Wer zu Campo Cortoi will, einer Tessiner Alpsiedlung, muss viele Stufen hinaufsteigen. Und setzt sich bei Stefanie und Mario Sterchi-Buschle erst einmal an den großen Tisch.
Über mir schwirren und zirpen Mauersegler zwischen Palmen und um den Kirchturm herum. Der Blick schweift in die Weite des unteren Verzascatals, über den Stausee von Vogorno bis hinunter zum Lago Maggiore, eingerahmt von steilen bewaldeten Hängen, in der Ferne verlieren sich die Berge im Dunst. Die Aussicht vom Kirchplatz des Bergortes Mergoscia lässt mich nach der kurvenreichen Fahrt im Postbus wieder tiefer atmen. Ich bin angereist, um das oberhalb des Dorfes gelegene Ferien- und Begegnungszentrum Campo Cortoi zu besuchen. Hier auf der Piazza, die leer und verlassen in der Vormittagssonne liegt, endet die Straße. Es geht also zu Fuß weiter in die Monti di Cortoi: zunächst eine Steintreppe durch das steil gelegene Dorf hinauf, dann auf einem Wanderweg im Zickzack durch den Wald.
Nach einer Dreiviertelstunde komme ich zu einer großen Alplichtung mit einem handbemalten Holzpfeil: Campo Cortoi. Dicht an dicht stehen dort die traditionellen Steinhäuser mit ihren kleinen Fenstern. Ich steige die schmalen Steinstufen zwischen den Rustici hinauf, von weiter oben sind Stimmen zu hören. Labyrinthartige Gässchen und Treppen zwischen Natursteinmauern führen zum Herzstück des Dörfchens: einem Sitzplatz mit zwei ausladenden Steintischen unter dem größten Haus. Daneben befindet sich das Wohnhaus von Stefanie und Mario Sterchi-Buschle, die seit sechs Jahren hier leben und als Betriebsleiter das Begegnungszentrum Campo Cortoi führen. Von Frühling bis Herbst empfangen sie Schulklassen, Familien und Einzelpersonen, bieten Kräuter- und Steinmauerkurse an, pflegen mit den Gästen das Umland, reparieren die alten Häuser.
Genossenschaft für die Alp
Damit stehen Mario und Stefanie in einer langen Reihe von Menschen, die das Zentrum seit seiner Gründung in den frühen 60er-Jahren mitprägen. Campo Cortoi war damals eine Alpsiedlung, über Jahrhunderte hatten Bauern aus Mergoscia ihr Vieh dort weiden lassen, schließlich wurde es nicht mehr bewirtschaftet, die Rustici drohten zu zerfallen. Wahrscheinlich wäre dort, wo jetzt das belebte, gut gepflegte Campo steht, nur noch dichter Wald. Dazwischen, kaum sichtbar, vielleicht überwachsene Ruinen. Wie so viele andere Alpen im Tessin wurden auch die Monti di Cortoi verlassen, viele Menschen aus dem Ort Mergoscia ließen das Bauern sein.
„Die Jugendlichen lernen hier, Kreisläufe zu verstehen. In der Stadt kannst du eine Viertelstunde duschen, hier nimmst du damit den anderen das Wasser weg.“
Für ein Grüppchen aus Zürich ging die Bewegung Anfang der 60er-Jahre in die andere Richtung: Die Verantwortlichen des Zürcher Jugendzentrums „Drahtschmidli“ suchten nach einem Ort für Ferienlager und konnten mithilfe von Spenden 1963 die Alp oberhalb von Mergoscia kaufen, ein Jahr darauf wurde die Genossenschaft gegründet. Die Restauration der alten Häuser und die Gestaltung des Umlands mitten in der Natur verlangten von den jungen Menschen viel Einsatz und Energie. In der damals konservativ-einengenden Stadt gab es dafür keine Möglichkeiten. Auch heute noch ist es ein Hauptanliegen des Projekts, durch praktische Arbeiten ein Bewusstsein für die Natur und die Verbundenheit der Menschen mit ihr zu vermitteln. Die finanzielle Unterstützung der Stadt Zürich allerdings wurde letztes Jahr gestrichen. Mario Sterchi möchte darin keinen Grund zur Sorge sehen: „Das kann auch eine Chance sein“, sagt er, dafür, dass das Projekt von denen getragen wird, die es lieben und kennen. Die Mitgliederzahl der Genossenschaft sei stark gestiegen, seit sie auf die neue Situation aufmerksam gemacht hätten, der Vorstand verjünge sich, erzählt Mario.
Die Energie des Campo
Ein Großteil des Stroms für Campo Cortoi stammt von Sonnenkollektoren, die auch dafür sorgen, dass warmes Wasser aus den Leitungen fließt. Vor zwei großen Holzunterständen bleibt Mario stehen. „Das ist das Energiezentrum vom Campo“, sagt er. In den Schuppen lagern ordentlich gestapelte Holzscheite. Das Fällen von Bäumen und das Holzhacken gehören zur Kulturlandpflege, an der sich viele der Jugendlichen beteiligen, die hier ihre Klassenlager verbringen. Der Herd in der Küche wird mit Feuer geheizt. Hier treffen wir Stefanies Vater Geri, der dieses Wochenende als Koch amtet. Er empfindet die Küche als wichtigen sozialen Raum. „Immer ergeben sich schöne Gespräche über dem Kochen und Rüsten“, meint er, und seine Augen leuchten. Gerade hat er ein duftendes Brennnesselbrot aus dem Ofen gezogen – passend zum Kräuterwochenende, das Stefanie veranstaltet. Heute ist Brennnesseltag: Kinder und Erwachsenen lernen, wie man die Pflanze sammelt und in der Küche verarbeitet, ohne heftige Hautreizungen zu bekommen.
Der Luxus des Einfachen
Ein Großteil des Stroms für Campo Cortoi stammt von Sonnenkollektoren, die auch dafür sorgen, dass warmes Wasser aus den Leitungen fließt. Vor zwei großen Holzunterständen bleibt Mario stehen. „Das ist das Energiezentrum vom Campo“, sagt er. In den Schuppen lagern ordentlich gestapelte Holzscheite. Das Fällen von Bäumen und das Holzhacken gehören zur Kulturlandpflege, an der sich viele der Jugendlichen beteiligen, die hier ihre Klassenlager verbringen. Der Herd in der Küche wird mit Feuer geheizt. Hier treffen wir Stefanies Vater Geri, der dieses Wochenende als Koch amtet. Er empfindet die Küche als wichtigen sozialen Raum. „Immer ergeben sich schöne Gespräche über dem Kochen und Rüsten“, meint er, und seine Augen leuchten. Gerade hat er ein duftendes Brennnesselbrot aus dem Ofen gezogen – passend zum Kräuterwochenende, das Stefanie veranstaltet. Heute ist Brennnesseltag: Kinder und Erwachsenen lernen, wie man die Pflanze sammelt und in der Küche verarbeitet, ohne heftige Hautreizungen zu bekommen.
Was suchen die Besucher hier oben? „Den Luxus des Einfachen“, sagt Stefanie. Die Klassen, die hierherkommen, genössen das gemeinsame Arbeiten, das viel verbindender sei als ein Städtetrip. Überschüssigen Strom zum Aufladen der Handys gibt es nicht: Man ist auf sich selber und seine Mitmenschen zurückgeworfen; man kann die Aufmerksam keit wieder auf die unmittelbare Umwelt richten. Und man müsse sich für alles mehr Zeit nehmen, sonst funktioniert nichts: „Wenn man das Feuer vergisst, wird der Kaffee nicht fertig.“ Für Stefanie und Mario ist dies der letzte Sommer im Campo Cortoi. Aus drei Jahren waren sechs geworden, erzählen sie. Im Frühling 2021 übernimmt ein Paar aus Biel die Betriebsleitung.
Zu Besuch in Mergoscia
Aus dem Campo Cortoi ist über die Jahre eine Art Paradies geworden, für die Gäste ein Ort zum Atemholen und der Erholung. Für die Bauersfamilien jedoch, die früher hier gewirtschaftet haben, war es alles andere als ein Garten Eden. Die Mühsal der Arbeit ohne technische Unterstützung können wir uns heute kaum ausmalen. Armut und Not führten ab Beginn des 20. Jahrhunderts dazu, dass viele junge Menschen auswanderten: in die nächstgrößere Stadt oder gleich nach Übersee. Schließlich überholte das Tempo des technologischen Zeitalters die Lebensweise in Tessiner Bergdörfern wie dem nahen Mergoscia.
Beim Stöbern in einer Bücherecke in einem der Rustici fällt mir ein Buch des von hier stammenden Autors Piero Bianconi in die Hände: „Der Stammbaum“. Es erzählt, wie er in den frühen 60er-Jahren auf der eben erst errichteten Staumauer im Verzascatal steht und sieht, wie das Wasser die Orte, an denen seine Vorfahren gelebt haben, verschluckt. Den Zukunftsversprechen der Technik vertraut dieser Mann nicht. Einer, der vieles pragmatisch sieht, ist sein Nachfahre Marco Bianconi. Lange hat er sich als Präsident des Vereins Pro Mergoscia für eine lebendige Tradition und die Erhaltung der Kulturlandschaft rund ums Dorf stark eingesetzt. Das Begegnungszentrum sei gut für das Dorf und bringe Besucher ins abgelegene Mergoscia. Der Ort hat momentan etwas mehr als zweihundert Einwohner, 70 bis 80 Prozent der Häuser sind Zweitwohnsitze. Das sei schade, weil diese Häuser den größten Teil des Jahres leer stehen. Bianconi wünscht sich „mehr Leben im Dorf, mehr Offenheit.“ Die einzige Wirtschaft ist geschlossen, einen wirklich lebendigen Austausch mit den Zugezogenen scheint es nicht zu geben. Er vermisst ein vivere sociale und die Tatkraft, etwas Neues auf die Beine zu stellen.
„Man muss wissen, wie es früher war, um weitergehen zu können. Senza passato non c’è il futuro.“
Auf einem Rundgang zeigt er die traditionellen Gebäude, die dank dem Verein restauriert werden konnten: das Waschhäuschen oder das Dörrhaus, wo Kastanien getrocknet wurden, und das Backhaus, dessen Ofen aus dem 18. Jahrhundert heute bei Festen wieder genutzt wird. Warum ist es ihm wichtig, das alles zu erhalten? „Senza passato non c’è il futuro“, antwortet Bianconi, ohne die Vergangenheit gibt es keine Zukunft. „Man muss wissen, wie es früher war, um weitergehen zu können.“ Er schaut zu zwei weit entfernten Hochhäusern in der Magadino-Ebene. „Man verliert hier die moderne Zivilisation nicht aus dem Blick“, sagt er lachend.
Erhaltung des Lebensraums
Marco Bianconi und die Leute vom Campo Cortoi leisten jeder auf seine Art ihren Beitrag zur Erhaltung eines Lebensraums: Bianconi mit dem Engagement für ein geschichtsbewusstes, zukunftsoffenes Mergoscia; Mario und Stefanie, indem sie Gästen eine Rückbesinnung auf die Verbundenheit mit der Natur ermöglichen. Bevor ich wieder ins Postauto steige, besuche ich kurz den Friedhof hinter der Kirche. Ich frage mich, welche Mühsal die Menschen früher hier erlebt haben. Konnten sie trotzdem die Schönheit ihrer Heimat sehen? Die Mauersegler ziehen wieder ihre Kreise im Wind.
Drei Fragen an Mario Sterchi-Buschle
Warum nimmst du diese Arbeit auf dich?
Weil ich es bereut hätte, wenn ich diese Aufgabe nicht übernommen hätte. Die Arbeit hier lehrt mich, in Kreisläufen zu denken.
Was ist deine Vision?
Campo Cortoi soll nochmals mindestens 50 Jahre weiterbestehen und vielen Menschen hier eine wunderbare Zeit ermöglichen.
Was möchtest du teilen?
(Häbed Sorg zu allne Lüt und zur Umwält.) Für alle Leute und für die Umwelt Sorge zu tragen. Und in den kleinen alltäglichen Dingen Freude zu finden.
Dieser Beitrag ist erschienen in Werde 03 / 2020
Text: Marlen Saladin
Fotos: Stephan Bösch