Mit Leidenschaft hat eine Biologin das Haus von Hermann Hesse gerettet und seinen Garten zu neuem Leben erweckt. Ein Rundgang durch einen inspirierenden Ort am Bodensee.
Erhabene Herbstruhe
Mit einem Ruck zieht Eva Eberwein die Haustür hinter sich ins Schloss, zurrt den Reißverschluss ihrer Jacke hoch, streift sich ein Paar Handschuhe über. Noch ist es frisch, später wird die Sonne brennen – typisch September eben. Eva Eberwein mag diesen Monat und die „erhabene Herbstruhe“, die sich dann im Garten breitmacht. Und sie hat diese Zeit am frühen Morgen gern. Sobald es hell wird, macht sie sich auf den Weg zu einem ersten ruhigen Rundgang, bei dem sie sich erden und sich mit der Natur verbinden kann. Wie kommt es, dass Eva Eberwein in einem Haus und einem Garten auf der Bodenseehalbinsel Höri lebt, die früher der Dichter Hermann Hesse bewohnte?
Die Sommerferien hat ihre Familie einst regelmäßig hier verbracht – fernab der Heimat Krefeld. Mit der Verwandtschaft, den Großeltern, zwei Tanten und riesigen Bauerngärten. Später, als Eberwein Biologie studierte und dann als Unternehmensberaterin und Leiterin eines Forschungslabors einer Pharmafirma in – wie sie sagt – zuweilen „staubtrockenen“ Büros gearbeitet hat, ist eine Sehnsucht geblieben: in einem schönen Haus mit einem großen, alten Garten zu leben.
Vom Haus mit dem Garten
Sie erinnert sich noch genau, wie sie vor 13 Jahren wieder einmal in den Ferien am See gewesen ist und das Gaienhofener Gemeindeblatt in Händen hielt. Das einstige Wohnhaus mit Garten von Hermann Hesse solle abgerissen werden, las sie entsetzt, vier Doppelhaushälften seien geplant. „Ich hasse es, wenn alte Bäume ausgerupft, Teiche zugeschüttet oder schöne Häuser dem Erdboden gleichgemacht werden. Wer gibt uns das Recht, so zu handeln?“ Richtig wütend klingt die sonst eher bedacht wirkende Frau. Aber man merkt auch: In dieser Wut liegt etwas Konstruktives.
Schließlich kaufte sie das Anwesen. Nicht Nostalgie habe sie letztlich dazu bewogen. „Es war eine Art innerer Auftrag, den ich verspürt habe!“ Als Kind war sie ein paarmal hier gewesen, Freunde der Eltern besuchen, die zwischenzeitlich im Hesse-Haus lebten. Sie hat Erinnerungen, an den mächtigen Walnussbaum oder auch an die Räume im Haus, die ihr damals viel größer vorkamen. Erinnerungen auch an diese Geschichten: vom Opa, der einst eine Gaststätte im Ort gehabt hatte. Von Hesse, dem Stammgast. Jedoch: „Kinder beeindruckt so was nicht, und auch später hab ich mir da nichts drauf eingebildet.“ Nicht das Konservieren von Erinnerungen meint sie mit „Auftrag“. Diesen Garten und dieses Haus meint sie, nichts anderes.
Wie viel Aufwand es war, das völlig zugewachsene Areal freizulegen, könne man kaum beschreiben. Auch nicht, wie erschrocken sie war, als sie die von Hesse gepflanzte Glyzinie entdeckte, die sich früher so schön ums Haus gerankt hat – abgehackt und heruntergeschnitten, bis auf einen einzigen offensichtlich vergessenen Trieb. Vier Jahre lang ist sie ein- bis zweimal die Woche viereinhalb Stunden vom Siebengebirge zum Bodensee gefahren, um die Arbeiten zu koordinieren und selbst mit anzupacken. Hunderte Briefe von Hesse hat sie nebenher gesichtet, in der Hoffnung, so viel wie möglich über den Garten zu erfahren. Und spricht von einem „lichten Traum“, den sie lebt, seit sie ganz an den See gezogen ist.
Morgendliche Rituale
Bei ihrem Morgenweg geht sie aus der Haustür um die Ecke in den Garten. Sie wird erwartet: von der Eule, die wie jeden Morgen in den 200 Jahre alten Birnbaum flattert. „Aber nicht ohne mich davor noch kräftig angeschrien zu haben“, schmunzelt die 61-Jährige. Gefolgt von Katze Frau Kato geht Eberwein zum alten Brunnen, der zu einer Regenwasserzisterne umfunktioniert ist, greift eine der verzinkten Kannen und füllt sie. Anders als sonst aber wässert sie die Pflanzen links und rechts des Weges nicht zügig, sondern hält immer wieder an guten Plätzen inne. Wie bei den Holzbänken neben den Heckenrosen oder unter dem sich rankenden alten Rebstock.
Ab dem Mittag und nach Anmeldung besuchen Gäste den Garten: Künstler und Literaten, die sich inspirieren lassen wollen. Oder Naturliebhaber, aber auch Menschen mit Handicaps, um die heilende Wirkung der Natur zu spüren.
Jetzt ist sie es selbst, die sich hinsetzt und staunt. Über die Klarheit der spätsommerlichen Luft, in der die Farben leuchten. Über Astern kurz vor dem Aufblühen und mehr als hundert Dahlien unten beim Kräutergarten. Ein beeindruckendes Fest zum Sommerende ist das, und Eva Eberwein nimmt sich Zeit, es zu genießen. Bald wird es kühler.
Auch nach den vielen Jahren, die sie nun schon in Gaienhofen am Bodensee wohnt, kann die studierte Biologin es noch immer gut nachvollziehen, wie es Leuten geht, die diesen Garten zum ersten Mal erleben. Von der eher unscheinbaren Nordseite her geht man über einen schmalen, schattigen Weg um das Haus herum und entdeckt die Aussicht: auf Rosen und Sterngladiolen und über Hainbuchenhecken, die an einer Stelle unterbrochen sind, damit man weiterschauen kann bis zum See. Eine sorgfältig geschaffene Blickachse.
Doch es gibt noch mehr zu sehen: alte Obstsorten wie die Birne „Gute Graue“, eine ausladende Esskastanie, zarte Irisblüten, ein vom Staketenzaun begrenztes Gemüsebeet und hinter Buchsbaumhecken jede Menge Kräuter. Entfernt man sich auf dem schmalen Kiesweg ein Stück weit vom Haus oder biegt dann an der kleinen Kreuzung nach links oder rechts, so ändert sich mit jedem Schritt der Blick und damit der Charakter des Gartens. Feuerrote Peperoni blitzen hinter duftendem Rosmarin hervor. Kapuzinerkresse und Astern setzen Akzente in Orange und Violett. Ein paar Meter weiter breitet sich jedes Jahr ein Laubendach aus, voll behangen mit „aromatischen Americanotrauben“, wie Eva Eberwein weiß. Unterm Rosenbogen hindurchschreiten, an einem stillen Ort verweilen oder sich für die Küche bedienen – in diesem Garten geht das alles. „Der extrem humushaltige Boden ist eine Erklärung für die große Fruchtbarkeit“, sagt Eberwein und erinnert sich, wie schon ihr Vater meinte: „In Gaienhofen kann man einen Spazierstock in den Boden stecken – er wächst an.“
Wo alles wächst
Üppiges Wachstum und die damit verbundene enorme Pflanzenvielfalt allein erklären die Besonderheit dieses Gartens aber genauso wenig wie die Tatsache, dass das 2400 Quadratmeter große Grundstück nach Süden ausgerichtet ist. Auch der Seeblick reicht nicht aus, um den Zauber zu verstehen, und selbst die Tatsache, dass Hermann Hesse hier lebte, ist zunächst kaum mehr als eine Fußnote, wenn man ankommt.
Tatsächlich war es der Schriftsteller selbst, der den Garten Anfang des 20. Jahrhunderts geplant und angelegt hat. Und tatsächlich kommen viele genau deswegen hierher: weil sie Hesse verehren, dort sein wollen, wo er war. Eva Eberwein ist dieser Personenkult fremd. Dass man jemanden so auf einen Sockel stellt. Aber sie hat die ursprüngliche Idee dieses Gartens übernommen, und es ist ihr wichtig, alles in Hesses Sinn weiterzuführen.
„Anders als sonst kann ich mich im Garten in vielem mit Hesse verbinden“, erklärt die Frau mit den fürs robuste Arbeiten überraschend zarten Händen. Von der Leidenschaft des Schriftstellers fürs Üppige, Jahreszeitliche, sich im Turnus Entwickelnde spricht sie. Und von einer „hohen Lebendigkeit“, die hier spürbar sei, überall.
„Schön, dass hier alles einfach so wachsen darf“, sagen manche, die kommen. Amüsiert schüttelt Eberwein den Kopf. „Wenn die wüssten …!“
Fast viereinhalb Stunden morgens, drei weitere am Abend – das ist ihr üblicher täglicher Einsatz. Andererseits: Solche Äußerungen sind auch Komplimente. Denn was sie als Letztes wollte, sei ein domestiziert wirkender, sich Trends unterwerfender Garten. Einer, bei dem der Mensch alles im Griff haben will. Wer es perfekt mag, der ist im Garten betrogen – schon Hesse hat das gesagt. Von „sinnentleerten Gärten“, von solchen, in denen sich kein Wechselspiel mit der Natur beobachten lässt, erzählt Eberwein. Aufgepflanzte Thujen. Schotterbeete. Abstandsgrün. Wieder Kopfschütteln. „Mir scheint, da geht zunehmend etwas Wichtiges verloren.“ Weil ein Garten ja auch Lebensraum ist? Natürlich, und man braucht nur darauf zu achten, wie viele Falter hier flattern und wie oft eine Hummel vorbeibrummt.
Vergessenes wieder beleben
Die Hecken um den Garten wirken nicht wie eine Begrenzung, eher wie eine Markierung einer neuen Ebene, einer von vielen. Der Garten fügt sich harmonisch in die Umgebung ein und zeigt mit Blumen, Hecken und dem See ein schönes Gesamtbild. Von dem Prinzip, dass die Landschaft „Bilder schaffe“, „einen Rahmen, wenn man so will“, spricht Eva Eberwein. Was im Gartenbau um das Jahr 1900 verbreitet war, hat man in England perfektioniert mit kunstvoll angelegten Parks, die einen Eindruck von Unbegrenztheit und Weite vermitteln. In Deutschland, sagt Eberwein, sei vieles, was man früher beim Gärtnern selbstverständlich bedacht habe, leider in Vergessenheit geraten.
Der Hesse-Garten soll zeigen, was auch hierzulande möglich ist, soll Kraft-Ort sein und Quelle der Inspiration. Tatsächlich sind viele, die kommen, derart angetan, dass sie den eigenen Garten daheim grundlegend überdenken wollen. Konkrete Tipps, wie man zieht und pflanzt und Räume schafft? Hat Eva Eberwein zur Genüge. Zunächst aber braucht es ein grundlegend neues Bewusstsein. Gern geht sie mit Besuchern runter zu den Hainbuchenhecken, die Hesse genau so haben wollte: im Sommer dicht, im Winter licht. „So wie der Schriftsteller es hasste, von vorbeilaufenden Passanten angesprochen zu werden, so wenig mochte er immergrüne Gewächse“, verrät sie.
Wenn der Garten ruht
Inzwischen ist sie fertig mit dem Gießen, auch die verblühten Astern sind abgezupft, das verfaulte Obst vom Boden aufgelesen. Zeit für die Rosen. Zum Beispiel diese alte Sorte, eine Rosa multiflora mit vielen Blüten und später leuchtenden Hagebutten. Doch Eberwein lässt sich nicht von der Schönheit einer Pflanze blenden. „Ihr Zweck ist allein die Vermehrung“, sagt sie ein wenig abgeklärt, und man spürt, dass ihre Fürsorge für den Garten aus diesem Verständnis erwächst. Die Rose zum Beispiel: Ihre Zweige biegen sich zum Boden, an ihren Enden wurzelt die Pflanze sogar schon an, und der Topf, in dem sie wächst, ist viel zu klein.
Kraftvoll wuchtet Eva Eberwein das Gewächs auf eine Schubkarre. Hinten im Nordgarten wird sie sich um die wuchernde Pflanze kümmern. Beste Komposterde und Übertöpfe in vielen Größen und Formen gibt es da. Um die zwei Stunden täglich hat Eva Eberwein allein hier zu tun.
Wenn die Gartenarbeit ruht, hält Eva Eberwein den Kulturbetrieb des von ihr gegründeten Hermann-Hesse-Haus-und-Garten-Fördervereins durch ein vielfältiges Programm am Laufen, etwa mit Wildkräutererkundungen. Die Kirchturmuhr hat gerade elf geschlagen, es ist Zeit fürs Frühstück. Und so lecker das, was auf den Tisch kommt, auch anmutet – es erinnert daran, was zusätzlich zum Pflanzen und Jäten und Pflücken und zum Büro noch alles erledigt sein will, Tag für Tag. Selbst gemachte Kräuterbutter, Birnensirup, Aufstrich aus Weinbergpfirsich und Kornelkirsche – nicht nur für das Auge und die Seele, auch für den Gaumen ist dieser Garten ein Fest. Äpfel werden zu Saft, Kräuter zu Tee, Estragon verfeinert Essig, aus Hesses Maroni macht eine Freundin Seife. Gelebte Wertschätzung ist das, und Eberwein empfindet es als etwas sehr Sinnstiftendes. Das schönste Geschenk ist die Dankbarkeit, die aus den vielen Einträgen ins Gästebuch spricht und die zeigt, wie groß die Bedeutung des Gartens weit über die ihn eingrenzenden Hainbuchenhecken hinaus ist.