Im botanischen Garten von Padua, dem Orto botanico, werden seit 1545 Heilpflanzen angebaut. Unser Autor und Fotograf Stephan Bösch erkundet den stillen Ort während einer Italienreise.
Die langsame Reise mit der Bahn Richtung Süden war für mich immer von einem Zauber umgeben. Mein Ziel ist das geschichtsträchtige Padua vor den Toren Venedigs. Nach der Ankunft mache ich, wie immer an einem neuen Ort, einen Spaziergang. Es ist Abend, während ich durch die Gassen schlendere. Auf einer kleinen Brücke mache ich halt, weil mich die Spiegelungen der alten Häuser im Wasser anziehen. Eine Wasserschildkröte reckt ihren Kopf aus dem Wasser, um Luft zu holen.
In diesem Augenblick fallen mir die üppigen Pflanzen auf der anderen Uferseite des Flusses auf, auch ihr wunderbarer Duft, und ich stelle fest, dass ich vor dem Hauptportal des botanischen Gartens auf Italienisch Orto botanico, stehe, mit dem ich mich die nächsten Tage beschäftigen werde. So überlasse ich die Steinsäulen mit den geschmiedeten Pflanzen der Nacht und suche mein Hotel auf. In den frühen Morgenstunden betrete ich als erster Gast den Garten.
Die Türme der Basilica di Sant’Antonio
Die Gärtner haben bereits die Wege vom Laub befreit und entfernen jetzt in mühsamer Handarbeit das Unkraut. Auf Chemie wird weitestgehend verzichtet, wird mir später der Gärtner Leopoldo Negrin erklären. Er arbeitet bereits seit dreiunddreißig Jahren hier. Nur wenige der Pflanzen werden von den ersten Sonnenstrahlen erfasst. Sie stehen im Schatten eines riesigen, 1750 gepflanzten Ginkgos. Nun schweift mein Blick immer wieder zu den majestätischen Türmen der Basilica di Sant’Antonio, die im Hintergrund die ehemaligen Treibhäuser überragen. Heute sind darin die Bibliothek, das Herbarium und Büros des Orto botanico untergebracht. Der runde Grundriss des Gartens unterstützt mich dabei, mich einfach treiben zu lassen. Einmal lockt mich ein betörender Pflanzenduft in eine Richtung. Dann wieder zieht mich meine Neugier durch einen Pfad ins Dickicht. Stets gelange ich zu einem der Springbrunnen, die gegen Ende des 16. Jahrhunderts errichtet wurden.
Ich mache Rast auf einer Bank. Schließe ich die Augen, überwiegen das Zirpen der Grillen und das Plätschern des Brunnens. Eine Oase der Ruhe inmitten einer geschäftigen Stadt. Ein anderer Pfad führt mich aus dem alten Garten hinaus. Jetzt ist mein Bild dominiert von geraden Linien und moderner Architektur. Vor mir öffnet sich eine große Fläche, deren Wege zum Garten der Biodiversität führen. Im Jahr 2014 wurde hier ein 100 Meter langer Neubau eröffnet, der rund 1300 Pflanzenarten verteilt auf fünf Klimazonen beherbergt. Durch seine Strukturen aus weiß lackiertem Stahl und Glas hebt er sich klar vom historischen Teil ab.
Architektonische Gegensätze
Und doch lebt dieser im zeitgenössischen Bau: Der Architekt Giorgio Strappazzon studierte die Gegebenheiten genau und nahm mit den Achsen des Neubaus Bezug auf die nach den Kardinalpunkten ausgerichteten quadratischen Parzellen im alten Garten. Zudem liegt das Gelände genau zwischen den beiden wichtigsten Kirchen Sant’Antonio und Santa Giustina. Die Besucher bekommen in diesem modernen Gewächshaus eine Ahnung von der Vielfalt der Planzenwelt. Doch auch die Bedrohung der Diversität wird eindrücklich thematisiert, und man kann sich plötzlich viele Gedanken über das eigene Konsumverhalten machen. Botanische Gärten auf der ganzen Welt haben die verantwortungsvolle Aufgabe, bedrohte Pflanzenarten zu erhalten.
So ist der Orto botanico in Padua Teil eines Netzwerkes, das Pflanzensamen sammelt und austauscht, erklärt mir Stefano Miotto, der seit 2002 in der Samensammlung arbeitet. Vor ihm stehen zahlreiche weiße Schalen, in denen Samen zum langsamen Trocknen ausgebreitet sind. Sie werden bei -16° C gelagert und alle zwei Jahre ersetzt, um stets auf keimfähiges Saatgut zurückgreifen zu können.
Dr. Alessandra Angarano, zuständig für die Öffentlichkeitsarbeit, führt mich in die Bibliothek und damit in die Vergangenheit des Gartens. Der Orto botanico ist der älteste zu einer Universität gehörende botanische Garten der Welt. Er wurde 1545 von der Republik Venedig mit dem Ziel gegründet, Heilpflanzen anzubauen und zu studieren. Damals herrschte beim Bestimmen der Pflanzen große Unsicherheit. Die Zeichnungen entstanden nach mythologischen Gesichtspunkten, und die heutigen botanischen Bezeichnungen existierten noch nicht. Fehlbestimmungen und dadurch falsch verabreichte Medizinalpflanzen waren die Folge. Mit der Renaissance kam die Geburtsstunde der modernen Wissenschaften. Systematisch begann man die Heilpflanzen zu erfassen und präzise Zeichnungen anzufertigen. Die Pfade zwischen den Beeten waren damals vertieft angelegt, damit man die Pflanzen besser betrachten konnte und sich nicht bücken musste.
Alessandra schlägt ein Manuskript aus dem Jahre 1530 auf. Otto Brunfels, einer der Väter der modernen Botanik, hat es verfasst. Die Abbildungen sind nicht nur wunderschön, sie zeigen die Bestandteile einer Pflanze auch sehr genau und lassen keine Fragen über die Spezies offen. Erstaunlich ist, dass die Farben der von Hand kolorierten Zeichnungen nichts an Leuchtkraft verloren zu haben scheinen. Mittlerweile ist es fast Mittag.
Im Augenblick
Unter einer riesigen Magnolie setze ich mich auf eine Bank, ordne meine Gedanken und komme zu folgender Erkenntnis: Der Orto botanico vereint zwei unterschiedliche Aspekte unseres Lebens. Der historische Garten mit seiner kreisrunden Form lädt uns zu einem meditativen Gang durch die Welt der Pflanzen ein. Wir dürfen uns ganz der Wahrnehmung hingeben, ganz dem Augenblick. Schlüpft man durch jenen Pfad zwischen den gestutzten Hecken hindurch zum neuen Bau, findet gewissermaßen eine Entzauberung statt. Dort übernimmt der Verstand die Oberhand, und man kann sehr viel Wissen rund um Pflanzen erwerben. Ich schreite durch das Hauptportal über die steinerne Brücke und halte nach der Wasserschildkröte Ausschau, die sich allerdings im grellen Sonnenlicht nicht zeigt.
Die Goethe-Palme als älteste Pflanze im Garten
Ein markantes Gewächshaus schützt die älteste Pflanze im Garten: die Goethe-Palme, eine 1585 gepflanzte Zwergpalme (Chamaerops humilis var. arborescens), die Johann Wolfgang von Goethe in seiner „Geschichte meines botanischen Studiums“ 1817/1831 erwähnte. Ich schaue weit hoch zur Spitze des achteckigen Glasdachs, das das Wachstum der Pflanze zu bremsen scheint, und wundere mich über den Namen Zwergpalme. Ich frage den Gärtner Leopoldo, der gerade eilig mit einer Heckenschere vorbeiläuft. In der Natur wächst die Palme auf kargen Böden, und die Nächte in der Wüste sind bitterkalt. Hier hingegen hat sie sehr milde Bedingungen, meint er. Leopoldo führt weiter aus und bringt mich zu den historischen Gewächshäusern. Bis 1984 war ein Exemplar des vor 1550 gepflanzten Mönchspfeffers (Vitex agnus-castus) die älteste Pflanze des Gartens. Sie erfror im damals außerordentlich kalten Winter. Der Mönchspfeffer wird in der Umgangssprache auch Keuschbaum genannt und erinnert so ein bisschen an die Zeit, als ein Kloster auf dem jetzigen Gartengelände stand. Schließlich vermieteten die Mönche einen Teil des Landes an die Universität Padua. Das Anlegen des botanischen Gartens konnte beginnen.
Der botanische Garten
Der Orto botanico di Padova in Norditalien ist Unesco-Weltkulturerbe, zeigt etwa 7000 verschiedene Pflanzenarten und ist bekannt für seine außergewöhnlichen Sammlungen. Auf dem Gelände befinden sich darüber hinaus ein pharmakologisches Museum, eine Bibliothek und seit 2014 der Garten der Biodiversität.