Markus Lanfranchi und seine Familie leben im Tempo der Natur, unabhängig von Konsum und Marktwirtschaft. Und werden dafür reich belohnt.
Verdabbio hält Siesta. Ein heißer Wind zieht vom Tal hinauf, durch die Gärten und leeren Gassen des kleinen Schweizer Dörfchens im Misox. Er lässt die Blätter der Weinranken über den Terrassen der Häuser rascheln und Windspiele aus Bambusrohr klimpern. Jetzt, kurz vor Mittag bei fast 40 Grad, ist es in der Sonne kaum auszuhalten.
Nur am unteren Dorfrand geht ein Mann mit Strohhut langsam durch seinen Gemüsegarten: Das lange Beet liegt unterhalb seines Hauses am Steilhang, durch eine Reihe Apfel- und Birnbäume von der Forststraße getrennt. Markus Lanfranchi bückt sich und drückt ein paar Knoblauchzehen tiefer in den Boden, die er gestern quer über das Gemüsefeld gestreut hat. Dann zupft der schlanke und sonnengebräunte 50-Jährige einige Hände voll Bohnen und zwei Peperoni und legt sie in einen Stoffsack. Markus und Sabine Lanfranchi sind vor 23 Jahren mit drei kleinen Kindern hierhergezogen für ein Leben ohne Konsum. „Außer ein paar mageren Weinranken und ausgehungertem Gras wuchs hier kaum etwas“, erinnert sich Sabine.
Die meisten Bewohner im Ort haben sich von der mühseligen Landwirtschaft auf den steilen Hängen verabschiedet, finden im regionalen Gewerbe und Dienstleistungssektor lukrativere Aufgaben. In den Häusern stehen nach Jahrhunderten Askese Fernseher und Waschmaschinen, in den Gärten leuchtet das Blau der Swimmingpools. Die Einheimischen staunen, als am unteren Dorfrand plötzlich eine Familie mit drei kleinen Kindern einzieht, die auf ökologische Landwirtschaft für den Eigenbedarf setzt — ganz ohne Fernseher und Geschirrspüler.
Ökologische Landwirtschaft für den Eigenbedarf
Das einst karge Stück Land haben die Lanfranchis längst in ein Paradies der Fruchtbarkeit verwandelt. Jetzt, Ende Juli, leuchten orange und gelbe Peperoni in dunkelgrünen Büschen, Distelpflanzen tragen zartlila Artischockenblüten. In den Furchen der Erdwälle reifen Kürbisse heran, auf den Wällen recken sich Maisstauden, eingehüllt in Bohnenranken, in den Himmel. Weiter drüben wachsen Pastinaken, Karotten, Krautstiel und Zucchetti, in einem Tomatenhaus warten farbenfrohe Früchte darauf, gepflückt zu werden. Knorrige Olivenbäume verraten die Nähe zum Mittelmeerraum, vor dem Eingang einiger Bienenhäuschen herrscht emsiger Betrieb.
Harte Arbeit – ein Leben ohne Konsum
Die Bohnen und Peperoni aus dem Garten liegen fertig geputzt und gewaschen auf dem Holztisch in der Küche, wo Sabine das Mittagessen vorbereitet. Draußen lehnt Markus entspannt im Schatten der Pergola an der Hauswand und isst einen kleinen, hellgrünen Pfirsich. Die Früchte wachsen in Armeslänge von der Terrasse entfernt – neben Zitronen-, Aprikosen- und Kiwibäumen, Haselnuss- und Heidelbeersträuchern, Rosmarin und Chili und einem riesigen Holunderbusch. An seinen Wurzeln haben Markus und seine Frau Sabine einst die Plazenta vergraben, die den heranwachsenden Lüzza in Sabines Bauch ernährt hat. Der 12-Jährige macht es sich in der Sitz-Hängematte über dem Terrassenboden bequem. Markus sagt: „Ich habe das Land für eine große Familie bebaut. Jetzt, wo alles im Überfluss gedeiht, sind wir eine kleine geworden.“
Die Jahre, als die Lanfranchis sich wochenlang von Kürbis und Kastanien ernährt haben, weil diese am schnellsten in großen Mengen wachsen, liegen weit zurück. „Wir haben pickelhart gearbeitet, um all das zu erschaffen, was wir heute haben.“
Von Kürbis und Kastanien zu Milch und Honig
Gemüse, Obst und Kastanien auf knapp zehn Hekar Land. 40 Engadiner Schafe oben auf der Alp, zwei Wollschweinfamilien auf einer Wiese am Waldrand talauf. Enten, Esel, Hühner und zehn Völker Bienen. Jahrelang kümmert sich nur die Familie darum, doch in den letzten Jahren kommen immer öfter Freiwillige, um in dem ökologisch geführten Betrieb zu arbeiten.
Seitdem kann Markus öfter auch mal Pause machen. Wenn es heiß ist, gönnt er sich lange Siestas. „Dann stehe ich morgens um fünf auf, gehe gegen Mittag schlafen und mache erst am Abend weiter mit meiner Arbeit.» Sabine, die seit Lüzzas Geburt auch als Hebamme arbeitet, trägt das Mittagessen auf: Maiskolben, blaue und weiße Kartoffeln, Gemüsechutney, Tomatensalat, Oliven, gewürzte Karotten, Schafskäse. „Bei uns fließt Milch und Honig“, kommentiert Markus die frischen Köstlichkeiten, „mal mehr, mal weniger.“ Sabine, stiller und ernster als Markus, ergänzt: „Im Mai, wenn der Vorratskeller praktisch leer ist, essen wir fast jeden Tag irgendwas mit eingemachten Tomaten, davon haben wir in rauen Mengen. Dann müssen wir auch am meisten zukaufen.“
Ein Leben ohne Geld und Güter
Warum produziert Markus eigentlich nicht für die Supermärkte und das Bankkonto, sondern an erster Stelle für seine Familie? „Unser Ziel war nie die Selbstversorgung an sich“, sagt er, „sondern ein Leben jenseits der Norm. Dass man arbeitet, um Geld zu verdienen und Güter anzuschaffen. Ich wollte Bauer sein, um einen Lebensstil zu pflegen, nicht um einen Beruf auszuüben. Ein Leben ohne Konsum, bei dem ich das, was ich benötige, selbst produziere und respektvoll mit der Natur umgehe.“ So wie das Menschen seit Jahrtausenden gemacht haben.
Den Widerwillen gegen die Ökonomisierung aller Lebensbereiche spüren Markus und Sabine schon als junge Erwachsene. „Ordnet man alles der Effizienz und dem Gewinn unter, übergeht man dadurch die Bedürfnisse von Natur, Tier und Mensch, zerstört natürliche Kreisläufe.“ Gleichzeitig werden die Menschen auf ungesunde Art abhängig: Je mehr finanziellen Wohlstand und Güter der Mensch besitze, desto mehr müsse er schauen, wie er all jenes beibehalten könne. „In diesen Strudel wollte ich nicht geraten.“
Zwei Verliebte und eine Lebensform
Als sie sich als 19-Jährige auf einer Reise durch Florida kennenlernen, sind beide auf der Suche nach einer stimmigen Lebensform. Sabine, aufgewachsen in der Romandie, hat soeben ihre Ausbildung in einer Werbeagentur abgebrochen, weil ihr die Arbeit zu oberflächlich war. Sie arbeitet dann als Sekretärin im türkischen Konsulat in Zürich. Markus, der Bauernsohn aus Graubünden, will nicht in die Fußstapfen seiner Eltern treten. Bis zu seinem „Sternschnuppenmoment“, wie er sagt. Während eines Türkeiurlaubs liegt er noch im Bett, als ihn morgens der Schrei eines Hahns und Hufgetrappel eines Pferdes an seine Kindheit erinnern: die Sommer auf der Alp. „An das Tempo dort, an die Verbundenheit mit der Natur. Dabei war ich als Kind nicht so gern auf der Alp, ich fand die frisch gemolkene Milch eklig. Doch in diesem kurdischen Dorf verursachte die Erinnerung daran ein wohliges Gefühl in mir. Plötzlich wusste ich, wie ich leben wollte.“
Ein halbes Jahr später zieht das Paar ins Engadin. Markus beginnt eine Lehre bei einem Bauern. Sabine, die bei Markus sein will, jobbt an der Rezeption eines Kurhotels. An seine Ausbildung erinnert sich Markus genau: „Ich war bei einem Turbobauern. Er hatte hochgezüchtete Superkühe, die zwar viel Milch gaben, aber häufig krank waren. Die Kühe waren reine Geldmaschinen. Das fand ich widerlich, doch ich traute mich nicht, meinen Lehrmeister zu kritisieren.“
Drei Kinder und ein Demeter-Bauer
Markus wechselt zu einem Demeter-Bauern nach Scuol im Engadin. „Diese Zeit hat mich sehr geprägt. Der Bauer überlegte sich bei jedem Kraut: Warum wächst das dort? Wie verhält es sich zu seiner Umgebung? Ich lernte, dass die Natur eine Sprache hat, einen Schlüssel. Diese Sprache wollte ich verstehen und sie als Landwirt verwenden.“ In Scuol findet Markus Lanfranchi seine Berufung. So will er von nun an leben: im Austausch mit der Natur.
Sabine ist bereit. Sie möchte zwar keine Bäuerin werden, packt aber von Beginn an mit an. Vier Jahre und drei Kinder später kaufen sie das Land in Verdabbio. Markus stürzt sich in die Arbeit, baut ein Haus, rodet das Land, pflanzt Gemüse und Obst an. Sabine hilft ihm, arbeitet zusätzlich für eine Schweizer Stiftung für gefährdete Nutztierrassen und Kulturpflanzen. „Wir lebten sehr bescheiden“, erzählt Markus.
Die Kinder müssen von klein auf mithelfen, begleiten ihren Vater auf seinen langen Märschen zu den Tieren auf der Alp, ertragen die Kommentare ihrer Mitschüler über ihre Secondhand-Kleider. „Wir lebten finanziell haarscharf am Abgrund.“ Geheizt wird bis heute nur mit dem Ofen im Wohnzimmer, wo der lange Esstisch steht. Vor allem Dylan, sein ältester Sohn, der heute 27 Jahre alt ist und als Architekt arbeitet, habe oft rebelliert gegen das Leben ohne Konsum. Markus gesteht: „Es ärgerte mich manchmal, denn für mich war das alles doch so wichtig!“
Verschiedene Formen der Landwirschaft
Obwohl Markus viele Ansätze von Demeter übernimmt, will er sich nicht auf diese Form der Landwirtschaft festlegen. „Ich befasse mich mit verschiedenen Anbauarten und picke mir überall das raus, was mir am naturnahsten erscheint.“ Etwa das „Drei-Schwestern-Prinzip“, nach dem gerade Kürbis, Mais und die Bohnen in seinem Garten heranreifen. Mais dient den Bohnen als Klettergerüst, die Bohnen liefern Stickstoff für die Erde, und die Kürbisse unterdrücken mit ihrem bodennahen Wuchs die Unkräuter. Die harmonische Pflanzengemeinschaft ist eine typische Mischkultur und liefert eine vollwertige Mahlzeit.
Auch auf dem Acker lässt er die Natur dafür sorgen, dass der Boden gut vorbereitet wird: Sobald die Kartoffelernte vorbei ist, werden die Wollschweine auf den Acker gelassen. Die durchwühlen den Boden, graben ihn mit ihren Rüsseln um. Danach verteilt Markus den Mist drauf, auf dem sich die Hühner austoben. Sie picken die Fliegenmaden aus dem Boden, verteilen durchs Scharren den Mist. So ist der Acker für die nächste Aussaat parat, ohne dass Markus ihn mit irgendwelchen Geräten bearbeiten muss.
Leben ohne Konsum, aber mit ein bisschen Geld
Solche Methoden sind erprobtes Wissen, das Bauern weltweit seit Jahrhunderten anwenden. In der industriellen Landwirtschaft kosten sie aber zu viel Zeit und liefern zu wenig Geld. „Erst glaubte ich, im biologischen Landbau Gleichgesinnte zu treffen. Bauern, die darunter ein Lebensgefühl verstehen. Eine gesellschaftliche Bewegung, die auf der Kraft der Natur aufbaut und sich ausbreiten kann. Das war in den Anfängen auch so, doch das Konzept hinter dem Label wurde längst kaltgestellt“. Bio sei zum Marketinginstrument verkommen, wichtige Grundsätze zugunsten der Geschäftszahlen aufgegeben worden. Markus versteht nicht, dass der Bio-Landbau zum Beispiel Monokulturen betreibt. „Diese Form von Anbau ist die schlimmste, sie zieht Schädlinge nur so an!“
Einst in der Präsidentenkommission von Bio-Suisse, bei Bio-Ticino und im Bio-Forum, zieht er sich aus allem zurück. Seine zunehmende Kritik kommt nicht gut an, er gilt als Querulant. Er sagt: „Heute schaue ich nur noch für uns.“ Nach wie vor lebt die Familie mit wenig Geld. Für die ökologische Bewirtschaftung und Viehhaltung im Berggebiet erhält Markus Direktzahlungen vom Bund. Ansonsten verkauft die Familie selbst gebrannten Grappa, Würste, Schafskäse oder ein paar Peperoni von einer seltenen Sorte an einen Gastronomen.
Reichtum trotz wenig Geld
Doch trotz Leben ohne Konsum fühlen sich Markus und Sabine reich. „Wir haben leckeres Essen und die Zeit, am Tisch zu sitzen und zu reden. Das braucht der Mensch, um sich wohlzufühlen, nicht viel mehr: Essen und Menschen um sich herum“. Markus sagt, er sei vor einigen Tagen bei einem Lokomotivführer zum Abendessen gewesen. Dieser habe ihm von den vielen Suiziden auf den Gleisen erzählt. „Die Schweiz ist ein so reiches Land, doch Reichtum ist noch lange kein Wohlstand. Wohlstand hat mit Genügsamkeit zu tun.“
Er glaubt allerdings einen Gesinnungswandel zu erkennen: „Ich erlebe immer mehr Menschen, die den konventionellen Lebensstil als leer empfinden und nach echten Werten suchen“. Am Abend läuft Markus eine Dreiviertelstunde den steilen Hang hinauf zur Weide – wie fast immer von Lüzza begleitet. Der trinkt Wasser aus dem Bach, hängt sich an die Äste eines Baumes. Bei den Eseln angekommen, ruft Markus erst nach ihnen, läuft dann schnell zum Stall hinunter, wo er sie entdeckt. Er krault sie, prüft kurz die Wasserleitung, die er selbst verlegt hat. Dann laufen Vater und Sohn gemütlich schwatzend zurück.