und schwimmt zu jeder Jahreszeit in Flüssen, Seen und dem Meer.
Eigentlich hatte sie es sich anders gewünscht. Das Haus größer, den Garten nicht einsehbar. „Privatsphäre aber kann sich hier im Süden Englands nicht jeder leisten“, schmunzelt Kari Furre. Sie beugt sich hinunter zum schmiedeeisernen Tor, öffnet es und geht dann in wenigen Schritten durch den Vorgarten zu ihrem Heim, das verwinkelt im dörflichen Ensemble der 3000-Seelen- Gemeinde Harbertonford sitzt und englischer kaum sein könnte: fast 250 Jahre alte, gemauerte Steinwände. Sprossenfenster, Rosenhecken, aus denen im Herbst Hagebutten leuchten.
Steinbutt und Seezunge
Im Dining Room liegt ein kleines auseinandergebrochenes Wespennest in einem aus Fischhaut geformten Schälchen. Es steht auf filigranen Drähten, die aussehen, als wollten sie Beine sein. Oder Arme, wenn sie weitere Fischhautschalen halten, die von Wänden hängen und ein bisschen an Bauhaus-Lampen erinnern. Genau hinschauen muss man auch bei zwei Handtaschen, die neben dem offenen Kamin an einem Haken hängen. „Steinbutt und Seezunge, getrocknet und dann mit Stoff ausgekleidet“, erklärt die 68-jährige Kari. Sie lacht, ihre blauen Augen blitzen, und das macht diese Frau so sympathisch: dass sie so klug, fast weise erscheint und dabei doch so nahbar ist.
Sie könne nachfühlen, wie es anderen beim Anblick der Taschen geht, sagt Kari. „Manches ist abstoßend und faszinierend zugleich. Mich reizt dieser Zwischenraum und die Auseinandersetzung damit.“ Sie zeigt ihr kleines Steinhaus, in dem sie vor 16 Jahren Wände und Decken entfernt hat. Als Theaterdesignerin war sie es gewohnt, mit schwerem Werkzeug umzugehen. Bohrmaschine. Drucklufthammer. Sie geht die schmale Treppe hinauf zu einem lichtdurchfluteten Raum, von dem man über die Dorfstraße zur Kirche und hinüber zum Pub schauen kann.
In Bewegung
Mitten im Leben ist Kari, wenn sie hier an der Nähmaschine sitzt und Fischhäute zusammenfügt. Oder an der Buchpresse steht, um die Häute auf Einbände zu ziehen. Herzstück des Ateliers ist ein zu einer Werkbank umgebauter elektrisch höhenverstellbarer Massagetisch. Mehrere mit Fischhaut bespannte hölzerne Rundblöcke, wie sie sonst von Hutmachern verwendet werden, stehen hier und warten, dass das getrocknete Material abgenommen und weiterverarbeitet werden kann. Kari Furre nimmt eine solche Schale und hält sie ins Morgenlicht. „So muss es sein“, sagt sie und dreht die Hand hin und her, sodass sich die Sonnenreflexe ändern. Nur so kann man ihre Kunst fassen, sagt Kari, in Bewegung – und nicht in bloßer Betrachtung.
Bewusstsein verändern
Kari Furre ist ein Morgenmensch, und ihr erster Gang am Tag führt mit einer Tasse Tee an den Arbeitsplatz und dort direkt vor die Fenster, durch die man Busse fahren und Mütter Kinderwagen schieben sieht. Ein wesentlicher Teil ihres Schaffens habe mit Kontrolle zu tun beziehungsweise damit, sich von ebenjener zu lösen, sagt Kari Furre. Ein Haus, das Dynamik und auch Öffentlichkeit einfordere, könne dabei helfen. „Wo bekommen Sie denn die her?“, fragten die Nachbarn anfangs, wenn sie die Fischhäute im Vorgarten hängen sahen, wo sie in der Sonne trocknen sollen. „Britische Höflichkeit“, schmunzelt die Künstlerin, „Was macht sie da bloß?“, sei wohl eher gemeint gewesen.
Die Leute aus dem Dorf unterstützen sie und stehen manchmal mit einem Fisch im Vorgarten. „Fisch …“, Kari Furre senkt den Kopf, ihre Stimme wird leise. „Wir jagen ihn, essen ihn und werfen seine Haut weg. Sie ist zu Abfall geworden.“ Oft aber ist es, als hätte sich im Bewusstsein der ihr nahen Menschen etwas verändert. Als käme, was sie zuvor suchen musste, wie von selbst zu ihr. Zwei Buntspechte sind unglücklich bei einer Nachbarin ins Fenster geflogen. Auch kleine weiche Maulwurfsfelle hängen nun neben der Fischhaut auf dem Wäscheständer, viele schaudere es. Sie jedoch fühlt sich verbunden, wenn sie Fisch- und gelegentlich auch andere Tierhaut verarbeitet. „Bereits vor Hunderten von Jahren kannten nordische Völker genau diese Handwerkstechniken.“
Die Fischhaut
Ein bisschen erinnert die Laube, die sich in einer Ecke des Vorgartens versteckt, an eine Campingküche. Ein Waschbecken, einen Kühlschrank, einen Arbeitstisch und ein ausrangiertes Küchenbuffet gibt es hier. Kari Furre bändigt ihr volles Haar mit einem Gummi, streift sich Handschuhe über. Auf einem Küchenbrett hat sie hat einen Seelachs bereitgelegt, den sie früh am Morgen auf dem Fischermarkt von Brixham geholt hat.
Vorsichtig entfernt sie den Kopf und ritzt dahinter die Haut an, die sie Stück für Stück mit den Händen abzieht. Das erfordert einiges an Kraft. Wenn sie zu stark zieht, reißt die Haut. Doch selbst wenn: „Es wäre falsch, den Fisch zu sehr kontrollieren zu wollen.“ Wenn sie die Fischhaut mit einem Spezialwerkzeug, das auch die Inuit verwenden, gereinigt hat, geht sie zur Konservierung über.
Zwei Möglichkeiten gibt es: das Gerben mit Öl oder das mit Rinde. Kari schlägt Eier in eine Tonschale, mischt Rapsöl und klare, biologisch abbaubare Seife dazu. Darin zieht die Fischhaut 40 Minuten, bevor sie zum Trocknen in der Sonne auf den Ständer kommt. Deutlich länger dauert das Gerben in Weidenrindensud. Zwei bis drei Wochen verweilt die Fischhaut darin und bekommt einen rostroten Farbton.
Später zeigt Kari, wie sie ein genau solches Stück im Atelier für die Weiterverarbeitung geschmeidig und formbar macht. Dafür sitzt sie auf einem Hocker und bewegt die Haut stetig über dem Metall eines umgedrehten Rundspatens hin und her. Immer wieder wird sie das Stück Haut in den nächsten Tagen nehmen und viele Stunden über den Spaten ziehen.
Das Schwimmen
Ihr eigentliches Training, würden manche sagen, geschieht aber unten am Fluss oder am Meer: Kari Furre schwimmt. Drei-, viermal die Woche packt sie morgens Handtuch, Badekappe und Neoprenanzug ein, selbst im Dezember noch. Wenn sie hüfthoch im Wasser steht, taucht sie die Handflächen ins Nass und befeuchtet die Wangen damit, um das Gesicht dann einen Moment lang auf die Wasseroberfläche zu legen, so als wolle sie es auf ein Kissen betten. Die ersten sachten Schwimmbewegungen entstehen so wie von selbst.
Es geht ihr beim Schwimmen nicht darum, schnell zu sein oder weit zu kommen, sondern um den Moment zwischen den Atemzügen. Ruhig. Gleitend. Eins werdend. Zwei Fliegen mit einer Klappe hat sie mit der Ausbildung zur Schwimmlehrerin vor fünfzehn Jahren geschlagen: Indem sie Triathleten trainiert und daneben Menschen mit Wasserphobie therapeutisch begleitet, muss sie sich für die Kunst nicht versklaven.
Und: „Das Bedürfnis, schwimmen zu gehen, und der Antrieb, mit Fischhaut zu arbeiten, sind eng miteinander verwoben. Im Grunde entspringt beides demselben Ort in meinem Gehirn.“ Ist das nicht beängstigend, in der Weite der Wellen des Ozeans zu sein oder im Strom eines fließenden Gewässers?, fragen die Leute sie manchmal. Im Gegenteil, sagt sie dann. Und dass sie kaum noch näher bei sich sein könne. „Das Wasser strömt wie seit jeher, schon zu prähistorischer Zeit strömte es so. Wir können uns hineinbegeben und Teil werden. Und eben nicht Wächter oder Kontrolleur oder Zerstörer.“
Ein Starker Impuls
Am Abend, wenn ein Feuer im Kamin knistert, ist es auf einmal, als würde sich alles, was Kari Furre bislang erzählt hat, zu einem stimmigen Ganzen zusammentun. „Ich war es leid, als Künstlerin für andere Auftragsarbeiten auszuführen“, berichtet sie. Sie kehrte ihrer alten Heimat York den Rücken, traf Leute der in England populären „Outdoor Swimming Society“ und begann Flüsse, Seen und das Meer für sich zu entdecken. Als sie den ersten Fisch in Händen hielt, um ihn zu häuten, war es ähnlich.
Sie fühlte sich an ihre Zeit als Theaterdesignerin in den 70ern und 80ern erinnert. „Wir arbeiteten damals an einer Produktion von Shakespeare, einer klassischen Commedia dell’arte und brauchten Harlekinmasken.“ Den italienischen Handwerker bei der Lederbearbeitung zu beobachten war für Kari rückblickend ein starker Impuls. Und wie hat alles angefangen? Sie ist auf einem Bauernhof groß geworden, und es war normal, hier und da mal einen Schafknochen aufzuklauben. Einmal, als vielleicht Zehnjährige, hat sie das Skelett eines Huhnes gefunden, es gereinigt und seine Teile mit Fäden zusammengefügt, um es bei sich im Zimmer aufzuhängen.
Der Weg
Sie arbeitete in einem Küstenmuseum und sollte zeigen, was die Fischerei seit jeher für die Nordsee bedeutete. Auf Island besuchte sie dafür die weltweit einzige Fabrik, in der Fischhaut heute noch verarbeitet wird. Später forschte sie über die Rolle des Fischs in der nordischen Kultur und lernte in Schweden, wie Leder verarbeitet wird. 2017 durfte sie ihre Kunstwerke in der weltberühmten Londoner Saatchi Gallery zeigen. Sie weiß noch genau, wie es war, durch die Räume zu gehen. Die Menschen zu sehen, die Interesse an den Schalen aus Steinbutt, Forelle oder Seezunge bekundeten und vermutlich mehr die Form und die Lichtreflexe darin sahen als die Fischhaut. „Aber wie könnten sie auch wissen?“
Wissen, wie der Fisch zu ihr gekommen ist, was er ihr bedeutet, was ihr das Schwimmen bedeutet, als Teil eines Größeren. Ihre Erlebnisse in schottischen oder walisischen Gewässern erinnerten sie an die keltische Mythologie der Selkies, die als Robben aus dem Meer kommen und Menschengestalt annehmen. Lachse, die direkt vor ihr auf und ab sprangen. Tausende von Quallen um sie herum.
„Es ist die Geschichte der Transformation vom Wasser zum Land.“ Und die ist so was wie eine Bestätigung. Zumindest an Tagen, die mit einer Tasse Tee vor den Fenstern des Ateliers beginnen und dann am Fluss und später in der Laube oder im Werkraum weitergehen. An denen alles in Bewegung ist, mit dem Fisch und auch sonst.