Werde Magazin-Lavendel

Dem Wilden Lavendel auf der Spur

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Wenn Roselyne Dubois sich den Sonnenhut tief ins Gesicht zieht, ist der wilde Lavendel nicht weit. Das entlegene steinige Plateau Contadour verlangt der Französin einiges ab, bevor sie reines ätherisches Öl aus den blauen Blüten destillieren kann.

Dicke Tautropfen hängen an den langstieligen Gräsern, und noch ist die Luft kühl auf dem 1300 Meter hohen provenzalischen Plateau. Das wird sich bald ändern: 34 Grad Celsius sind vorhergesagt. Roselyne Dubois, eine zierliche Frau in grauer Arbeitshose und gelbem T-Shirt, pflückt seit mehr als 20 Jahren wilden Lavendel auf dem Contadour im französischen Luberon, mitten in der Provence. Aus den Blüten gewinnt sie in ihrer Destillerie im nahe gelegenen Banon ätherisches Öl.

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Langsam ruckelt der Wagen den Berg hinauf, der Weg wird immer steiniger. Im Schatten einer kleinen Ansammlung junger Buchen hält Roselyne an und stellt den Motor ab. „Hier bleiben wir“, sagt sie zu Elodie, Lucie und Roxane. Die drei jungen Frauen helfen bei der Lavendelernte. Vor ihnen steigt eine offene, hügelige Hochfläche bis zur steil abfallenden Crete de la Faye an, und im Westen fällt der Blick auf den Mont Ventoux, den Giganten der Provence, Roxane, die Praktikantin, schleppt mit beiden Armen rund ein Dutzend Laken sowie große Sackleinentücher aus dem Lieferwagen und legt sie auf den Boden. Roselyne verteilt noch eine Runde heißen Kaffee: „Wir haben noch ein paar Minuten Zeit. Der Lavendel muss trocken sein, bevor wir ihn schneiden.“

Sie säubert mit großer Sorgfalt ihre Schnittsichel. „Wir benutzen Sicheln mit Zähnen. Die schneiden besonders gut, und man muss sie nicht schleifen. Aber sauber müssen sie sein!“ Das sei wichtig, damit man die Pflanzen nicht verletzt. Ihre eigene hat einen handgearbeiteten Griff aus Pappelknorren. Angefertigt von einem Freund, damit sie ihr Handgelenk schonen kann. Roselyne will endlich loslegen. „Wir müssen uns beeilen, wir sind schon im Rückstand.“

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Einen großen Sack auf dem Rücken

Der genaue Erntezeitpunkt hängt immer mit dem Wetter zusammen. Gut gelaunt binden sich die vier Frauen ihre Laken zu einer sogenannten Saquette um, die an Hüfte und Schultern befestigt wird. So tragen sie einen großen Sack auf dem Rücken, in den sie problemlos von der Seite aus bis zu zehn Kilo Lavendelrispen legen können. Roselyne setzt ihren rot-weiß getupften, breitkrempigen Sonnenhut auf und verschließt sorgfältig die Tür des Lieferwagens. „Hier ist ein Patou unterwegs, der mit Vorliebe unser Picknick fressen würde“ Sie schmunzelt. Ein Patou ist ein großer heller Pyrenäenberghund, der auf die Schaf- und Ziegenherden hier oben aufpasst und im letzten Jahr fast das komplette Mittagessen der Frauen gefressen hat. Seither passt sie auf.

Mit langen, schnellen Schritten geht Roselyne bergab. „Wir fangen unten am Hang an und arbeiten uns hinauf“, ruft sie ihren drei Helferinnen zu. „Ah, perfekt! Die Blüten beginnen demnächst zu welken, das ist ideal.“ Mit der Linken greift sie nach einem Büschel Lavendel, mit der Rechten schneidet sie es ab und legt es in die Saquette. Ihre Bewegungen sind schnell und präzise. Ratsch, ratsch, ratsch. Der Beutel auf ihrem Rücken füllt sich rasch. „Ich schneide genau oberhalb der Blätter, das stärkt die Pflanzen. Die schönsten und kräftigsten lasse ich stehen, damit sie sich aussäen und wieder vermehren können. So unterstützen wir eine positive Auswahl. Den Rest verteilen die Ameisen.“

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Wie eine Meditation

Ratsch, ratsch, ratsch. Das Geräusch hat etwas Beruhigendes. In der Ferne bellt ein Patou, Bienen summen, eine Wolke von Schmetterlingen flattert herum. „Diese Arbeit entspannt mich gewissermaßen. In der Destillerie ist es hektischer, alles muss schnell gehen, das Telefon klingelt immer wieder, man erledigt viele Dinge gleichzeitig. Hier gibt es nur eins: die Ernte. Manchmal denke ich nach, manchmal denke ich an gar nichts, dann ist es wie eine Meditation.“

Schmerzt der schwere Sack auf dem Rücken? Roselyne lacht. „Nein, gar nicht. Mit dieser traditionellen Technik verteilt sich das Gewicht sehr gut. Aber vielleicht helfen auch die ätherischen Öle des Lavendels so nah bei uns.“ Ihre Schultern tun nach einer Weile dann doch weh. Die Lavendelernte ist körperlich sehr anstrengend. Rund 100 bis 150 Kilo wilden Lavendel benötigt Roselyne im Schnitt für einen Liter ätherisches Öl. Das erklärt den hohen Preis. Freunde hatten ihr geraten, angesichts der ausgezeichneten Qualität sogar noch mehr zu nehmen, aber das will sie nicht. „Ich will nicht für eine Elite produzieren. Doch ich muss auch davon leben können.“

Kraftvolle Öle

Der im Handel weitverbreitete Lavandin, eine andere Lavandelart, ist wesentlich günstiger zu haben. Er wird auf den weithin sichtbaren, für die Gegend charakteristischen Feldern angebaut und hat selten Bioqualität. Die Flächen werden maschinell bearbeitet und mit chemischen Unkrautvernichtern besprüht. „Die Produzenten ernten die Pflanzen tonnenweise für die Industrie. Das ist eine völlig andere Welt.“ Doch auch Lavandin habe gute Eigenschaften und Wirkstoffe, betont Roselyne. „Lavandin wirkt beispielsweise eher anregend, wilder Lavendel hingegen beruhigend.“ Aber insgesamt sei wilder Lavendel ihrer Ansicht nach hochwertiger, vor allem wenn man ihn in der Aromatherapie einsetzen wolle.

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Ratsch, ratsch, ratsch. Büschel um Büschel Lavendelblüten verschwindet in ihrer Saquette. Roselyne rückt ihren Hut zurecht, um ihr Gesicht zu schützen. Juli und August sind für sie die anstrengendsten Monate. Die Sonne brennt jetzt gnadenlos, und Roselyne trocknet sich die Stirn. Kann einen diese Arbeit reich machen? Roselyne lacht herzlich: „In Handarbeit ernten, um viel Geld zu verdienen, das ist wirklich keine gute Idee!“ Ihr Anliegen sei es, mit dem ätherischen Öl ein hochwertiges Produkt herzustellen, das Menschen helfen kann und gleichzeitig die Natur schont.

Eine ganzheitliche Betrachtung

„Das Thema Gesundheit betrachte ich ganzheitlich. Viele meiner Bekannten kurieren einfache Krankheiten mit pflanzlichen Mitteln. Was nicht heißt, dass man nicht bei schweren Krankheitsbildern mal ein Antibiotikum oder Kortison braucht. Das eine schließt das andere nicht aus.“ Sie selbst benutze nicht nur ätherische Öle, erklärt sie, sie setzt auch Homöopathie und Pflanzenmedizin ein, also eher sanftere Methoden. „Ätherische Öle hingegen sind sehr kraftvoll, und man muss genau wissen, wie man sie verwendet.“  Doch all diese Mittel seien nicht sinnvoll, wenn man nicht insgesamt eine gewisse Lebenshygiene einhalte. „Damit meine ich, darauf zu achten, was man isst, nicht übermäßig Alkohol trinkt und genügend Bewegung hat; all das gehört zusammen. Die simpelste Medizin ist eine gute Ernährung! Davon bin ich überzeugt.“ Apropos Ernährung: „Sollen wir Mittag machen?“, fragt sie Elodie, die nicht weit von ihr pflückt.

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Roselynes Rucksack ist bald prallvoll. Die Frauen kehren zum Lieferwagen zurück und leeren die vielen Blütenrispen auf große, im Schatten ausgebreitete Tücher aus Sackleinen. Ein intensiver Duft steigt auf, und die lila Blüten auf den hellbraunen Tüchern sehen wunderschön aus, wie sie unter den Buchen im Gras liegen. Mit ihrem Picknickkorb setzt sich Roselyne direkt daneben. Aus Nudeln, Eiern, Paprikaschoten, Gurken, Tomaten und Thunfisch mischt sie einen einfachen Salat. Zum Dessert gibt es lauwarmen Kaffee aus der Thermoskanne und für jeden ein Stück dunkle Schokolade. Ein wahres „Dejeuner sur l’herbe“ – der Maler Edouard Manet hätte zumindest an der Farbenpracht seine Freude gehabt. Und dazu der Lavendelduft, der alle entspannt und schläfrig macht. „Eine Siesta wäre jetzt nicht schlecht.“ Elodie grinst verschmitzt. „Nichts da! Wir müssen weitermachen. Guck dir die Wolken an, die da über den Bergen aufziehen.“ Tatsächlich ist Wind aufgekommen, und am Horizont braut sich ein Gewitter zusammen.

Heilende Pflanzen

Roselyne ist selbst beim Betreten des Grases behutsam. Sie hat eine Arbeit, die ihren ethischen Grundsätzen entspricht und von der sie leben kann. Auch wenn das nicht immer einfach ist. Damals nach dem Abitur war ihr nicht klar, was sie machen wollte. „Mich haben Heilberufe interessiert. Aber Medizin hatte ich nicht studieren wollen, denn schon als Jugendliche konnte ich keine Medikamente vertragen.

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Schließlich studierte sie „Naturschutz und Umwelt“ und lernte die ersten Bücher des in Frankreich bekannten Ethnobotanikers Pierre Lieutaghi kennen. Seinetwegen lebt und arbeitet sie heute in Banon. „Ich wollte ihn unbedingt treffen, und er wohnt in der Nähe. Er hat einen sensiblen Umgang mit der Pflanzenwelt und sagt, dass der Mensch als Teil der Natur Pflanzen durchaus nützen soll. Entscheidend sei dabei eine respektvolle Koexistenz mit der Pflanzenwelt.“ In seinen Büchern beschreibt Lieutaghi insbesondere den Umgang mit medizinischen Pflanzen, wie sie die Schafhirten und die Leute in den kleinen Dörfern in der Natur vorfanden und für ihre Gesundheit einsetzen. Das habe sie fasziniert und inspiriert.

Der Weg zu den ätherischen Ölen

Den Weg zu den ätherischen Ölen habe sie erst später gefunden. Die Zikaden zirpen lauter, als wollten sie die Gewitterwolken vertreiben. „Sind die Schafe dieses Jahr krank, oder was ist los?“ Roselyne zeigt mir Lavendelstauden, die plattgedrückt oder angefressen sind. „Sie haben darauf gelegen und die Blüten gefressen. Sicher nicht, weil sie ihnen so gut schmecken.“ Ob die Schafe auf diese Weise eine Wurmkur gemacht haben? Oder sich beruhigen mussten? Der Wind weht heftiger.

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„Los, beeilen wir uns, das Gewitter kommt näher“, feuert sie die anderen an und eilt von einem Lavendelbusch zum nächsten. Blitze zucken durch den dunklen Himmel, Donner grollt in immer kürzeren Abständen. „Packen wir zusammen, das wird mir zu gefährlich“, ruft sie. Die Sackleinen voller Lavendelblüten werden rasch festgeschnürt und von jeweils zwei Frauen in den Lieferwagen geschleppt. Schon fallen erste Tropfen. Mit Schwung verschließt Roselyne die Türen des Lieferwagens und setzt sich hinters Steuer. Unter prasselndem Regen, Blitzen und Donner ruckelt die kleine Erntegruppe den Contadour hinunter.

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