Philosoph der Natur

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Der Landschaftsarchitekt Gilles Clément stellt sich die Erde gerne als eine Ansammlung vieler Gärten vor. Und die Menschheit als gestaltende Gärtner, die die Artenvielfalt erhalten.

Maulwurfshügel übersäen den Garten von Gilles Clément, den er „La Vallée“ nennt, das Tal. Es liegt rund 300 Kilometer westlich von Lyon in Frankreich in einer abgelegenen Gegend. Die Maulwürfe lockern den Boden auf, doch für den 78-Jährigen sind sie noch aus einem anderen Grund gern gesehene Besucher: Die Tiere mit dem winzigen Kopf und den schaufelförmigen Händen stehen für einen Schlüsselmoment in seinem Leben. „Bei einem meiner ersten Aufträge sollte ich einen Garten neu gestalten, in dem es Maulwürfe gab“, erinnert sich Clément.

Der Garten als Lebensraum

Er ist Gartenbau- Ingenieur und Landschaftsarchitekt, doch seine zahlreichen Betätigungen in Gärten und Parks, an Universitäten und auf Kongressen sind besser mit Begriffen wie „Botanik- Künstler“ oder „Philosoph der Natur“ zu
fassen. Als Clément bei seinem Auftraggeber eintraf, saß dieser mit einem
Gewehr am offenen Fenster. „Er war sehr aufgeregt, und als der Maulwurf aus seinem Hügel kam, drückte er ab. Mir schmerzen noch immer die Ohren“,
erzählt Clément „Doch von nun an war mir klar: Ein Garten ist nicht in erster Linie ein ästhetischer Bereich, sondern ein Lebensraum.“

Dem Franzosen geht es darum, Gärten in Einklang mit der Natur zu gestalten: auch Maulwürfe zu tolerieren, Wildblumeninseln im Rasen stehen zu lassen, einen Kompost anzulegen. Diese nachhaltigen Praktiken sind in der Breite längst noch nicht völlig angekommen. Stattdessen befördert die konventionelle Landwirtschaft den Schwund der Artenvielfalt. „Um diese Dynamik zu stoppen, muss sich politisch einiges ändern“, sagt Clément. „Wir brauchen sogar ein neues Weltbild.“ Er entwirft es am Beispiel seines Gartens.

Intakte Natur

Das fünf Hektar große Grundstück wirkt mit Sträuchern und Bäumen, Hügeln und Felsen, mit Blumen und Gemüse, einem Bach und einem Haus aus unbehauenen Granitsteinen fast märchenhaft. Es gibt keine Eingangspforte, geschweige denn einen Zaun. „Warum sollte ich Tiere an der Durchreise hindern? Ich möchte das Leben fördern“, sagt der Naturliebhaber. Seine Augen leuchten auffällig blau, die Stimme ist tief. „Gärten zu umzäunen entspricht einer veralteten Sichtweise“, erläutert er. „Wir verhalten uns oft immer noch, als könnten wir die Natur beherrschen. Doch der Mensch ist in die gleichen Abhängigkeitsverhältnisse eingebunden wie Pflanzen und Tiere.“

Längst steht fest, dass wir einer intakten Natur bedürfen, damit Atemluft und Trinkwasser sauber bleiben und die Böden fruchtbar. Auf seinem Grundstück zeigt Clément, wie ein gleichberechtigtes Miteinander von Tier, Pflanze und Mensch gelingt. Zum Beispiel lässt er Rehe, Nutrias und Marder über sein Land ziehen, das oberhalb des Flusses Creuse liegt.

Ein Hüter der Vielfalt

„Heute gibt es viel weniger Schmetterlinge als früher“, sagt Clément auf einer Blumenwiese. „Hier schütze ich sie.“ Er zeigt auf eine Fülle violett blühender, krautiger Malven und wilder Möhren mit kreisrunden, weißen Blütendolden. „Vor 20 Jahren wuchsen auf dieser Fläche nur ein oder zwei Pflanzen“, berichtet Clément. „Ich habe den Boden dann genau ein einziges Mal umgegraben und 30 bis 35 verschiedene Blumen und Kräuter gesät.“ Seitdem hat die Anzahl der
Arten nicht abgenommen; einige Blumen sind zwar verschwunden, doch andere sind durch den Wind und den Vogelzug hinzugekommen. „Wenn wir gute Bedingungen schaffen, sprießen die Pflanzen“, erklärt der Fachmann. „Im Allgemeinen sollten Gärtner mehr beobachten und weniger eingreifen.“ Seine Wiese mäht Clément nur einmal im Jahr, zum Ende der Vegetationsperiode.

In seiner Antrittsvorlesung als Gastprofessor am Collège de France bringt
der Franzose die Rolle des Gärtners auf den Punkt. „Bis zum Anfang des 21. Jahrhunderts war der Gärtner der Architekt des Gartens, der Lieferant von Blumen, Früchten und Gemüse und derjenige, der schneidet, mäht, harkt, gießt und ernährt … Plötzlich ist er nun verantwortlich für das Lebendige und wird zum Garanten einer Diversität, von der die ganze Menschheit abhängt.“ Was für ein Anspruch! Doch der Gärtner sei dem gewachsen, meint Clément, er müsse sich die Natur zum Lehrmeister nehmen. Im Extremfall nimmt sich der Gärtner so weit zurück, dass er die Natur völlig sich selbst überlässt.

Der Garten in Bewegung

So wie Clément es in einem bewaldeten Teil seines Grundstücks umsetzt. Es knistert und knackt, während er über Laub, Wurzeln und abgebrochene Zweige geht. Kreuz und quer liegen Bäume über dem Boden. „Sie sind in den letzten vier Jahren umgefallen“, erläutert der Experte, „weil es extrem trocken war.“ Ab und zu entnimmt er dem Waldstück Holz, um zu heizen. „Viele Käfer ziehen ihre Larven in abgestorbenen Zweigen und Stämmen auf, deshalb lasse ich auch eine Menge Holz zurück“, sagt Clément.

Der Naturliebhaber stammt aus der Gegend, doch als er sieben Jahre alt war, zog die Familie nach Algerien. Zurück in Frankreich, studierte Clément in Versailles, an der Ecole Nationale Supérieure du Paysage, wo er 1979 anfing, selbst zu unterrichten. Zwei Jahre zuvor hatte er sein Grundstück erworben. „Es fühlte sich gut an, wieder die Hänge hinunterzulaufen und im Fluss zu baden wie damals als Junge“, erzählt er. Zeit seines Lebens ist Clément viel gereist und legte neben seiner Lehrtätigkeit mehr als 30 öffentliche Grünflächen an, in Frankreich, Chile und in der Schweiz. Die Gestaltungsprinzipien dafür hatte er zuvor in seinem eigenen Garten erprobt.

Neben der Maxime des „Nicht-Eingreifens“, durch die etwa im Parc Matisse
im nordfranzösischen Lille ein ganzer Wald voller Silberweiden entstand,
reagiert er aber manchmal auch anders: Bei seinen täglichen Rundgängen hat er die Gartenschere fast immer dabei. „Wenn Bäume zu viel Schatten werfen, beschneide ich sie“, wie beispielsweise einen Orangenbaum, Hainbuchen und Lorbeerhecken.

„Wenn wir gute Bedingungen schaffen, sprießen
die Pflanzen. Im Allgemeinen sollten Gärtner mehr beobachten und weniger eingreifen.“
Gilles Clément

Die runden Formen bilden einen für das Auge angenehmen Kontrast zum Wildwuchs, hier zeigt sich Cléments Bedürfnis nach Ästhetik. Der Gärtner führt in einen Winkel, in dem Riesen-Bärenklau wächst. Bis zu vier Meter hoch werden die Stauden, die im 19. Jahrhundert aus dem Kaukasus nach Mitteleuropa eingeführt wurden. Heute gilt die Pflanze als invasive Art, die heimische Pflanzen verdrängt, und sollte aus privaten Gärten entfernt werden, was
Clément für völlig absurd hält: „Globale Vermischungen zwischen Pflanzen, die neu hinzukommen, und solchen, die bereits vorhanden sind, hat es schon immer gegeben. Sie schaden der Artenvielfalt nicht.“ Anstatt gegen die Herkuleskralle, wie die Pflanze auch genannt wird, vorzugehen, sollten wir lieber
verhindern, dass Chemikalien Lebensräume verschmutzen, findet er.

Obendrein verdanke er dem Bärenklau viel, wie er sagt. Vor einigen Jahren trug der Wind die Samen auf seinen Spazierweg, die Frucht ging auf, und eine Staude wuchs. Clément ließ sie stehen und legte den Weg neu an. „Die Stauden brachten mich dazu, die Bewegung der Pflanzen als Element der Gestaltung im Garten zu nutzen“, erklärt er.

Aus dieser Idee entstand ein neues Konzept: „Le jardin en mouvement“, der Garten in Bewegung. Auch auf öffentlichen Grünflächen hat Clément versucht, es anzuwenden, beispielsweise im Parc André Citroën im 15. Arrondissement in Paris. Seine Idee war, die Pflanzen dort gedeihen zu lassen, wo sie sich von selbst ansiedeln. Er rechnete damit, dass die Wege von den Seiten zuwachsen würden und die Gärtner neue Pfade ziehen müssten. Doch es kam anders. „In dem Park geht kaum noch jemand in Ruhe spazieren, alle joggen nur noch. Dabei nehmen sie immer die gleichen Wege und trampeln sie somit fest. Da wächst dann nichts mehr“, sagt er lachend.

Ein paar Kilometer von Cléments Grundstück entfernt haben Nell und
Philippe Wanty ein Arboretum angelegt. Es ist eine Sammlung Dutzender Eichen aus der ganzen Welt, die trotz fremder Klima- und Bodenverhältnisse gut gedeihen. Von Mai bis Oktober durchstreifen jährlich 5000 Besucher das riesige hügelige Gelände mit den vielen Baumkronen, durch die das Sonnenlicht fällt. Der Einfluss ihres Nachbarn Clément ist deutlich zu sehen: Nur einige Hecken sind beschnitten, es gibt viele ungemähte Inseln im Gras. „Das bringt auch eine große Zeitersparnis mit sich“, schwärmt Nell Wanty. So gut es geht, nutzt sie sie zum Genießen. Das klingt vielversprechend. Die Gartentechniken von Gilles Clément tragen nicht nur dazu bei, die Artenvielfalt zu retten, sie
ermöglichen auch genüsslichen Müßiggang.

Text Stephanie Eichler
Foto Emanuel Herm

Dieser Beitrag ist erschienen in Werde 01/2022

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