Das tut eigentlich niemand: In einem entlegenen Bergdorf, in einer anderen Sprachregion ein Haus kaufen, um dort steilen, unebenen Boden zu bewirtschaften. Boden, der einen fordert und einem nicht mal gehört. Doch genau das machen Franziska Krauss und ihr Mann Frédéric Juillerat.
Sie hatten sich im Studium kennengelernt, wurden beide Materialwissenschaftler und wurden auch zum ersten Mal Eltern, während Franziska an ihrer Doktorarbeit schrieb. Ein zweites Mal, als ihre Hochschulkarriere begann und sie Professorin werden sollte. Doch die Karriere wollte Franziska nicht mehr, lieber in das Bergdorf Verdabbio ziehen.
Auf 630 Meter Höhe, im Misox, einem der südlichen Täler des Kantons Graubünden in der Schweiz. Dort pachten sie von 23 verschiedenen Besitzern Land. Und sind so mit Ansprüchen von Menschen konfrontiert, die schon lange selber nichts mehr zu tun haben wollen mit der anstrengenden Bewirtschaftung und Pflege ihrer Scholle.
Als wären diese Boden-Umstände nicht schon abschreckend genug: der Stall liegt abgelegen außerhalb vom Bergdorf und kann ebenfalls nur gepachtet werden. Die Kühe müssen vom Stall zu den verschiedenen Weiden und Waldlichtungen geführt werden, in der Vegetationszeit Tag für Tag.
Wertvoller Lebensraum für Tiere und Pflanzen
Ein Teil des Bodens ist terrassiert, der andere steil abfallend. Das Heuen und Schneiden der Wiesen bis in die Ecken und entlang den Rändern der maroden, teils zerfallenden Terrassen ist körperlich anstrengend und gefährlich: Der Transporter, den man zum Einsammeln und Transport des Heus braucht, kann kippen oder gar abstürzen.
Nur langsam kommen sie vorwärts, denn diese strukturreiche Landschaft bedarf eines besonders aufmerksamen, vorsichtigen Arbeitens. Die Trocken-und Stützmauern der Terrassen sind aus naturbelassenen Steinen aufgeschichtet, ohne Mörtel. Das macht diese oft uralten Steinmauern zu einem wertvollen Lebensraum für diverse Tiere und Pflanzen.
Die Landschaften sind nicht nur eine Freude fürs Auge – sie sind vor allem von unschätzbarem Wert für Insekten, Reptilien und Vögel.
Einst war der Boden urbar. Jetzt wuchern die Brombeerstauden schnell und erobern ganze Weideflächen, wenn man ihnen nicht regelmäßig mit dicken Handschuhen trotzt. Auch der Wald breitet sich aus – das findet erstmal positiv, wer sich wegen des Klimas große Sorgen macht. Aber die von den Bergbauern gepflegten, strukturreichen Landschaften sind nicht nur eine Freude fürs Auge – sie sind vor allem von unschätzbarem Wert für Insekten, Reptilien und Vögel.
Biodiversität ist eine der großen Freuden
In Teilen der Schweizer Alpen sind diese ökologisch wertvollen Landschaften dank staatlicher Unterstützung noch einigermaßen intakt. Aber diese Subventionen rechnen sich für jene Bauern, die das schwierige Berggelände pflegen, fast nicht. Es braucht viel Idealismus, es trotzdem zu tun – oder wie Franziska Krauss, sagt: „Die Biodiversität hier ist eine der großen Freuden. Sie ist auch mein Interesse, mein Hobby.“
Nach Pflanzen und Tieren gefragt, zählt sie auf: „Zornnatern, die wunderschönen Smaragdeidechsen, gelb und rot getupfte Feuersalamander, verschiedene Orchideen wie Männliches Knabenkraut, Brandorchis, Dreizähniges Knabekraut, Kleines Knabenkraut, oder der Zartblättrige Spargel.“ Auch viele Schmetterlingsarten wie Segelfalter, Bläulinge und der bekannte Schwalbenschwanz sehe sie an warmen, trockenen Tagen: „Und fast vergessen hätte ich die rotflügelige Ödlandschrecke, die Trockenmauern und Trockenwiesen liebt.“
Boden verteidigen – ein Job, der glücklich macht
Das viele Sein in diesen Biotopen schärfe ihre Sinne, sagt Franziska Krauss. Sie nehme sich, auch wenn sie gestresst sei und eigentlich zu viel zu tun habe, bewusst kleine Auszeiten. Setzt sich hin und beobachtet das krabbelnde, fliegende oder einfach still da stehende Leben.
„Einigen Zornnattern und Smaragdeidechsen begegne ich regelmäßig auf meinen Wegen oder Weidegängen und grüße sie.“ Würde sie nicht mähen, würde der Boden langsam zuwachsen, wie es an vielen steilen Lagen in den Alpen passiert, und dann verlören diese Tiere einen weiteren Lebensraum, ein weiteres Biotop. „Deshalb verstehe ich meine Arbeit auch als ein Verteidigen von Boden“, sagt die Bergbäuerin.
Würde sie nicht mähen, würde der Boden langsam zuwachsen und dann verlören diese Tiere einen weiteren Lebensraum.
Es ist einer dieser eher untypischen Tage, an denen es nördlich der Alpen sonnig und beinahe schon frühlingshaft warm ist, während der Süden unter einer grauen Nebeldecke liegt und verregnet wirkt. Aber die Kinder, die um die Mittagszeit von der Schule in Grono im Postauto ins kleine, verschlafene Bergdorf Verdabbio hinauf fahren, tragen die Sonne auf dem Gesicht.
Eines der Mädchen ist Alinor, Franziskas und Frédérics Tochter. Stolz führt sie den Besuch durch eine schmale gepflasterte Gasse, vorbei an traditionellen Steinhäusern, zum Elternhaus mitten im Bergdorf. Das Essen duftet schon durch die Eingangstür, ein junger, ungestümer Mischlingshund kommt angerannt.
Die vierköpfige Familie lebt bescheiden
Alinors großer Bruder Tristan sitzt im kleinen Esszimmer, das auch Wohnzimmer ist, und blickt kurz von seinen Hausaufgaben auf. In einem Kamin brennt Holz, es wärmt den ganzen, kleinen Raum und heizt das ganze Haus. Viel Platz, um sich auszubreiten, ist da nicht, die vierköpfige Familie lebt bescheiden. Bald werden sie renovieren, aus eigener Kraft. Hinter der Küche hat es noch einen Raum, Bücher zu verschiedenen Themen liegen auf einer Kommode.
An den Wänden hängen selber gemalte Bilder, auf Instagram findet man Fotos, die ihren kleinbäuerlichen Familienalltag dokumentieren. Die Bäuerin, die beinahe Professorin geworden ist, lenkt ihren Wagen über eine steile, kurvige Straße bergwärts. Sie parkt unterhalb des Waldrandes. Zu Fuß geht es durch eine Selva, ein Hain voller alter Kastanienbäume – nicht die edlen, süßen Marroni, sondern die mehlige Sorte Verdèr – hinauf zu einer Ansammlung uralter winziger Steinhäuser, die in den steilen Hang hinein gebaut sind.
Hier lagern sie den Käse, wie das die Bauern seit Jahrhunderten taten. Diese Grotti sind natürliche Kühlschränke.
Urtümliche Grotti auf einer Lichtung im Wald, mit alten Steintische und Steinbänke davor. Franziska Krauss öffnet eine Tür und zeigt auf grosse und kleinere Käselaibe: „Das sind unsere. Der Alpkäse vom Sommer und unsere selbstgemachten Halbhart-Käse. Viel ist es noch nicht. Wir wollen mehr Käse produzieren. Hier lagern wir sie, wie das die Bauern vom Bergdorf seit Jahrhunderten taten. Diese Grotti sind natürliche Kühlschränke.“
Kühlschränke von gestern: Grotti im im Bergdorf
Verdabbio liegt in einem Bergsturzgebiet, das Gelände ist zerklüftet. An gewissen Stellen dringt kühle Luft aus dem Innern des Bergs an die Oberfläche: der Fiadirè. „In einem Grotto ist es dank ihm auch an den heißesten Sommertagen nie wärmer als zehn Grad“, erzählt Franziska Krauss.
„Hier lagerten die Dorfbewohner früher ihren ganzen, selber produzierten Reichtum: Salami, Formagelle und anderen Käse, Wein, Obst, Gemüse. Es hat noch immer um die dreißig solcher Grotti hier, die einen in besserem Zustand als die andern.“ Franziska Krauss vermutet, dass die kühle, feuchte Luft, die das Klima eines natürlichen Kühlschranks schafft, durch unterirdisches Wasservorkommen entsteht. Wegen der zerklüfteten Struktur des Bodens und der Hanglage dringt diese Luft an verschiedenen Stellen aus der Erde. Genau über diesen Stellen wurden die Grotti gebaut.
Etwas später im Stall, unterhalb des Dorfs. Das Paar holt die Kühe rein. Und bemerkt: Die Esel fehlen. Bereits klingelt das Telefon: Eine Nachbarin hat die Tiere gesichtet. Die Bäuerin lacht: „Die Leute rufen spontan an. Manchmal kriege ich zehn Telefonate, wenn ein Tier ab ist.“ Franziska und Fred werden die Esel später holen. Vorher müssen die sechs Kühe versorgt werden.
Milch, Fleisch und Honig vom eigenen Hof
Mit dem Hof verdient das Paar gerade mal so viel, dass es die damit verbundenen Auslagen decken und in bessere Geräte investieren kann. „Wir haben von Anfang an erkannt, dass das bäuerliche Leben hier mit viel Anstrengung und wenig Ertrag verbunden sein würde, aber die Landschaft mit ihrer großen Vielfalt hat uns auf den ersten Blick bezaubert und wir sahen ein großes Potenzial“, sagt Franziska Krauss.
Abgesehen von der Milch, die sie zu Käse verarbeiten, verkaufen sie das Fleisch, das sie zu lokalen Spezialitäten veredeln und auch den Honig von den eigenen Bienen direkt ab Hof. Wegen der dezentralen Lage baut Franziska Krauss einen Online Shop mit Postversand auf. Auch ein kleines Rustico aus dem 17. Jahrhundert renovieren sie, damit sie Gäste und Mitarbeiter empfangen können.
Abgesehen von der Milch, die sie zu Käse verarbeiten, verkaufen sie das Fleisch und auch den Honig von den eigenen Bienen.
„Bin ich Mensch oder Maschine?“, hatte sich das Paar einst an der Hochschule gefragt. Muss sie sich hier nicht dieselbe Frage wieder stellen? „Es stimmt, wir arbeiten praktisch immer“, sagt Franziska Krauss nachdenklich, „aber diese Arbeit mit dem Boden und den Tieren ist belebend und erquickend.“
Sie bevorzuge ohnehin das Wort schaffen, um etwas zu vollbringen: „Wie man auch etwas erschafft oder es einem gelingt.“ Und abgesehen davon: Zweimal am Tag melken bedeute für sie eingebunden zu sein in Rhythmus und Halt. Boden eben. Darum tun sie, was niemand sonst tun würde: „Hier möchten wir bleiben, in diesem Boden möchten wir tiefe Wurzeln schlagen.“
Zur Person
Franziska Krauss gab ihre Karriere als Wissenschaftlerin auf und bewirtschaftet mit ihrem Mann Frédéric Juillerat in einem der südlichsten Täler des Kantons Graubünden in der Schweiz Land, das sie von 23 verschiedenen Besitzern gepachtet haben.