Birgit Schneider Klimabilder

„Kunst überwindet die Sprachlosigkeit“

Interviews

Infografiken und Bilder wie vom Eisbären auf der Scholle bringen uns den Status der Klimakrise nahe. Die Wissenschaftlerin Birgit Schneider forscht zur Wirksamkeit von Klimabildern.

Frau Schneider, als Menschen spüren wir, wenn ein Gewitter aufzieht, und können einschätzen, ob es heute wärmer ist als gestern. Wir haben ein recht gutes Gespür für das Wetter. Anders verhält es sich mit dem Klima, das wir weniger zuverlässig beurteilen können, obwohl es sich derzeit stark verändert. Warum ist das so?
Birgit Schneider Lassen Sie mich hierauf eine zweigeteilte Antwort geben. Zum einen haben Sie recht, und wir sind tatsächlich nicht gut darin, das Klima und dessen Veränderung einzuschätzen. Und zwar aus dem einfachen Grund, dass wir das Klima im Gegensatz zum Wetter niemals am eigenen Leib erfahren.

Denn was wir Klima nennen, ist der gemittelte Wert sämtlicher messbarer Wetterereignisse, die im Laufe der letzten 30 Jahre stattgefunden haben. Etwas also, das auch niemand wirklich erfahren kann, da es sich um einen abstrakten Wert handelt. Vereinfachend könnte man sagen: Wetter ist der Regen, der gerade fällt, Klima eine Durchschnittsmenge aus Niederschlägen der letzten 30 Jahre in einer Region. Und da wir als Menschen im Hier und Jetzt leben, können wir das Klimas streng genommen gar nicht wahrnehmen.

Und der zweite Teil Ihrer Antwort?
Birgit Schneider Auch wenn diese wissenschaftliche Beschreibung zutrifft, sollte man die menschliche Fähigkeit deshalb nicht abtun, Empfindungen auch über längere Zeit hinweg zueinander in Beziehung setzen zu können. Denn wir sind sehr wohl in der Lage, jetzige Erfahrungen mit jenen aus der Vergangenheit zu vergleichen und daraus Schlüsse zu ziehen.

Auch wir sind ein Klimaarchiv. Ich erinnere mich beispielsweise gut an einige Winter aus meiner Kindheit, die wesentlich kälter und schneereicher waren, als sie es heute sind. Vor dieser Folie aus Erinnerungen wird mit klar, dass sich etwas verändert hat. Ganz besonders lebendig ist mir ein Februar Anfang der 1990er-Jahre im Gedächtnis geblieben, der bereits auf unheimliche Art zu warm war.

Ich hatte damals die ersten Berichte über die Erderwärmung gelesen. Vermutlich zeigte sich in diesen Momenten schon eine Sicht auf die Welt, die ich bis heute vertrete. Dass nämlich unsere Erde ein fragiles Objekt ist, das empfindlich auf menschliche Eingriffe reagiert. Ähnlich wie ein Organismus, auf den wir sehr gut aufpassen müssen.

Dieses Gefühl versuchen Sie auch in Ihrer Arbeit zu vermitteln, indem Sie sich mit Klimabildern beschäftigen. Bildern also, die dokumentieren, wie sich unser Klima verändert.­
Birgit Schneider Seit etwas mehr als 200 Jahren gibt es einen stetig breiter werdenden Bestand von Bildern, mit denen die Forschung die Veränderung des Klimas veranschaulicht. Zunächst waren dies Karten und Datenvisualisierungen. Diagramme, Kurven und Karten also, die uns das Ausmaß der Auswirkungen menschlichen Lebens auf das Klima vor Augen führen. Seitdem vor circa 30 Jahren das Thema in die Öffentlichkeit kam, sind das auch die bekannten Motive wie der Eisbär auf der Scholle, die einsam im Meer treibt, Flutbilder und Gletscherfotos oder seit Kurzem auch Menschen und Tiere vor brennenden Wäldern.

In Ihrem Buch­ „Klimabilder“­ gehen Sie ausführlich auf das sogenannte Hockeyschläger-Diagramm ein. Was verbirgt sich dahinter?
Birgit Schneider Dieses Diagramm ist sicher eines der bekanntesten Klimabilder überhaupt. Es geht auf den Wissenschaftler Michael Mann zurück und wurde erstmals 1998 im Wissenschaftsmagazin „Nature“ veröffentlicht, bevor es 2001 auch in den Weltklimabericht einging. Mann und sein Team untersuchten in den 1990er-Jahren Baumringe, um durch chemisch abgeleitete Analysen jedes einzelnen Rings die Temperaturentwicklung der letzten 1000 Jahre für die Nordhalbkugel zu modellieren.

Die Kurve zeigte, wie die Durchschnittstemperatur der Nordhalbkugel bis kurz vor dem Beginn der Industrialisierung lange stabil war und sogar leicht sank, sie seit dem CO2-intensiven Eingriff des Menschen allerdings rapide ansteigt. Daher auch der Spitzname des Diagramms, das aussieht wie ein liegender Hockeyschläger, für dessen ansteigendes Blatt wir verantwortlich sind. So deutlich wie Mann und sein Team hat zuvor niemand zeigen können, dass der Klimawandel menschengemacht ist.

„Trotz unserer Vernunftbegabung scheinen wir Menschen uns sehr schwer damit zu tun, offensichtlichen Hinweisen für ein Problem entsprechend politisch und gesellschaftlich zu begegnen.“

Allerdings stieß das Bild auch auf viel Kritik, richtig?
Birgit Schneider Forschende vor allem aus nicht klimawissenschaftlichen Disziplinen zweifelten den Hockeyschläger an, sie wollten das Diagramm nicht als Indiz für den menschengemachten Klimawandel anerkennen. Allerdings konnte bisher niemand beweisen, dass das Diagramm fehlerhaft ist. Im Gegenteil wurde es seither immer und immer wieder bestätigt. Leider, muss man sagen.

Was natürlich die Frage aufwirft, ob Klimabilder überhaupt ein sinnvolles Mittel sind, um Menschen vor Augen zu führen, was wir dem Planeten antun, und sie zu entsprechenden anderen Handlungen zu bringen. Sind Tortendiagramme und Tabellen womöglich weniger wirkungsvoll, als wir gerne hoffen würden?
Birgit Schneider Das ist die harte Frage, die wir uns tatsächlich stellen müssen, ja. Denn trotz unserer Vernunftbegabung scheinen wir Menschen uns sehr schwer damit zu tun, offensichtlichen Hinweisen für ein Problem entsprechend politisch und gesellschaftlich zu begegnen. Und das, obwohl die Bilder besonders in den letzten 30 Jahren immer eindrücklicher und zwingender wurden, indem sie an Verständlichkeit und Überzeugungskraft gewonnen haben.

Dies macht ein ums andere Mal deutlich, dass es sich bei Wissenschaft und Politik um zwei getrennte Sphären handelt, die nicht ohne Weiteres ineinander übersetzbar sind. Erschwerend kommt hinzu, dass der Journalismus lange Zeit einer falschen Vorstellung von Objektivität anhing und somit den Positionen von Klimawissenschaftsleugnern, wie ich sie nenne, Vorschub geleistet hat.

Aber Neutralität ist doch eine zentrale journalistische Tugend.
Birgit Schneider Das ist natürlich richtig. Und wir wünschen uns JournalistInnen, die uns auch über Dispute und Gegenmeinungen informieren. Dies bedeutet aber nicht, dass man einem Konsens der Wissenschaft vereinzelte Gegenstimmen gegenüberstellt und annimmt, dass die Wahrheit „irgendwo in der Mitte“ liegt. Zumal wenn diese Gegenstimmen keine aktiven KlimaforscherInnen sind, sondern Mitglieder von Thinktanks.

Genau das jedoch hat diese Form des Journalismus lange getan, indem sie Positionen von selbsternannten Experten anderen, fundierteren gegenübergestellt hat. So konnten Klimawissenschaftsleugner ihre Ideen durch viel Sendezeit nachhaltig in den Köpfen platzieren. Um die Veränderung unseres Klimas künftig besser kommunizieren zu können, sollten wir diese falsche Gleichgewichtung unterlassen und Wissen über die Klimakrise auf den drei Ebenen vermitteln, die wichtig sind, um etwas wirklich umfassend verstehen zu können.

„Kunst bringt uns die globale Erwärmung auf eine Weise näher, die unsere Vernunft sowie unsere Emotionen anspricht und uns vielleicht sogar zu besserem Handeln motiviert.“

Welche wären das?
Birgit Schneider Wir Menschen können auf der Vernunftebene (Logos), der Leidenschaftsebene (Pathos) und der moralischen Ebene (Ethos) angesprochen werden. Die Klimaforschung kümmert sich um den Logos, die Bilder und Diagramme sind in erster Linie informativ. Und doch funktionieren sie wie ein Rorschachtest. Dieser wird in der Psychologie eingesetzt und besteht aus kaum mehr als einem symmetrischen Farbklecks. Doch man deutet ihn emotional und merkt, was in unserem Inneren vorgeht.

Auch in Anbetracht nüchterner Kurven springen Gefühle und Bilder ein. Pathos und Ethos, also Leidenschaft und Moral, kamen erst dazu, als deutlich wurde, dass ein sich veränderndes Klima etwas mit Menschen und anderen Lebewesen zu tun hat. Das bereits erwähnte Bild des Eisbären war auf der emotionalen Ebene sehr effektiv.

Und die Komponente des Ethos verkörpern Menschen wie Greta Thunberg, die sich hinstellen und sagen, dass wir handeln müssen?­
Birgit Schneider Ja, sie verbindet sogar alle drei Bereiche. Ein anderer Bereich, in dem alle drei Ebenen im Bestfall auf sehr eindrückliche Weise zusammenkommen, ist die Kunst. Kunst bringt uns die globale Erwärmung auf eine Weise näher, die unsere Vernunft sowie unsere Emotionen anspricht und uns vielleicht sogar zu besserem Handeln motiviert. Ein tolles Beispiel hierfür ist das Projekt „Shifting Winds“ der Künstlerin Nathalie Miebach. Sie hat aus Wetterdaten sehr atmosphärische Musik komponiert. Solche Werke senken die Schwelle für vorschnelle Ablehnung schlechter Nachrichten, weil sie uns innerlich bewegen.

Beschleicht Sie dennoch nicht auch gelegentlich das Gefühl, dass all diese Zahlen und Zeiträume so groß sind, dass man nicht sinnvoll über sie sprechen kann? Bietet die Kunst auch hierfür eine Lösung?
Birgit Schneider Ich kenne eine ganze Reihe von KlimaforscherInnen, die sagen, dass ihre Arbeit ihnen zwar die Instrumente an die Hand gibt, um etwas über den Zustand des Klimas auszusagen, dass sie allerdings keine Sprache haben, um auszudrücken, wie emotional überwältigt und deprimiert sie manchmal von ihren Erkenntnissen sind. Kunst überwindet die Sprachlosigkeit. Ich bin der festen Überzeugung, dass Kunst Orientierung geben kann. Und dass sie es vermag, insbesondere die Dissonanzen zu erkennen und auszuhalten, in denen wir täglich leben.

Auch Friedrich Schiller glaubte, man müsse Menschen einfach ästhetisch bilden, damit sie moralisch gut werden. Sollten die Menschen heute also Klimabilder studieren, um die Umwelt zu schützen?
Birgit Schneider Schiller folgte hier Aristoteles. Dieser glaubte, dass der Konsum von Tragödien praktisch ein emotionales Übungsfeld sei, auf dem man zittern und schaudern könne. Und das, ohne dass man selbst in seiner Existenz bedroht sei. Insofern liegt der Gedanke nahe, dass uns auch die Klimaforschung Stoff für eine Tragödie liefert, die wir als ProtagonistInnen gestalten. In diesem Szenario käme ForscherInnen die Rolle der Kassandra zu, die die Zukunft voraussah, der jedoch niemand Glauben schenkte.

Sie klingen allerdings, als wären Sie von dieser Deutung nicht überzeugt.
Birgit Schneider Bin ich auch nicht. Wir könnten uns den Klimawandel auch als eine Komödie erzählen und zum Beispiel die Handlungsmacht des Karbon-Chauvinismus und die ironischen Seiten betonen. Oder im Lachen eine Öffnung zu einer neuen Sicht zu finden. Ich sammle Comics zum Thema Klimawandel, auch das ist eine Möglichkeit, um unvorstellbare wissenschaftliche Erkenntnisse in die Köpfe zu bringen.

Kann uns eine Mischung aus Hockeyschläger und Humor retten?
Birgit Schneider Einen Versuch ist es zumindest wert, denn das Thema ist viel zu ernst, als dass wir den Humor ausschließen sollten

 

Zur Person
Birgit Schneider studierte Kunstwissenschaft, Medientheorie und Medienkunst in Karlsruhe, London und Berlin und ist heute Professorin am Institut für Künste und Medien der Universität Potsdam. Einer ihrer Forschungsschwerpunkte liegt in der Untersuchung von Bildern und Wahrnehmungsweisen der Umwelt und des Klimawandels. 2018 erschien von ihr „Klimabilder. Eine Genealogie globaler Bildpolitiken von Klima und Klimawandel“ im Verlag Matthes & Seitz.

 

Kulturtipps von Birgit Schneider

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Das Buch der damals erst 28-jährigen Annie Dillard „Pilger am Tinker Creek“ hat mich dieses Jahr zutiefst beeindruckt. Ihre Sicht auf die Welt, ihre Beobachtungsgabe und Poesie sind etwas vom Schönsten, was Nature-Writing zu bieten hat.

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Das Wetter begreifen und hören: Die Künstlerin Nathalie Miebach flechtet Wetterdaten von Stürmen in eindrucksvolle Skulpturen aus buntem Rohr und Perlen. In ihrem „The Weather Score Project“ arbeitet sie mit MusikerInnen zusammen, die die Sturmdaten in Musik erklingen lassen. nathaliemiebach.com/weatherscores.html

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In dem Film „Another Earth“ von Mike Cahill aus dem Jahr 2011 taucht plötzlich eine zweite Erde am Himmel auf. Das ist der Rahmen für das Drama einer jungen Frau, die einen Unfall verursacht hat. Den hofft sie nun rückgängig machen zu können.

Text Dominik Erhard
Foto Iris Janke

Dieses Interview ist erschienen in Werde 01/2021