Helena Norberg-Hodge Foto Lara Arnott

„Auf der ganzen Welt findet eine lokale Bewegung statt“

Interviews

Die Klimabewegung wird keinen Erfolg haben, wenn sie kein ganzheitliches Bild hervorbringt, sagt Helena Norberg-Hodge. Die schwedische Umweltaktivistin und Trägerin des alternativen Nobelpreises untersucht seit über vier Jahrzehnten die Auswirkungen der Globalisierung und setzt sich für die Stärkung regionaler Strukturen ein.

Helena Norberg-Hodge Foto Lara Arnott

Frau Norberg-Hodge, Sie haben Linguistik studiert – wie kam es dazu, dass Sie sich mit den Folgen der Globalisierung auseinandersetzen?
Helena Norberg-Hodge Ich arbeitete in Paris als Linguistin, als ich eingeladen wurde, bei einem Film in Ladakh, dem westlichsten Teil von Tibet, zu helfen. Dort traf ich die glücklichsten und gesündesten Menschen, die ich je gesehen hatte. Der Film war schließlich fertig, und ich beschloss, länger zu bleiben. Als ich die Menschen und den Ort näher kennenlernte, wurde mir schnell klar, welche Schäden unser Wirtschaftssystem angerichtet hatte, weil westliche Regierungen globale Unternehmen und Monopolisten unterstützten – zum Nachteil vieler kleiner Betriebe.

Also hatten Sie einen Einblick in das Leben der Menschen, noch bevor Ladakh für den Weltmarkt zugänglich wurde?
Helena Norberg-Hodge Es gab dort weder Arbeitslosigkeit noch Armut oder irgendein Zeichen von Hunger. Statt des Komforts und Reichtums, den wir im Westen haben, gab es wunderschöne Landschaften, Häuser, Kleidung, Gemälde. Es war großartig, in einer Kultur zu leben, die weder vom Kolonialismus noch von der Sklaverei betroffen und die auch noch nicht, wie wir es nennen, entwickelt worden war. Nach zwei Jahren ging ich zurück in den Westen und war geschockt, denn plötzlich sah ich meine eigene Kultur in einem ganz anderen Licht. Nach Ladakh wurde mir klar, dass der Unterschied zwischen einer ökologischen, ortsbezogenen Kultur und einer Industriekultur gewaltig ist.

Die Unzufriedenheit in Schweden war eine Folge des wirtschaftlichen Drucks, der die Menschen weg von der Natur, weg von kleineren Städten, der Landwirtschaft und der Arbeit mit den eigenen Händen gedrängt hat, hin zu städtischen Hochhaussiedlungen. Ich realisierte damals, dass die Zerstörung der lokalen Wirtschaft überall auf der Welt enorme ökologische und soziale Probleme mit sich bringt. Um Menschen von einem Weg hin zu mehr Gemeinschaft und Natur zu überzeugen, statt immer weiter auf Globalisierung zu setzen, begann ich Vorträge zu halten. Später, als die Regierung fossile Brennstoffe einführen wollte, plädierte ich stattdessen für Solar-, Windenergie und Wasserkraft als Alternativen. Dies war mit geringen Kosten und geringen ökologischen Schäden möglich. Also sollte Energiegewinnung dezentral erfolgen, und die Technologien müssten an die Kultur und den Ort angepasst werden. Die moderne Wirtschaft hingegen verändert oder urbanisiert sie.

 

„Wir müssen die soziale, ökologische und selbst die spirituelle Bewegung zu einer mächtigen Bewegung verbinden, die darauf besteht, dass die Regierungen große Unternehmen kontrollieren.“

 

Sie haben einen Film gedreht, „Die Ökonomie des Glücks“. Klingt nach dem Gegenteil des aktuellen Wirtschaftssystems.
Helena Norberg-Hodge Wir versuchten zu zeigen, dass der Pfad, den Regierungen seit sehr langer Zeit verfolgen – nämlich globale Unternehmen unterstützen –, die Menschen wegbringt von der Natur, weg von einer verbundenen Lebensweise, in der sie dauerhafte Beziehungen haben. Es gibt immer mehr Mobilität, immer schnelleren Wandel und immer größere urbane Zentren. In großen Städten kennen sich Menschen kaum mehr, sind nicht länger voneinander abhängig. Das ersetzen anonyme Institutionen. Unser Film zeigt, dass das überall auf der Welt passiert und dass es Menschen unter großen psychologischen Druck setzt.

Inwiefern?
Helena Norberg-Hodge In Ladakh, später auch in China und in Teilen Indiens, vermittelte Werbung und selbst Schulbildung Kindern das Gefühl, sie müssen moderne, städtische Menschen sein, um respektiert zu werden. Bist du Landwirt oder lebst in einem ländlichen Gebiet und arbeitest mit deinen Händen, wird das als primitiv und rückständig angesehen. Also musst du zur Schule gehen, um Arbeit in der Stadt zu bekommen und hoffentlich reich oder berühmt zu werden.

In nicht-westlichen Kulturen führte das zu schrecklichen Veränderungen. In Ladakh hatte ich einst die glücklichsten Menschen getroffen. Dann entwickelten selbst kleine Kinder das Gefühl, alles, was Ladakhi war, sei rückständig und primitiv. Dass importierte westliche Dinge ihrer Kultur überlegen waren. Man nennt dies die Ökonomie von Unzufriedenheit und ökologischen Problemen. Wenn wir stattdessen lokale Unternehmen unterstützen und eine viel kürzere Distanz zwischen Höfen und VerbraucherInnen schaffen, können wir massiv Emissionen, Plastik und den Bedarf an Chemikalien reduzieren. Im Film zeigen wir die vielfältigen Vorteile der Regionalisierung. Auf der ganzen Welt findet eine lokale Bewegung statt. Und kurz gesagt, fordern wir Menschen auf, sich dieser Bewegung anzuschließen.

Helena Norberg-Hodge Foto Lara Arnott

Also bedeutet „Die Ökonomie des Glücks“, einen regionalen Pfad einzuschlagen?
Helena Norberg-Hodge Ganz genau. Die Ökonomie des Glücks ist die Ökonomie der Regionalisierung.

Wer Regionalisierung zum ersten Mal hört, könnte denken, es gehe um Abschottung oder darum, keinen Handel mehr zu betreiben.
Helena Norberg-Hodge Es geht nicht darum, Handel zu beenden, sondern es geht um den Erhalt der Ernährungssouveränität. Die Menschen müssen über den Irrsinn des Welthandels Bescheid wissen, der darauf basiert, die gleichen Produkte zu importieren und zu exportieren. Die täglichen Nahrungsmittel kommen mittlerweile von immer weiter entfernten Orten, und in einer einzigen Flasche Saft findet man oft Äpfel etwa aus Argentinien, Ungarn und China. Unser System umfasst unglaublich weite Transportwege. Traditionell haben Menschen immer Handel betrieben, weltweit, und es macht Sinn, zu importieren, was man selbst nicht produzieren kann. Aber keine vernünftige Gemeinschaft würde ihre tägliche Nahrung, ihre Grundbedürfnisse, auf Produkte verlagern, die von der anderen Seite der Erde kommen. Die Pandemie hat gezeigt, wie verletzlich wir sind, wenn wir die Ernährungswirtschaft nicht umstellen.

Was ist genau gemeint mit Regionalisierung?
Helena Norberg-Hodge In erster Linie geht es darum, den Warentransport zu reduzieren, Entfernungen überall dort, wo es möglich ist, drastisch zu verringern. Regionalisierung ermöglicht, dass kleine Städte, kleine Krankenhäuser, kleine Bauernhöfe oder kleine Schulen bestehen können. Wir müssen Vielfalt fördern, langsamer werden statt schneller. Weise handeln, lieben, sorgen und pflegen: Das alles erfordert Zeit. Viele Menschen können eine neue Regionalisierung in Städten erleben. Sie schätzen Gemeinschaft, kennen sich untereinander und unterstützen sich. Sie achten die Natur und versuchen, mit ihr zu arbeiten. Das sind alles Kernelemente von Regionalisierung.

 

„Regionalisierung ermöglicht, dass kleine Städte, kleine Krankenhäuser, kleine Bauernhöfe oder kleine Schulen bestehen können. Wir müssen Vielfalt fördern, langsamer werden statt schneller. Weise handeln, lieben, sorgen und pflegen.“

 

Die Klimabewegung wächst ebenfalls. Wie wichtig ist es, sich nicht nur aktivistisch, sondern auch politisch zu engagieren?
Helena Norberg-Hodge Was ich stark betonen möchte: Es ist sehr unwahrscheinlich, dass die Klimabewegung Erfolg hat, wenn sie kein ganzheitliches Bild hervorbringt. Wir sind heute gezwungen, mehr und schneller zu arbeiten, nur um uns das leisten zu können, was im Westen sogenannte Grundbedürfnisse geworden sind. Anders gesagt: Wir werden ärmer. Die wichtigste Botschaft lautet deshalb: Wir müssen die soziale, ökologische und selbst die spirituelle Bewegung zu einer mächtigen Bewegung verbinden, die darauf besteht, dass die Regierungen große Unternehmen kontrollieren. Wir müssen uns auf einen wirtschaftlichen Wandel konzentrieren und einen Weg einschlagen, der eine sichere Lebensgrundlage bietet und der den Ressourcen- und Energieverbrauch reduziert.

Wie können wir das große Ganze sehen, ohne davon völlig überwältigt zu sein?
Helena Norberg-Hodge Wir kommen nicht weiter, wenn wir uns nur auf ökologische Probleme konzentrieren. Wir müssen uns mit anderen verbinden. Mit Menschen, die von Armut und Arbeitslosigkeit betroffen sind – und auch mit Menschen, die sich vom System dermaßen ausgeschlossen fühlen, dass sie womöglich Demagogen wie Bolsonaro und Trump wählen. Um das große Ganze zu sehen, sollten wir eine viel breitere Bewegung schaffen und die sozialen Folgen unserer Wirtschaftsweise kennen und benennen. Wenn wir nicht zusammenarbeiten, werden wir keinen Erfolg haben. Und das ist ziemlich deprimierend.

Welchen Ansatz verfolgt dabei Ihre Organisation Local Futures?
Helena Norberg-Hodge Wir fördern Begegnung und möchten Menschen dazu bringen, in ihrer Region zusammenzukommen. In unserem Action Guide gibt es eine Übersicht von Aktivitäten, um ein regionales Projekt zu starten. Verbinden, überdenken, widerstehen, erneuern und feiern, das sind fünf Begriffe, die wir Interessierten an die Hand geben. Das Verbinden mit anderen Menschen und der Natur ist von grundlegender Bedeutung. Die Entfremdung von der Natur und der Gemeinschaft macht uns sehr verletzlich und schwächt uns. Wer will, sollte sich mit einigen anderen zusammentun – nicht mehr als 25, da sie sich im Idealfall regelmäßig in Gesprächskreisen treffen und überlegen: Wie können wir gemeinsam etwas tun, das unser Leben schöner macht und gleichzeitig das Leben auf der Erde verbessert? Wir müssen Vertrautes hinterfragen und unseren gesunden Menschenverstand benutzen, um über die Bildung unserer Kinder, über Städtebau und notwendige Technologien nachzudenken. Wir können direkt damit beginnen, lokale Wirtschaftsräume zu bilden, indem wir neue Gemeinschaften zwischen Höfen, Geschäften und VerbraucherInnen aufbauen.

Welche Rolle spielt die Landwirtschaft in der regionalen Bewegung?
Helena Norberg-HodgeIch kann nicht oft genug betonen, wie wichtig sie ist: Man verbindet sich mit der Natur, während man gleichzeitig produktiv ist und gemeinsam arbeitet. Diese drei Dinge haben einen lebenswichtigen Effekt auf Menschen, das heißt, wir reagieren darauf sehr schnell und sehr positiv. Wir müssen die unzähligen kleinen, regional verwurzelten Projekte sichtbar machen. Oft sind sie medial nicht präsent, vor allem nicht als Teil einer großen Bewegung. Deshalb wissen viele gar nicht, wie wichtig sie sind. Dafür veranstalten wir jährlich den World Localization Day, dieses Jahr war er am 20. Juni. Außerdem gab es ein digitales Angebot mit Vorträgen von Naomi Klein, David Holmgren, Charles Eisenstein und weiteren Speakern.

Können Sie mehr darüber erzählen?
Helena Norberg-Hodge Ab Mitte Mai bis durch den Juni haben mehrere Tausend Menschen aus der ganzen Welt daran teilgenommen und, je nach Möglichkeiten in der Pandemie, lokale Food-Feste organisiert. Das ist ein Weg, das Leben zu feiern – etwas, zu dem wir von Local Futures alle Menschen, die Teil unserer Bewegung sind, jeden Tag ermutigen. Denn so befinden wir uns wirklich auf dem Pfad der Regionalisierung.

Glauben Sie, dass wir die Wertschätzung für Lebensmittel stärken können?
Helena Norberg-Hodge Leider verschlechtern unsere Regierungen das Problem auf nationaler Ebene, indem sie wirtschaftliche Grundannahmen verfolgen. Ich glaube auf jeden Fall, dass ein Erwachen möglich ist. Aus meiner Erfahrung sind Menschen nicht böse, sie sind nur blind und sagen etwa: „Der landwirtschaftliche Sektor trägt nur ein Prozent zum BIP bei, das lohnt sich nicht.“ Wie kürzlich in einem wichtigen Bericht in Großbritannien. Es zeugt von einem unglaublichen Rassismus, einer unglaublichen Arroganz, zu sagen: „Lasst uns mit der Landwirtschaft aufhören und unsere Lebensmittel importieren, wir können uns nicht die Mühe machen, es zu versuchen. Wir haben irgendwo irgendwelche armen Menschen, die können unsere Nahrung anbauen.“ Außerdem ist es tragisch, weil es offensichtlich eine große Zahl von jungen Menschen gibt, die Interesse daran haben, regenerative Landwirtschaft zu betreiben, und die es lieben, direkt mit der Natur zu arbeiten. Nur wird das absolut nicht gesehen in einem System, das Wertschöpfung allein an Zahlen und Bilanzen bemisst.

Wie wichtig ist Bildung auf dem Weg zu mehr Regionalität?
Helena Norberg-Hodge Es gibt zwei Ebenen von Bildung. Am meisten interessiert mich öffentliche Bildung, besonders bei Erwachsenen, denn sie ist dringend notwendig. Es geht weder darum, multinationale Konzerne abzuschaffen, noch darum, keinen Handel mehr zu betreiben. Es geht auch nicht um gute oder schlechte Menschen, sondern um gute und schlechte Strukturen. Indem wir uns also gegen weitere Deregulation aussprechen und beginnen, den globalen Markt zu regulieren, machen wir den ersten Schritt in die richtige Richtung.

Und die zweite Ebene?
Helena Norberg-Hodge Die Bildung unserer Kinder! Ich habe von indigenen Kulturen gelernt, dass Kinder, die mit Menschen aller Altersstufen interagieren, ganz automatisch lernen, gemeinschaftlich zu arbeiten. Trennt man sie, gleicht das einer Monokultur. Bei 30 Dreijährigen im gleichen Raum entsteht Wettbewerb. Deshalb ist es das Beste, Interaktion zwischen verschiedenen Generationen zu fördern. Kinder sollten fernbleiben von abstraktem Wissen und in eine viel tiefere Beziehung mit der Natur eintauchen. Sie sollten mehr Bewegung und praktische Fähigkeiten bekommen, für die sie ihre Hände benutzen. Diese sind verbunden mit einem regionalen Lebensstil, in dem Menschen mehrere Kompetenzen entwickeln – ganz wie wir es traditionell getan haben. Das ist ein partizipativer Akt, eine inklusive Verbindung, die zum Beispiel beim gemeinsamen Singen oder Tanzen oder Musizieren entsteht. Es ist eine ganz andere Welt.

 

Über Helena Norberg-Hodge

Helena Norberg-Hodge, 75, ist eine der führenden Globalisierungsforscherinnen, Filmemacherin („Die Ökonomie des Glücks“) und Autorin (u.a. „Leben in Ladakh“). Ihre Organisation Local Futures setzt sich für kulturelle und biologische Vielfalt weltweit ein. Sie ist Pionierin im Bereich Ernährungssouveränität und freie Bildung und wurde für ihre Arbeit mit dem alternativen Nobelpreis ausgezeichnet.

 

Kulturtipps von Helena Norberg-Hodge

Hören Master KG: „Jerusalema“
Ich mag Musik von traditionellen Kulturen aus der ganzen Welt. Neulich gab es ein Lied bei einem Webinar, das ich sehr mochte: Master KG, „Jerusalema“.

Lesen Ernst Friedrich Schumacher: „Small is beautiful“
Ich wurde auf jeden Fall ermutigt von „Small is beautiful“ des deutschen Ökonomen Ernst Friedrich Schumacher. Dieses Buch hat mir den Mut gegeben, der indischen Regierung vorzuschlagen, dass es einen anderen Weg gibt.

Sehen Die Natur
Der Himmel bei Sonnenuntergang oder das Meer. Das ist meine Art von Meditation, wenn ich draußen in der Natur bin.

Text Aline Heß 
Foto Lara Arnott 

Dieser Beitrag ist erschienen in Werde 03/2021