Am Fluss Theiß herrscht hochsommerliche Gewitterstimmung. Auf dem Wasser schwimmen Lichter, am Ufer ertönt Musik, und alle feiern, dass Millionen von Eintagsfliegen sich endlich paaren.
Die Pannonische Tiefebene zwischen Ungarn und Serbien liegt da, flach wie ein Teller. Eine lange, wie gezeichnete Linie, die den Himmel von bunten Feldern trennt, erinnert an Piet Mondrians Kunst: das Weiß der Wolken umrahmt vom Blau des Himmels, gesäumt von grünen Maisfeldern, durchbrochen von weizengelben Streifen. Seit Wochen ist es schwül und heiß. Das verschlafene Städtchen Novi Bečej liegt zwischen Belgrad und Budapest am Fluss Theiß.
Die Eintagsfliege
Hier lebt ein winziges Insekt jahrelang unter der Wasseroberfläche und zeigt sich nur an einem einzigen Tag des Jahres. Sein historisches Alter wird auf mindestens 200 Millionen Jahre geschätzt. Zeitgenossen wie Dinosaurier und Mammute hat es längst überlebt und ist noch heute ein Kleinod, grazil, schillernd und geheimnisvoll. Sein Name lautet Ephemeroptera, bekannter ist das zarte Tierchen als Eintagsfliege. Das Leben der Eintagsfliege erinnert an klassische griechische Tragödien: Drei Jahre verbringt sie in der kalten Dunkelheit eines Flussbetts, bis sie dem Licht entgegenfliegt, um sich an der Wasseroberfläche zu paaren.
Der Liebesrausch ist gleichzeitig ein Todestanz: Nach der Paarung fallen die winzigen, durchsichtigen Körper der Männchen in die Tiefe des Flusses, die Weibchen nehmen die befruchteten Eier mit und legen sie ebenfalls im Wasser ab. Drei Jahre dauert es, bis aus der Larve wieder eine Eintagsfliege wird, die im Licht befruchtet wird.
Eine traurige Liebesgeschichte
Sie gehört zur Insektengattung der Wasserblüten und wird in der Pannonischen Tiefebene, im flachen Land Ungarns und Serbiens Theißblüte genannt. Denn wenn Milliarden kleiner Insekten auf die Wasseroberfläche fallen, „blüht“ die Theiß. Die flirrende Paarung der Eintagsfliegen gilt für die Menschen als eine romantische und traurige Love-Story. So kommen sie an den Fluss, um mit einem riesigen Fest das Leben, die Liebe und auch die Eintagsfliege zu feiern.
In jedem Jahr aufs Neue gibt es Mutmaßungen, in welcher Nacht und wo der Fluss von Theißblüten bedeckt sein wird. Denn wann genau die feinen Insekten die Oberfläche erreichen, ist ein Geheimnis der Natur, die sich mit dem Wetter, dem Licht und dem Himmel verbündet hat. Es scheint so, als ob die Landschaft in jenen Tagen von einer besonderen Stimmung erfasst wird. Bereits vor und auch an den Tagen nach dem Naturereignis. Eine unwirkliche, metaphysische Zeit an einem mystischen Strom und seinen Ufern.
Auf dem Boot
Wer in der Gegend ist, schippert über den Fluss, entdeckt Wälder und Schlösser auf der Perleninsel, redet mit verarmten Bauern und philosophischen Fischern. Sieht den Liebenden zu, wie sie rot leuchtende Herzen in der Theiß schwimmen lassen, um den Himmel um Beistand für ihre Liebe zu bitten. Trifft ungarische Kinder, die in bunten Trachten das Schulende feiern, begegnet einer Sinti-Familie, die als Schausteller beim Fest der Eintagsfliege ihre Skooter-Bahn und sonstige Kinderherrlichkeiten an den Theißsufern aufgebaut hat.
Die Theiß ist ein mächtiger, träger Fluss, umwoben von Kletterpflanzen, Sträuchern und Gräsern, himmelhohen Pappeln und prachtvollen Weiden, von deren Ästen Kinder ins Wasser springen.
Dušan Grujić ist Bootsführer, ein schlaksiger Mann mit Stoppelbart und silbernen Haaren, die unter einem zerbröselnden Strohhut verschwinden. Der 64-Jahrige ist schon sein ganzes Leben lang in die Theiß verliebt. „Meine Frau weiß es seit fast 50 Jahren“, schmunzelt Dušan, zündet sich eine selbst gedrehte Zigarette an und fährt fort: „Sogar meinen Tagesablauf habe ich der Theiß angepasst. Ich arbeite als Nachtportier, und ab sechs Uhr morgens lege ich mich in mein Bötchen und kann bei Sonnenaufgang eine Runde schlafen. Dann gehe ich fischen oder werkele mit Freunden in der Marina. Oft gibt es eine Fischsuppe am Mittag oder ein Rehgulasch, falls jemand gerade auf der Perleninsel gejagt hat.“
Die roten Herzen
Kein Wunder, dass Dušan als Kind am liebsten „Huckleberry Finn“ gespielt hat. Oft kauerte er mit Freunden in den Weiden und lauschte Geschichten von bösen Nymphen und guten Göttern. „Doch wenn es hieß: Die Fliegen sind raus‘, gab es kein Halten, da halfen auch keine Strafandrohungen. Wir rannten aus der Schule und badeten mitten im Naturspektakel der Eintagsfliegen.“ Dušan schwelgt in Erinnerungen. Längst gibt es die Fähre nicht mehr, die an einem dicken Seil hing und die Ufer verband. Mit Pferden kamen damals die Bauern zu ihren Weinbergen und Obstgärten am anderen Ufer, die Mähnen sahen vor lauter Eintagsfliegen wie blühende Gärten aus.
„Am Wasser erkennst du übrigens keine Gesichter. Dafür hörst du die Stimmen meilenweit und weist genau, wer da fischt“, sagt Dušan leise. Es herrscht tatsächlich eine beseelende, allumfassende Stille. Plötzlich wird man von einem Meer der Gefühle überwältigt, das einen mit diesem trägen Gewässer verbindet. Nach einer Weile erzählt er weiter: „Es sind Millionen von Tierchen in der Luft, wenn die Theißblüte Hochzeit feiert. Sie hüllen den Fluss in einen Nebel mit süßlichem Duft. Zu vernehmen ist nichts als das zarte Aneinanderschlagen der seidigen Flügel, ganz leise inmitten tiefer Ruhe.“
Ein Symbol der Liebe
Wenn der Abend naht und die fast unerträglich schwüle Luft zu stehen scheint, taucht die sinkende Sonne hinter den Weidenzweigen die Flusslandschaft in sanfte Farben. Am Bootsanlegeplatz herrscht Fröhlichkeit. Die Menschen springen wie wild ins Wasser, schwimmen und jauchzen. Auf der bunten Meile bimmelt ein Kinderkarussell, es gibt Gartenzwerge aller Größen, einheimische Pflanzen, indische Klamotten, Mohnkuchen und Aprikosenschnaps zu kaufen. Auf dem Steg leuchten rote Herzen mit Kerzen, als Symbol der Liebe. Die Legende besagt, dass die in der Theiß wohnenden Götter jeden Liebeswunsch erfüllen, wenn man die Lichter den Fluten überlässt. Am Anlegeplatz liegt jedenfalls Liebe in der Luft, auch im Rauschen der Bäume, wenn die roten Herzen schwimmen.
Predrag und Sanja sind seit zwei Jahren zusammen: „Wir sind gekommen, um Theißgötter und Theißblüten zu bitten, unser Glück so lange wie möglich zu erhalten.“ „Ohne die Perleninsel gesehen zu haben, kann man unsere Hingabe an die Theiß nicht verstehen“, sagt Dušan.
Auf der Perleninsel
Als sich ein langer Flussarm vor mehr als 100 Jahren vom Strom trennte, wurde die Perleninsel geboren. Flaches Gewässer, Röhricht, Wiesen und Wälder entstanden im Gebiet des alten Wasserlaufs. Auf fruchtbarem Boden wachsen bis heute Obstgärten und Weinberge. Reiher, Wildschweine und Rehe bevölkern die unberührte Natur. Am Wegesrand kommen Windmühlen ins Blickfeld, ausgedehnte Walnussgärten, Mais- und Weizenfelder. Zirpende Grillen, rauschender Wald, Vogelgezwitscher: Die Perleninsel ist ein Ort, an dem Stille hörbar wird.
Ein Sturm hat die Weizenfelder mit voller Wucht getroffen, als ob Außerirdische Kreise und Quadrate in die Felder gezeichnet hatten. Der Nebenarm der Theiß sieht aus wie ein hellgrüner Teppich; es ist Entengrütze, die man nur in sauberen, stehenden Gewässern so findet. Keine Menschenseele ist hier in der Natur zu sehen, in der Ferne taucht ein Bauernhof auf.
Harte Arbeit
Anka Vijatov kommt aus dem Stall. Ihr Gesicht ist wie von Botticelli gemalt, ihr Lächeln madonnenhaft. Leicht hat sie es nicht. Seit 30 Jahren bewirtschaftet sie mit ihrem Mann einen Hof mit 100 Kühen und Kälbern. Sie haben keine Erben und wollen am liebsten alles verkaufen. Doch an wen? Niemand will das Anwesen haben. Deshalb schuften sie bis spät in die Nacht. Die märchenhafte Natur, die sie umgibt, bemerken sie nicht. Und teilen damit das Schicksal vieler Bauern dieser Gegend.
Zurück in Novi Bečej, ist die bunte Meile verschwunden, und die Sinti-Familie packt ihr Mobiliar zusammen, das nächste Volksfest ist nicht weit. Im Lokal „Czarda“ gibt es einen Abschiedsschnaps. Er kommt vom Bauern, riecht und schmeckt nach Aprikosen. Beim Nippen am Glas fließen Gedanken über Vergangenheit und Zukunft ineinander. Die Theiß fließt ruhig und träge. Von den Eintagsfliegen ist nichts mehr zu sehen.