Werde Magazin_Kai Marchal

Wie wir uns zu uns selbst verhalten

Beitrag Interviews

Philosophen unserer Zeit schildern hier ihre Sicht auf das gute Leben. Kai Marchal bringt uns fernöstliches Denken nahe. Und zeigt, dass wir das Schweigen neu lernen können und so die Stille vielleicht höher schätzen als den ständigen Output.

Werde Magazin_Kai Marchal

Herr Marchal, als Sie 22 Jahre alt waren, fuhren Sie mit der Transsibirischen Eisenbahn nach China. Was war der Grund für diese außergewöhnliche Reise?
Kai Marchal Ich litt zu dieser Zeit sehr an dem Stillstand um mich herum und vollzog unfreiwillig nach, was der Philosoph Theodor W. Adorno meinte, als er schrieb, dass es „kein richtiges Leben im falschen“ geben könne. Deutschland in den 1990er Jahren war für mich das ultimativ falsche. Alles schien ausgehandelt und festgefahren und mir war klar, dass das gute Leben für mich woanders liegen würde. Durch die Beschäftigung mit der chinesischen Kultur hatte ich das Gefühl, dass ich auf Abstand zu meinem einengenden Alltag gehen und etwas radikal anderes erfahren konnte. Dass ich mich jedoch tatsächlich in den Zug setzte, hatte in erster Linie mit meiner anhaltenden Faszination für die chinesischen Sprache und deren Schriftzeichen zu tun.

Inwiefern?
Kai Marchal Durch das Erlernen der Schriftzeichen hatte ich das Gefühl, eine andere Welt betreten zu können. Ich brauchte mich dafür nur an meinen Schreibtisch zu setzen und zehn-, zwanzig- oder auch fünfzigmal dasselbe Zeichen abzuschreiben. Solange bis ich es als eine sinnlich wahrnehmbare Erscheinung jederzeit vor mir sah. So wurden diese Zeichen für mich zu Schlupflöchern, durch die ich aus mir heraus in eine andere Welt kriechen konnte.
Was also mit einer sprachlichen Faszination und einer Reise begann, führte dazu, dass Sie heute Philosophie an der Chengchi University in Taipeh lehren.

Was reizt Sie am fernöstlichen Denken?
Kai Marchal Das Grundverständnis chinesischer Philosophen war lange Zeit ein grundlegend anderes als es heute im Westen vertreten wird. Konfuzianer, Daoisten oder Buddhisten hatten nie den Anspruch, systematisch abgeschlossene und universal gültige Theorien über das Selbst oder die Welt zu formulieren. Wo in Europa das Behaupten noch immer stilbildend in der Philosophie ist, spielte es in Ostasien keine wichtige Rolle.

Woran liegt das?
Kai Marchal Die Daoisten und Buddhisten glaubten viel zu wenig an die Möglichkeit des Fortschrittes und waren außerdem zutiefst skeptisch, ob Menschen durch den sprachlichen Ausdruck von Gedanken und die Vereinheitlichung von Bedeutungen überhaupt besser oder glücklicher werden konnten. Die Konfuzianer waren zwar von der Möglichkeit einer grundständigen Verbesserung des Menschen überzeugt, doch sollte dies nicht durch die Verständigung über Begriffe oder Gründe geschehen, sondern durch die Umbildung des Einzelnen.

Dennoch haben sich auch einige Philosophen im Westen mit fernöstlichem Denken auseinandergesetzt.
Kai Marchal Richtig, insbesondere Arthur Schopenhauer und Ludwig Wittgenstein. Ersterer beschäftigte sich intensiv mit dem Buddhismus und letzterer mit dessen Schriften. Von Wittgenstein gibt es den schönen Satz: „Wenn irgendetwas gesehen (wirklich gesehen) wird, dann bin immer ich es, der es sieht“. Was banal klingt, wirft auch für Philosophen aus Fernost eine relevante Frage auf: Gibt es die Welt oder existiert sie nur in meinem Kopf?

Können Sie das noch etwas genauer erläutern?
Kai Marchal Dieser Satz dringt ins Zentrum des daoistischen und buddhistischen Denkens vor. Ihm zufolge gibt es nämlich gar nichts anderes als unser eigenes Leben und unser Bewusstsein davon. Wir können nur aus unserer eigenen Perspektive auf das Leben blicken, und deshalb werden wir auch die für uns angemessenste Lösung für unser Leben finden müssen. Was auch immer wir mit unserem Leben anstellen, uns selbst entkommen wir nicht.

Das klingt nicht gerade optimistisch.
Kai Marchal Ganz im Gegenteil! Das ist ein sehr tröstlicher Gedanke. So kommt es vor allem darauf an, wie wir uns zu uns selbst verhalten, uns auf die Welt ausrichten und unsere Abhängigkeit von dieser Welt verstehen. Dieser Perspektive zufolge haben wir eine sehr große Handlungsmacht über unsere Existenz.

Wo der Einfluss aus Fernost sich in der Philosophie auf ein paar wenige Denker beschränkt, finden sich in unserem Alltag heute zahlreiche Versatzstücke fernöstlicher Kultur. Etwa Yoga oder Winkekatzen.
Kai Marchal Einerseits ist das wohl einfach Ergebnis der zunehmenden Durchdringung, wir sind endlich im globalen hyperspace angelangt. Andererseits habe ich aber auch das Gefühl, dass wir im Westen heute in einer sehr narzisstischen Gesellschaft leben. Und zwar nicht, weil wir uns im gerade genannten Sinne auf uns selbst beziehen, sondern weil wir uns als Nabel der Welt verstehen. Das rührt auch daher, dass traditionelle Strukturen wie Familie und Religion immer unwichtiger werden und wir so im Außen keinen Halt mehr finden. So versteifen wir uns auf uns selbst. Diese überstarke Beschäftigung mit dem Ich belastet die Menschen, sodass das Gegenmodell zu dieser Ich-Zentrierung attraktiv scheint, das etwa der Buddhismus bereitstellt.

Welches Gegenmodell wäre das?
Kai Marchal Das Nichts und die Leere spielen im Buddhismus eine große Rolle. Konzepte, die der Aufforderung nach stetem Wachstum, Überfülle und nicht enden wollender Produktion entgegenstehen. Übrigens wird dieser Aufforderung im China der Gegenwart heute sogar noch viel mehr Raum gegeben als bei uns. Ich denke, dass viele Menschen im Westen den Wunsch nach Schweigen sehr gut kennen. Sie wollen sich der Sprache entledigen und sich im wahrsten Sinne des Wortes wieder selbst spüren. Auch der chinesische Philosoph Wang Bi spricht in diesem Sinne von einem weisen Menschen als jemandem, der das Nichts verkörpert. An dieser Stelle kommen Körper- und Wiederholungszentrierte Praktiken wie Tai-Chi oder Yoga ins Spiel.

Wie können wir fernöstliche lehren konkret für unseren Alltag nutzen?
Kai Marchal Indem wir das Schweigen neu lernen und die Stille vielleicht auch in gewissen Momenten höher schätzen als den ständigen Output. Das ist der erste Schritt. Der zweite wäre dann, sich im eigenen Selbst nicht zu verhärten, sondern sich neu spüren zu lernen. Hier kommen wir wieder an den Anfang unseres Gesprächs zurück. Wer sich die Zeit nimmt und Dutzende Male die Ausführung eines Schriftzeichens übt oder die Pose im Yoga stetig wiederholt, ist ganz bei sich und widerstrebt dem Zwang zu funktionieren. Etwas, das sehr heilsam sein kann, um anschließend mit neuem Selbstbewusstsein in die Welt zu treten. Und dies könnte auch der Beginn einer vertieften Auseinandersetzung mit der ostasiatischen Gedankenwelt sein, die sich natürlich nicht auf den Imperativ zur Selbstverbesserung reduzieren lässt.