Die Bildhauerin Betty Beier begleitet weltweit Baustellen und Landschaften, die sich durch den Klimawandel verändern. Sie rettet zerstörte, malträtierte Böden von Alaska bis zum Amazonas mit ihrem Erdschollenarchiv vor dem Vergessen.
Auf dem Wochenmarkt in Markdorf im Allgäu steht an einem Tag im Herbst Betty Beier mit ihrem Stand, an dem sie weder Käse noch Obst, Gemüse oder Blumen anbietet, sondern ein Stück präparierter Erde aus dem Amazonas.
Es misst einen Meter im Quadrat und liegt unter Glas in einem Kasten, den sie mit ihrem Lastenrad auf den Marktplatz gefahren hat. Auf dem Stück Boden aus dem Regenwald stehen – wie geköpfte Frühstückseier – elf geöffnete Fruchtschalen eines Paranussbaums zwischen Zweigstücken und braunen Blättern, auf dem Grund der Schalen schimmern Regenwasserreste.
In Markdorf im Allgäu erzählt Betty Beier interessierten Passanten von jenem Ort im brasilianischen Tiefland, wie sie ihn vor wenigen Jahren vorfand. Wie sie an einem heißen Tag im Juni stundenlang durch den Wald am Fluss Xingu marschierte, bis sie am Fuß eines riesigen Baums die geöffneten Paranussschalen entdeckte – die Hinterlassenschaft von Einheimischen, die auf den mächtigen Stützwurzeln sitzend die Schalen entkernten, vielleicht für den Export nach Europa.
Seit mehr als zwanzig Jahren unterwegs
Das Gebiet sei längst geflutet, einem Staudammprojekt geopfert, die Menschen vertrieben, berichtet Beier und provoziert damit die Bemerkung einer Zuhörerin, auch für den Braunkohleabbau in Deutschland würden Dörfer zerstört.
Auch dort war Betty Beier, die Bodensammlerin, schon. Seit mehr als zwanzig Jahren ist die Künstlerin unterwegs zu geschundener, vergifteter, aufgerissener, malträtierter Erde. Wo Menschen nach Rohstoffen graben, wo sie auf fruchtbare Böden Straßen und Fabriken bauen und Müll hinterlassen, wo sie Moore trockenlegen, Heidelandschaften in künstlichen Seen versinken lassen und Platz schaffen für Landwirtschaft, die artenreiche Natur in öde Nutzflächen verwandelt.
Am Amazonas. Im Stuttgarter Schlossgarten neben der berühmt-berüchtigten Bahnhofsbaustelle. Im niederrheinischen Braunkohlerevier. In einem chinesischen Dorf am „Gelben Fluss“, für dessen Staumauern Zigtausende Menschen umgesiedelt wurden. Auf rußgeschwärzten Gletschern in Island und auf der Zugspitze.
„Wenn ich an den Erdschollen arbeite, bin ich wieder dort. Alles kommt zurück, der Geruch, das Wetter, die Gespräche, die Personen.“
Betty Beier
Archive unseres Handelns
„Böden sind Archive, die vom Einwirken des Menschen zeugen“, sagt Beier. Um die Folgen dieser „Landnahmen“ zu dokumentieren, betreibe sie „forensische Spurensicherung“. Tagelang sucht sie an den Orten ihrer Wahl nach geeigneten Stellen, findet verkohlten Waldboden nach Brandrodungen in Paraguay, Vogelspuren im hamburgischen Dorf Altenwerder, bevor dort ein Containerterminal entsteht, Fetzen kiesbefüllter Kunststoffsäcke am Strand einer Insel vor Alaska, auf der die Inuit mit Dämmen vergeblich gegen den steigenden Wasserspiegel ankämpfen. Wenn sie sich schließlich für einen bestimmten Quadratmeter Erde entschieden hat, steckt sie ihn mit orangefarbenen Plastikschienen ab und gießt Gips hinein.
Von Böden, Geologie und Klima
Betty Beier ist eine aktivistische Künstlerin oder eine künstlerische Aktivistin, fast eine Kassandra, aber keine, die ruft und schreit und warnt, sondern eine schüchtern und melancholisch wirkende Frau, die leise und unaufgeregt erzählt von den Landschaften, Menschen und Tieren, denen sie auf ihren Erkundungen begegnet, von den Böden, der Geologie, dem Klima, der Vegetation, und die in ihren Reisedossiers alles penibel dokumentiert mit geografischen Koordinaten, Zeichnungen, Landkarten, Texten, Farbproben und Fotos, auf denen manchmal eine Frau zu sehen ist, die in dystopischen Landschaften mutterseelenallein ihre Arbeit verrichtet.
„Mit allen Spielregeln der Kunst versuche ich, das Stück Erde wieder so zu rekonstruieren, wie es mir begegnet ist, sodass es wieder lebendig wird.“
Betty Beier
Dgegen ist ihr Wohnort, eine Gasse im pfälzischen Winzerort Rohrbach, geradezu idyllisch. Alte Fachwerkhäuser mit bunten Fensterläden und Blumenschmuck, Weinreben, die an Bögen über die wenig befahrene Straße wachsen. Hier, in einem ehemaligen Kuhstall und in einem Gewächshaus auf dem gepflasterten Innenhof des ehemaligen landwirtschaftlichen Gehöfts, entstehen Betty Beiers „Erdschollen“ – bis heute mehr als 100 –, die zeigen, was verloren ging und weiter verloren geht.
Geheimwissenschaft
Dabei ist der Prozess der Verwandlung in museale Bildskulpturen alles andere als trivial und Betty Beier über die Jahrzehnte zur wahren Materialwissenschaftlerin geworden – an der Hochschule der Bildenden Künste Saar, wo sie Bildhauerei studierte und Meisterschülerin war, unterrichtet sie seit vielen Jahren den Umgang mit biobasierten Kunststoffen.
Am Gips, den die Künstlerin auf dem ausgewählten Quadratmeter Boden ausgießt, bleiben nach der Aushärtung Staub und Steine, Pflanzen, Erde und Müll haften – eine Zahnbürste, ein verpacktes Kondom, Plastikteile, ein Haargummi, Glasscherben, Löffel. Die so erzeugten Gipsplatten sterilisiert Beier noch vor Ort durch Hitze und macht sich später im Atelier daran, das Fundstellenmaterial mit Acryl und Kunststoffen zu einer „Erdscholle“ zu rekonstruieren.
„Ich mache, was Künstler seit Jahrhunderten machen, indem sie versuchen, die Zeit festzuhalten. Wir zeigen, was ist und was war. Ich bin da wie ein Stolperstein.“ Betty Beier
Während das bei festen Gegenständen wie Steinen, Schneckenhäusern oder verkohltem Holz für den Laien noch nachvollziehbar ist, mutet die naturgetreue Konservierung staubiger Böden und vor allem von Pflanzen wie eine Geheimwissenschaft an, über die Betty Beier tatsächlich nicht alles preisgibt. Damit das Laub und die zum Zeitpunkt der Gipsabnahme noch lebenden Pflanzen nicht bald zu Staub zerfallen, entzieht sie jedem Blättchen und jedem Grashalm durch Ablaugen Wachs und Fett, verstärkt mit Pinzette und Lupe die fragilen Gerippe gegebenenfalls mit Naturfasern, lässt Acryl eindringen und bemalt zuletzt die farblosen Objekte „wie eine Leinwand“, wobei Beier auf ihre Farbproben vom Fundort zurückgreift.
Noch faszinierender ist die täuschend echte Rekonstruktion glitzernder Flächen von Eismatsch, wie Betty Beier sie auf Gletschern fand, die durch den Klimawandel auf dem Rückzug sind und dabei zusätzlich Tempo gewinnen durch menschengemachte Rußspuren, die das darunterliegende Eis noch stärker erwärmen.
So künstlich und künstlerisch die Erdschollen sind, so sehr legt Betty Beier Wert darauf, dass sie reale Verhältnisse widerspiegeln. Ja, sagt sie, sie könnte sich all die Spuren auf ihren Schollen von Baggern und Autos, von Kiebitzen und Gänsen, von Rehen, Rentieren und Regenwürmern und all die Materialien und Gegenstände auch beliebig zusammenbasteln und daraus fiktive Flächen konstruieren.
„Böden sind Archive, die vom Einwirken des Menschen zeugen.“ Betty Beier
Aber Betty Beier treibt das Anliegen, vom echten Verlust zu erzählen, den sie selbst gesehen und gespürt hat und der in ihren Reisedossiers so ausführlich dokumentiert ist. „Wenn ich an den Erdschollen arbeite, bin ich wieder dort. Alles kommt zurück, der Geruch, das Wetter, die Gespräche, die Personen. Mit allen Spielregeln der Kunst versuche ich dann, das Stück Erde wieder so zu rekonstruieren, wie es mir begegnet ist, sodass es wieder lebendig wird.“
Die Welt unter den Füßen
Betty Beier verbringt ihre ersten Jahre im badischen Kenzingen, sie erinnert sich an lange Spaziergänge mit ihrem Vater querfeldein und an Bootsfahrten im heutigen Naturschutzgebiet Taubergießen am Rhein, bei denen ihr Vater vom Großvater erzählte, der hier noch als Berufsfischer arbeitete. Schon als Kind habe sie den Blick gern auf den Boden gerichtet: Was da lag und kroch und wuchs! Welche Spuren da verliefen! Und gesammelt, was es an Faszinierendem zu sammeln gab.
„Wie wir Menschen in die Landschaft eingreifen, mit der Natur umgehen, hat mich schon als Kind gestört.“ Betty Beier
Sie nahm Ringelnattern, Frösche, Molche, Heuschrecken mit nach Hause, um sie nach einer Zeit des Beobachtens wieder auszusetzen. Andere Fundstücke – Steinchen, Pflanzen, alles Mögliche – klebte sie zum Ärger ihrer Eltern an die Kieferimitat-Möbel in ihrem Kinderzimmer. „Ich war immer draußen in der Natur, heute sagt man dafür ,walden‘. Das war immer so ein Aufrichten, das hat mich gerettet“, sagt die 55-Jährige.
Sie sieht die Schönheit der Natur, aber immer häufiger ihre Zerstörung, als die Familie in den 1970er-Jahren oft umzieht: „Überall in den Städten wurde gebaut, der Boden umgebrochen, Bäche zugeschüttet und begradigt, Bäume gefällt. Wie wir Menschen in die Landschaft eingreifen, mit der Natur umgehen, hat mich schon als Kind gestört.“
Tief beeindruckt von Wassermassen und Schwemmmaterial
Nach einer kaufmännischen Lehre studiert Betty Beier in Freiburg zunächst Malerei, schon in dieser Zeit sind Landschaften ihr Thema. 1993 erlebt sie das Jahrhunderthochwasser in Köln, „ein menschengemachtes Ereignis“, wie sie schon damals weiß, und ist tief beeindruckt von den Wassermassen und dem Schwemmmaterial, das sie zu sammeln beginnt.
Und sie stellt fest, dass die Malerei für sie immer weniger das geeignete Medium ist, ihre Empfindungen und Eindrücke festzuhalten. Ein paar Jahre später ein ähnlicher Moment, als sie sich verfährt und zufällig im Freiburger Rieselfeld landet, wo schwere Maschinen gerade beginnen, das Biotop für den Bau eines neuen Stadtteils zu präparieren. „Ich sah die ersten Furchen und Verletzungen, die Unmengen an Erde, die abgetragen wurden“, erzählt Beier. Sie kommt immer wieder zur Baustelle, macht Fotos und filmt, um die Veränderungen festzuhalten. Bis sie vom geschundenen Boden ihren ersten Gipsabdruck nimmt.
In ihrem Atelier liegt ein Büschel des flutenden Wasserhahnenfußes, eine Wasserpflanze mit vielen kleinen weißen Blüten mit gelbem Mittelpunkt. Betty Beier hat das Büschel aus der Elz im Naturschutzgebiet Taubergießen gefischt, wo sie als Kind mit ihrem Vater ihre ersten bleibenden Naturerlebnisse hatte, auch jenes mit dem Wasserhahnenfuß, der „die Elz zum Blühen brachte“.
Eines ihrer nächsten Projekte soll eine Art Atlas über das Naturschutzgebiet werden mit vielerlei Wasser- und Erdoberflächen, die Lebensraum für den Wasserhahnenfuß und andere Pflanzen sind. Die Erd- und Wasserschollen, wie immer ein Meter im Quadrat, wären Erinnerungsstücke und Statement zugleich gegen Überlegungen, eine Seilbahn über das einzigartige Naturschutzgebiet Taubergießen zu bauen.
„Wir erzeugen so viele Wunden“, sagt Betty Beier. Sich damit ständig auseinanderzusetzen sei nicht immer einfach, aber einfach ihre Aufgabe als Künstlerin: „Ich mache, was Künstler seit Jahrhunderten machen, indem sie versuchen, die Zeit festzuhalten. Wir zeigen, was ist und was war. Ich bin da wie ein Stolperstein.“
Text Stefan Scheytt
Foto Regina Recht
DREI FRAGEN AN Betty Beier
1. Warum machen Sie diese Arbeit?
Landschaft ist heutzutage immer Kulturlandschaft und Spiegel menschlicher Entwicklungen. Natur, Wildnis existiert nur noch in Teilstücken. Was sind Landschaften, was unterscheidet sie von anderen, und was wird mit und aus ihnen gemacht? Mit meinen Kunstprojekten möchte ich diesem ständigen Wandlungsprozess nahe kommen und begleite deshalb Baustellen und Landschaften, die sich durch den Klimawandel verändern, weltweit.
2. Was ist Ihre Vision?
Ich finde die Frage verbraucht. Ich bin pragmatisch, und trotzdem treibt mich meine künstlerische Arbeit und die Auseinandersetzung mit der Welt an. Ja, ich will verändern.
3. Was wollen Sie weitergeben?
Es geht mir darum, die Wertschätzung der Natur im Allgemeinen und des Bodens im Besonderen zu erhöhen und in Solidarität mit den Menschen zu stehen, die buchstäblich den Boden unter ihren Füßen verlieren.
Dieser Beitrag ist erschienen in Werde 03/2021