Die Unternehmerinnen Letícia, Lara, Lena und Laís Pontes setzen sich für die Sicherheit ihrer Arbeiter, für wirtschaftliche Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit ein. Denn Raimundo Nonato und seine Leute ernten Carnaúba-Blätter von 15 Meter hohen Palmen im brasilianischen Hinterland.
In einem Palmenhain im Nordosten Brasiliens schneidet ein halbes Dutzend Arbeiter aus Palmwipfeln in 15 Meter Höhe fächerförmige Blätter, die raschelnd in die Tiefe stürzen. Sie verwenden dazu schwankende, aneinandergebundene Bambusstangen, an deren Ende sichelförmige Messer befestigt sind, und verrichten diese schwierige Arbeit wegen einer winzigen Menge eines hellen Pulvers, das an den dunkelgrünen Blättern haftet. Mit dem Erlös der Substanz ernähren die Männer ihre Familien.
Der 38-jährige Raimundo Nonato Vieira Sampaio leitet die Gruppe, wird von allen nur Renato genannt und hilft, die Blätter einzusammeln. Mit einer Machete schlagen er und seine Leute die dornigen Stiele ab, bündeln die Fächer und breiten sie auf dem staubigen Erdboden für zwei Wochen zum Trocknen aus. Die Männer arbeiten zügig, denn die Regenzeit naht. Dann spülen tropische Schauer das anfangs klebrige, später staubtrockene Pulver von den Kanten der Blätter, mit dem diese sich in der Hitze der Steppe vor Feuchtigkeitsverlust schützen. Die Substanz enthält ein natürliches Wachs, das weltweit viele Menschen täglich nutzen, ohne sich über Herkunft und Name Gedanken zu machen: Carnaúba. Es ist rein pflanzlich, vegan und schadstofffrei.
Als härtestes natürliches Wachs schmilzt Carnaúba-Wachs erst bei rund 83 Grad und bietet daher vielfältige Einsatzmöglichkeiten: Man kann Kerzen daraus gießen, Lippenstiften und Cremes eine geschmeidige Konsistenz und Glanz verleihen, die verdaubare Hülle von Tabletten stabil halten, Fruchtgummis vor dem Zusammenkleben schützen oder Autowachs ohne synthetische Inhaltsstoffe herstellen. Entsprechend groß ist die Nachfrage: In den brasilianischen Bundesstaaten Ceará, Piauí und Rio Grande do Norte zählt Carnaúba zu den wichtigsten Exportgütern.
Keine Zeit verlieren
Doch schon im drei Flugstunden entfernten Rio de Janeiro kennt man es nicht mehr, wie Lara Pontes erzählt. Sie ist Präsidentin der Firma Pontes Indústria de Cera in der 2,6-Millionen-Stadt Fortaleza in Ceará, von wo aus Carnaúba-Wachs in die ganze Welt exportiert wird. Die 46-Jährige ist mit Carnaúba aufgewachsen. „Carnaúba, es ist mein Leben!“, sagt sie und zieht dabei das „au“ beinahe zärtlich etwas in die Länge. Ihr Großvater Liaderson gründete das Familienunternehmen 1956, ihr Vater Domingos übergab es 1995 an seine Tochter. Sie hat in Europa Betriebswirtschaft studiert und führt Pontes heute gemeinsam mit ihren Schwestern Lena und Laís.
Die Belegschaft hat sich vervielfacht, auf inzwischen 150 Angestellte. Die eloquente Lara ist das Gesicht der Firma, Psychologin Lena leitet das Personalwesen und „gibt uns Stabilität“. Laís als Fotografin mit Abschluss an der renommierten School of the Art Institute in Chicago ist fürs Kreative zuständig. Das einfache „Direktionszimmer“ teilen sie sich mit Laras Tochter Letícia, die vor Kurzem ihr Betriebswirtschaftsstudium beendet hat und mit 22 Jahren als Vertriebsmanagerin eingestiegen ist. So sitzen dritte und vierte Generation nah beieinander und können sich leicht und schnell über alles Wichtige austauschen.
„Wir haben keine Zeit zu verlieren“, erklärt Lara Pontes energisch. Denn
die vier Frauen haben es sich zur Aufgabe gemacht, über ihr eigenes Unternehmen hinaus die Carnaúba-Wertschöpfungskette nachhaltig zu verbessern. Die Existenz von Carnaúba überhaupt war bis dahin ebenfalls kaum bekannt.
Zu Renato und seinem Team muss man weit fahren: von Fortaleza aus hinein in das riesige karge Hinterland. In dieser schier endlosen Weite gibt es kaum Straßen und nur kleine Orte mit farbig gestrichenen Kirchen. Hier und da ragen zwischen dornigen Büschen Carnaúba-Palmen in den Himmel. Alle Vorkommen sind endemisch, wachsen auf natürliche Weise nur hier und stehen auf dem Land privater Großgrundbesitzer.
Plantagen anzupflanzen lohnt sich finanziell nicht, da die Palmen erst nach etwa 20 Jahren ihre volle Größe erreichen. Also verpachten die Eigentümer zur Erntezeit ihre Carnaúba-Flächen an lokale Gruppen, die im Umkreis ihres Wohnortes umherziehen – wie Renato und seine Leute. Niemand weiß bis heute genau, wie viele Menschen auf diese Weise mit Carnaúba ihr Einkommen bestreiten. „Es sollen rund 200.000 Landarbeiter generell sein“, sagt Lara Pontes, „aber diese Zahl wird schon seit Jahren genannt.“
Sicherheit schaffen
Lara Pontes und ihre Schwestern wollen für mehr Klarheit sorgen. Die Namen von Arbeitern wurden in der Vergangenheit nicht registriert, sie erhielten über die lokalen Produzenten weder Verträge noch waren sie versichert und mussten oft unter unwürdigen Bedingungen ihrer gefährlichen Arbeit nachgehen: ohne Schutzkleidung gegen die Hitze und die scharfkantigen dornigen Palmfächer. Statt sauberem Trinkwasser stand oft genug nur Wasser aus einem Fluss zur Verfügung.
2015 hatte das brasilianische Arbeitsministerium die acht großen Carnaúba
produzierenden Unternehmen um Unterstützung gebeten, weil es selbst an der Aufgabe gescheitert war, sich eine Übersicht über den Wirtschaftszweig zu verschaffen. Lara Pontes unterschrieb eine entsprechende Erklärung und erfuhr erst später, dass sie die Einzige gewesen ist, die nachhaltige Lösungen für die Lieferkette entwickelte und umsetzte.
Seither ist vieles besser geworden. Pontes hat auf eigene Kosten Sicherheitssets entwickelt und mehr als 12.500 davon kostenlos verteilt: leichte Handschuhe, Strohhüte, Schutzbrillen und knöchelhohe Gummischuhe – und nicht schwere Helme und kniehohe Stiefel, wie das Ministerium sie in einem ersten Entwurf geplant hatte. „Die hätte in der Hitze niemand getragen“, sagt Lara Pontes. Ihr Unternehmen hat mobile Toiletten und Kanister für sauberes Trinkwasser zur Verfügung gestellt. Mehr als 40 Trainings wurden veranstaltet, in denen ein Rechtsanwalt allein bis Sommer letzten Jahres mehr als 2000 Arbeiter über ihre Rechte aufgeklärt hat, ihren Anspruch auf einen Arbeitsvertrag, faire Bezahlung, Urlaubstage, Beiträge für die Rente.
„Viele waren stolz, es war die erste berufliche Fortbildung, die sie jemals
erhielten“, berichtet Lara Pontes. „Etliche waren aber auch skeptisch“, ergänzt sie, zumal mancher Mitbewerber bis heute den Arbeitern versichert, sie brauchten „den Papierkram“ nicht.
Mehr als ein Drittel ihrer Lieferanten büßten die Pontes-Schwestern zunächst ein. Manche kehrten jedoch zurück und brachten andere mit. Die Arbeiterfamilien sprachen endlich miteinander und erfuhren, dass sie bisher viel zu schlecht entlohnt wurden. Denn Zwischenhändler bezahlen sehr wenig pro Kilogramm Carnaúba, egal wie hochwertig das enthaltene Wachs ist.
Pontes hingegen analysiert die Eigenschaften des gelieferten Rohstoffs vor der Bezahlung im Labor, noch bevor das Wachs gereinigt und weiterverarbeitet wird. Die Schwestern und Letícia wissen genau, wie viel Wachs eine Lieferung enthält und ob es von älteren Blättern stammt oder aber von jungen Blättern, deren Wachs die Kosmetik- und die Lebensmittelbranche schätzen. Und für das Pontes pro Kilogramm sehr viel besser bezahlt. Sie verhandeln direkt mit den Arbeitern und ihren Vorgesetzten.
Die Ernte lohnt sich
Auch Renato verkauft seit 2016 direkt an Pontes und kann so seinen Leuten einen garantierten Monatslohn zahlen, der über dem gesetzlichen Minimum liegt, und Sozialstandards einhalten. „Mir gefällt die Transparenz“, sagt der kleine, schmale Mann. „Ich wollte nicht mehr in der Angst leben, etwas Illegales zu tun und dabei entdeckt zu werden.“ Dabei spricht er von den früher üblichen Verstößen gegen Sozialstandards und Menschenrechte, nicht von der Carnaúba-Ernte als solcher. Renato kann übrigens mit bloßem Auge erkennen, wie viele Blätter sich auf einem
Stück Land mit Carnaúba-Palmen ernten lassen – und wie hoch der Ertrag an Wachs in etwa sein wird: Eine Palme hat 50 bis 60 Blätter mit jeweils rund fünf Gramm Wachs, das macht pro Palme rund 275 Gramm Wachs.
Bei der Weiterverarbeitung werden die getrockneten Blätter in Pulver und Stroh getrennt. Aus Carnaúba-Stroh werden Hüte und Matten geflochten, Seile für Hängematten gedreht, Kuhfutter oder Dünger für die Landwirtschaft zur Regenzeit hergestellt. Für die Pontes ist jedoch das Carnaúba-Pulver wichtig: In der viermonatigen Erntezeit von August bis in den Dezember fährt Renato einmal wöchentlich zur Firma Pontes und liefert über die Saison insgesamt etwa 30 Tonnen. Seit er direkt mit dem Unternehmen verhandelt, lohnt sich die Carnaúba-Ernte für ihn und seine Familie. Vom Gewinn kann Renatos ältester Sohn Renan bald auf eine Privatschule in Fortaleza gehen und vielleicht später Medizin studieren.
Für mehr Nachhaltigkeit
Von Pontes haben Renato und seine Leute auch gelernt, wie sie die Palmen nachhaltig schneiden können. „Wer das nicht beherrscht, tötet die Pflanzen!“, sagt er, und dass man auf keinen Fall das „Herz“ der Palme verletzen darf, in dem die Strünke der Blätter zusammenlaufen. Auch muss man darauf achten, keine unreifen Samen abzuschlagen, die dann am Boden nicht mehr keimen und damit dem Ökosystem der Gegend schaden. „Carnaúba ist ein zentraler Teil unserer Landschaft, es ist unser Erbe“, sagt Lara Pontes. Auch deshalb ist ihr Unternehmen seit 2018 Mitglied bei der Union of Ethical BioTrade (UEBT), die sich für einen respektvollen Umgang mit den Arbeitern einsetzt und für den Erhalt der Artenvielfalt in der Ernteregion. In den kommenden Jahren will Pontes dies für jeden Schritt seiner Lieferketten sicherstellen. Audits, regelmäßige Überprüfungen, finden bereits bei ihren Lieferanten statt. Ob sie Geld für ihr Engagement erhalten hat? „Natürlich nicht!“, ruft Lara Pontes aus und ergänzt, dass dies für ihr Familienunternehmen eine Herzenssache sei.
Trotzdem ist der Bestand an Carnaúba-Palmen bisher nicht gesichert. Zwar müssen für jede Palme, die gefällt wird, fünf neue nachgepflanzt werden. Aber eine andere Pflanze bedroht das Überleben der Palmen: der „Gummiwein“ aus Madagaskar (Cryptostegia madagascariensis), einst wegen seiner lilafarbenen, trompetenförmigen Blüten eingeführt. „Erntet man nur ein Jahr die Palmblätter nicht und entfernt nicht rigoros den Wein, der dort vielleicht schon emporrankt, ist die Palme im nächsten Jahr nicht mehr zu retten“, sagt Renato.
Carnaúba ist der „Staatsbaum“ von Ceará, und mit ihm wird die Überzeugung deutlich, dass die Arbeit mit Carnaúba wichtig ist und wunderschön. Es gibt nicht viel, was so gut funktioniert. Die Ernte hilft den Palmen, sich zu erneuern, und beugt der Ausbreitung des invasiven Weins vor, der die Pflanzen und damit ihr Ökosystem ansonsten zerstört. Das Wachs der Palmen ist natürlich, ohne Schadstoffe und es entsteht kein Abfall, und so ist der gesamte Prozess ist nachhaltig.