Ein geheimnisvoller Fund rückt die handkolorierten Pflanzenfotografien von Josef Hanel ins beste Licht. Entdeckt in fünf schönen Holzschatullen.
Einfach prächtig, dieser Fliegenpilz! Um ihn herum wachsen jüngere Pilze, die Köpfchen noch kugelförmig geschlossen. Vorsichtig legt Josef Hanel zwei weitere Exemplare ins Moos, sodass ihre Lamellen-Unterseiten zu sehen sind. Jetzt genügt ein Blick – und der Betrachter weiß, wie Amanita muscaria in jedem Wachstumsstadium aussieht. Hanel nickt zufrieden. Seine Kamera ist mit einer Negativglasplatte geladen. Der Fotograf taucht unter das schwarze Tuch, visiert die Fliegenpilze an. Dann atmet er tief durch und drückt sanft den Auslöseknopf.
Fünf Schatullen, ein Sensationsfund
Rund hundert Jahre später, im Botanischen Institut der Universität Zürich. Christiane Jacquat – Archäobotanikerin und Kuratorin des Botanischen Museums – ist in den Keller hinabgestiegen. Teile der Sammlung lagern dort in verschiedenen Schutzräumen. Als Jacquat versuchte, sie zu ordnen, fallen ihr fünf Holzschatullen auf. Hübsche Kästchen, in denen Glasdiapositive stecken. Wahrscheinlich sind es bloß Schwarz-Weiß-Bilder einer Forschungsreise, denkt Jacquat. Doch dann hält sie die ersten Glasplatten gegen das Licht – und traut kaum ihren Augen. Die Fotos zeigen Blüten und Pilze, Moose und Flechten, gestochen scharf und in leuchtenden Farben!
„Es war, als würde plötzlich Sonnenschein in den Keller dringen. Die Bilder waren so lebhaft, voll Energie, voll Licht!“, schwärmt Jacquat. Als sie ein Glasdia unter ihr Mikroskop legt, staunt sie erneut. Die Aufnahmen wurden nämlich keineswegs mit frühen Farbfilmen fotografiert, sondern sie sind von Hand koloriert. Jemand hat also nachträglich mit einem Pinsel jedes Blättlein, jede winzige Blüte eingefärbt. So naturgetreu, dass man beinahe den Duft der Schwertlilie und das Erdaroma der Pfifferlinge riechen kann.
Es ist ein Sensationsfund, das spürt Jacquat sofort. Aber er wirft auch viele Fragen auf: Wer war der geheimnisvolle Fotograf? Wer hat die Natur so hyperrealistisch und bunt auf Glasplatten verewigt? Und wie ist es möglich, dass von diesem Genie überhaupt nichts mehr bekannt ist – nicht einmal der Name? Als Archäobotanikerin sucht Jacquat normalerweise nach subfossilen Pflanzen, rekonstruiert deren Beziehung zu unseren Vorfahren. Sie liebt also wissenschaftliche Detektivarbeit. Der Fotograf soll gewürdigt werden, wie er es sich mit seinen Werken verdient hat. Das nimmt sich Jacquat ganz fest vor.
Hunderte Dias von einem Unbekannten
Anfangs hat sie nicht mehr als die 208 Glasplatten aus dem Keller. Die meisten messen 10 mal 8,5 Zentimeter, sind damit deutlich größer als moderne Dias. Wieder und wieder bewundert Jacquat die botanischen Motive: Die zartblaue Vogel-Wicke mit rankenden Fiederblättchen. Das sattgrüne Zypressenschlafmoos, das einen Ast umhüllt wie eine zottelige Decke. Und Pilze, Pilze, der Unbekannte fotografiert unermüdlich Pilze! Auf einem Bild sind Gemeine Weiß-Täublinge zu sehen, die ihre Hüte gerade so weit lupfen, dass feinste Lamellen zu sehen sind. Ein anderes zeigt ein Stinkhorn, das aus dem Waldboden ragt.
Jacquat ahnt, wie die Lichtbilder in ihr Institut gekommen sind: Ab dem Beginn des 20. Jahrhunderts war es in Mode, Serien von Glasdiapositiven zu verschiedensten Themen anzufertigen und mit Projektionsapparaten zu zeigen. Sie dienten als Lehrmittel für Vorträge.
Auf den Spuren des Fotografen Josef Hanel
Die Pilz- und Pflanzenfotos aus den Holzkästchen sind nicht nur technisch brillant gemacht, sondern besitzen auch hohe künstlerische Qualität. Etwa die Hälfte ist mit einem zierlichen „I. H.“ markiert. Das könnten die Initialen des Fotografen sein, vermutet Jacquat. Schließlich stößt sie in der Universitätsbibliothek auf ein altes Pilzbuch. Die Abbildungen ähneln den kolorierten Glasdias, teils sind sie ebenfalls mit „I. H.“ gekennzeichnet. Und im Vorwort wird ausdrücklich einem gewissen Josef Hanel für die Qualität seiner Arbeit gedankt. „Für mich war es sehr berührend, als ich endlich den Namen gefunden hatte“, erzählt Jacquat.
Die Forscherin wendet sich an Kirchenämter, Museen, Behörden und Archive. Ja, sie reist sogar von der Schweiz aus nach Österreich, Deutschland, Polen und in die Tschechische Republik. Geduldig fügt sie Puzzlestück um Puzzlestück zusammen – und rekonstruiert so die Biografie des Naturfotografen.
Josef Hanel: Fotograf und Maler
Geboren wurde Josef Hanel am 29. März 1865 in Hennersdorf. Heute liegt das Örtchen im Nordosten der Tschechischen Republik; damals war es noch Teil des Kaisertums Österreich. Wie so viele junge Männer suchte auch Hanel sein Glück in der Hauptstadt Wien.
Als 25-Jähriger stand er vor dem verschnörkelten Altar der Mariahilfer Kirche, heiratete die Oberbayerin Anna Maria Westermaier. Um Geld zu verdienen, heuerte Hanel als „Zimmermalergehilfe“ an: Vermutlich schmückte er über Jahre hinweg die Decken der Wohlhabenden mit Trompe-l’oeil-Malereien, die die Natur voller Präzision und Farbenpracht imitieren.
Ob er jemals eine künstlerische Ausbildung erhalten hat, an einer Akademie oder einer Fachschule? Das kann Christiane Jacquat nicht klären. Dafür findet sie heraus, dass Hanel einen jüngeren Bruder namens Eduard besaß, der als Fotograf arbeitete. Womöglich begleitete er Hanel bei seinen ersten Versuchen mit dieser neuen, faszinierenden Technik.
Im Jahr 1915 jedenfalls bezeichnete sich Josef Hanel auf einem Formular bereits selbstbewusst als „Fotograf und Maler“. Er musste sich damals registrieren, weil er mit seiner Frau nach München umzog. Auf dem Dokument befindet sich auch ein Abdruck seines rechten Zeigefingers, der eine schmale Männerhand vermuten lässt.
Kein Foto, nur ein Fingerabdruck
Für Christiane Jacquat war es ein besonderer Moment, als die Stadt München ihr den Meldebogen zuschickte. „Es gibt ja kein Foto von Hanel, nichts. Aber mit dem Fingerabdruck hatte ich endlich etwas, das wirklich von ihm stammte!“, erzählt sie. Das Ehepaar Hanel fand damals eine Unterkunft in Sendling. Der Erste Weltkrieg tobte, und an der „Heimatfront“ hungerten die Menschen. Brot wurde mit Kartoffelmehl gestreckt, Milch mit Wasser verdünnt.
Ein Brauwissenschaftler und Hefe-Experte namens Hans Schnegg ermutigte seine Mitbürger, mehr eiweißreiche Pilze zu sammeln – und verfasste drei hilfreiche Bestimmungsbüchlein. Damit Laien die essbaren von den giftigen Pilzen unterscheiden konnten, waren Bilder entscheidend – wirklichkeitsgetreue Abbildungen. Wer hätte die besser machen können als Josef Hanel?
Pilzexperte und Naturbeobachter
In den folgenden Jahren entwickelte der Fotograf sich zum Pilzexperten. Er zog aufs Land, ins bayerische Bad Aibling. Von dort aus vertrieb er eine eigene Glasplattenreihe unter dem Namen „Früchte des Waldes“. Pilzsammlervereine waren begeistert. 1921 gewann Hanel auf dem Mykologenkongress in Nürnberg sogar den ersten Preis für seine farbigen Pilz-Abbildungen namens „Waldeszauber“.
Man sieht den Fotografen förmlich vor sich, wie er die Wälder durchstreift, auf der Suche nach Gewimperten Erdsternen oder nach Judasohren, die auf abgestorbenen Baumstämmen wuchern. Hanels Vorgänger haben Pilze meist mit neutralem Hintergrund fotografiert und eher leblos dargestellt. Das macht seine Glasdias zu etwas so Besonderem: Hanel zeigt die Pilze genau dort, wo sie auch wachsen, auf einer Lichtung oder Wiese etwa. Er komponiert seine Bilder ganz bewusst. Mal verpflanzt er einzelne Pilze, um die verschiedenen Entwicklungsstadien auf einem einzigen Bild festzuhalten. Mal schneidet er Pilze auf, sodass der Betrachter die Innenseite des Fruchtkörpers sehen kann.
Mit der Zeit begann er, auch andere Pflanzen zu porträtieren – so wissenschaftlich genau, wie man es von botanischen Zeichnungen kennt. Auf seinem Schlafmohnfoto beispielsweise zeigt er Knospen, zauberhaft gefärbte Blüten und eine getrocknete Samenkapsel, alle zugleich. Auch seine Walderdbeerpflanze trägt Blüten in verschiedenen Stadien ebenso wie grüne und rote Früchte. „Manchmal weiß ich nicht, wie er es geschafft hat, all diese Merkmale gleichzeitig aufs Bild zu bringen“, schwärmt Jacquat. „Bei ihm verschmelzen Kunst und Wissenschaft. Es ist einfach genial.“
Vom Wald ins Studio
Mehr und mehr fotografierte Hanel auch im Studio. Mit Fäden, Stützen und Klammern brachte er seine Pflanzen in Pose. Und dann musste es schnell gehen! Sonst verwelkten die Blüten, sanken die Blätter saftlos nach unten. Hanel besaß wohl keine künstlichen Lampen, sondern nutzte das Tageslicht: Er musste warten, bis die Sonne das Studio hell genug durchflutete, und pausieren, wenn Wolken den Himmel zu sehr verdüsterten. Ab 1923 nutzte Hanel das Fotostudio seines Bruders Eduard, in einem Haus, dessen Dach auch heute noch teils mit Glasscheiben gedeckt ist. Dafür kehrte der inzwischen 60-Jährige in seinen Geburtsort zurück.
Im Zeitalter schnell aufgenommener Digitalbilder kann man sich den technischen Aufwand der Fotografie zu Hanels Zeiten kaum vorstellen. Er musste jede einzelne Aufnahme auf eine Glasplatte bannen, die mit einer empfindlichen Emulsion beschichtet war. Dann wässerte er sie im schummrigen Rotlicht der Dunkelkammer, badete sie im Entwickler und anschließend im Fixierbad.
Hanel musste ein Perfektionist sein, ein echter Könner: Jede Sekunde bei der Entwicklungszeit, ja selbst Temperaturschwankungen beeinflussten die fotochemischen Prozesse. Das fertige Negativ kopierte er dann von der ersten auf eine zweite Glasplatte um. Dazu spannte er auf die Platten einen Rahmen, belichtete – und erhielt so ein Positiv. Auch das musste wieder gewässert, entwickelt, fixiert und getrocknet werden. Und dann folgte der eigentliche Geniestreich: die Kolorierung.
„Mich erstaunt, dass Hanel die Farbnuancen so gut getroffen hat“, wundert sich Christiane Jacquat heute. „Wie hat er das geschafft – Tage nachdem er die eigentlichen Pflanzen gesehen und fotografiert hat?“ Die Botanikerin hat inzwischen eine gute Vorstellung davon, wie die Kolorierung ablief.
Handkolorierte Schwarz-Weiß-Fotografien
Mit den Lippen spitzte Hanel wohl den feinen Marderhaarpinsel an, tauchte unter ein schwarzes Tuch. Dort unten verbarg sich sein Retuschierpult. Es war gegen das Fenster gerichtet, und ein beweglicher Spiegel lenkte das Licht zu einer Mattscheibe. Auf ihr lag das Glasdia, dem Hanel Leben einhauchen wollte: ein schwarz-weißer Sauerkirsch-Zweig etwa oder eine farblose Sumpfdotterblume. Der Fotograf benutzte selbst angerührte Eiweißfarben.
Die Lupe stets vor dem Auge, trug er hauchdünne Schichten auf. Ein winziger Ausrutscher genügte, um das Bild unbrauchbar zu machen: Die Gelatine-Emulsion auf dem Glasdia saugte die Farbe sofort auf, machte Korrekturen unmöglich. Doch fast immer gelang das Meisterwerk. Die Sauerkirschen glänzten appetitlich, die Sumpfdotterblume leuchtete wie die Sonne. War die Kolorierung vollbracht, wurde das Dia sorgfältig mit einem zweiten Glas abgedeckt und einem schwarzen Klebeband versiegelt.
Insgesamt stellte Hanel vermutlich bis zu 2000 verschiedene Naturmotive her und verkaufte die einzelnen Glasplatten. Reich wurde er damit nicht. Aber er war unter Experten angesehen und zahlreiche Fotos fanden ihren Weg in Ratgeber oder Zeitschriften. Am 12. November 1940 starb Josef Hanel an Tuberkulose, im Alter von 75 Jahren. Nachrufe rühmten seine „prächtigen Pilzlichtbilder“ und Hanels selbstlose Art.
„Seine fotografische und koloristische Arbeit, seine Neuschöpfung der Schönheiten der Natur, bleiben ein Brunnen von Freude und Ergriffenheit“, schrieb die niederländische Mycologische Vereniging. Und dann? Dann vergingen die Jahre. Glasdiapositive kamen aus der Mode. Josef Hanel geriet in Vergessenheit – bis zu jenem Tag, als Christiane Jacquat zufällig im Keller auf die Holzschatullen stieß.
Drei Jahre Spurensuche nach Hanel
Drei Jahre hat die Schweizerin ihrer Spurensuche gewidmet. Jacquat hat dafür gesorgt, dass auch anderswo Josef Hanels Bilder wiederentdeckt und gewürdigt werden: Das Naturkundemuseum im Ottoneum der Stadt Kassel beispielsweise fand im Archiv eine riesige vergessene Sammlung. Auch in der Universität Jena und bei einem Schweizer Privatsammler tauchten Bilder auf.
Christiane Jacquat ist glücklich, dass die fotografierten und kolorierten Pilze, Farne und Blumen wieder in ihrer Farbenpracht leuchten dürfen und dass sie Josef Hanel zu postmortalem Ruhm verholfen hat.