Das Leben von Nick und Kirsten muss paradiesisch sein: Sie wohnen und arbeiten auf Melliodora, Australiens ältester Permakultur Musterfarm.
Das Ziegenfrühstück ist liebevoll zusammengerührt: getrocknete Meeresalgen, Hafer, Apfelessig und ein paar andere Leckerbissen. Während Willow, Pip und Chia ihre Köpfe in die Eimer stecken, kann Kirsten Bradley sie in Ruhe melken. Die Morgensonne schickt schräge Strahlen durch den Stall, Wände und Dach sind aus alten Planken gezimmert. Mint, das Zicklein, rupft Zweige aus einem Holzkasten an der Wand. Hinter der Melkbank liegen abgefressene Äste, die später zerkleinert und gemulcht werden. „Hier geht nichts verloren“, sagt die Australierin. Ins Meckern der Ziegen mischt sich das Trällern von Flötenvögeln, nach 20 Minuten ist das morgendliche Melkritual vorbei.
Alles frisch
Auf Melliodora, Australiens ältester Permakultur-Musterfarm in Victoria, hat der Tag begonnen. Vorsichtig balanciert Kirsten den vollen Blechtopf zurück ins Haus. Ihr Mann Nick Ritar hilft, die vier Liter Ziegenmilch umzufüllen: ein Strahl in die Kefir-Kanne, ein Teil wird den Tag über frisch getrunken, der Rest später zu Käse verarbeitet. In Australien sind die meisten Rohmilchprodukte noch immer verboten. „Aber solange wir sie nicht verkaufen, interessiert das keinen“ – Kirsten und Nick lächeln. Die frische Milch genießen sie, ihr Sohn Ashar und die anderen Bewohner der Farm gerne selbst und vertragen sie gut. Ebenso wie die Eier ihrer Hühner und die unendliche Vielfalt an Gemüse, Getreide und Obst, die am Hang rundum gedeihen – angepflanzt und betreut nach den Prinzipien der Permakultur, einer Anbau- und Lebensweise, die dem Vorbild der Natur folgt, schonend mit Ressourcen umgeht, Mischkultur unterstützt und viele weitere Aspekte sozialer und ökonomischer Nachhaltigkeit einbezieht.
Permakultur, ein Lebenskonzept
Permakulturprodukte verkaufen sie zwar nicht – doch die Prinzipien, die dahinterstecken, schon. Dafür haben Nick und Kirsten eine Marke mit dem Namen Milkwood erfunden, unter der sie anspruchsvolle Seminare organisieren: zu Pilzzucht oder Permakultur-Design, zu natürlicher Bienenhaltung oder Tomaten, zum Anlegen eines Marktgartens oder zur ganzheitlichen Entscheidungsfindung.
Zugleich geben sie ihr Wissen auf einer Internetseite weiter, dazu in sozialen Medien wie Facebook und Instagram – gratis und für jeden zugänglich. „Die Idee ist, so viel wie möglich zu teilen“, erklärt Kirsten. „Real skills for down to earth living“ lautet die Philosophie: echte Fertigkeiten für ein einfaches Leben. „Viele der Kurse, die wir organisieren, sind entstanden, weil wir selbst etwas lernen wollten“, erzählt Nick und gießt etwas Ziegenmilch in den Kaffee. Er schaut auf die Uhr, für den neunjährigen Ashar wird es Zeit für die Schule. „Der Schulbus hält gleich oben an der Straße“, ruft der Junge und verschwindet mit seiner Tasche durch den sonnigen Garten. „See you later!“
Ein neuer Anfang
Angefangen hat Nicks und Kirstens gemeinsame Reise ins Leben mit der Natur mitten in Australiens zweitgrößter Stadt. Beide waren erfolgreiche Videokünstler in Melbourne, ständig auf Achse, unterwegs zu Kunstevents und Partys. „Aber irgendwann passte dieser Lebensstil nicht mehr zu unseren Überzeugungen und Werten“, erzählt Nick. Erst recht, als sie eine Familie gründen wollten. Sie zogen auf ein abgelegenes Stück Land von Nicks Eltern in Neusüdwales, beschlossen, nachhaltige Landwirtschaft zu praktizieren und ein umweltverträgliches Haus zu bauen. „Allerdings hatten wir von beidem nicht viel Ahnung“, lacht Kirsten. „Aber wir wussten, wie man Veranstaltungen organisiert und wie man eine Geschichte erzählt.“ Sie luden Fachleute ein, ihnen und anderen ihr Wissen zu vermitteln, veranstalteten Workshops und Seminare.
Die Farm wuchs, ihr kleiner Sohn kam auf die Welt, ihr Haus wurde fertig, und sieben Jahre später wurde es Zeit für die nächste Veränderung: Verkauf der Farm, Umzug zur Küste – und damit Zeit für noch mehr Milkwood-Kurse und ihre wachsende Fangemeinde. Inzwischen haben 6000 Menschen ihre Seminare besucht. Ihre mit 20 Teilnehmern kleinen und persönlichen Kurse finden auf Hobbyfarmen statt, in der Schulhalle gegenüber oder auf einem Dachgarten mitten in Sydney.
Nachhaltiges Konzept
Draußen neben dem kleinen Bewässerungsdamm schaut der Australier bei seinen Bienen vorbei. Die beiden Stöcke folgen den Prinzipien der natürlichen Bienenhaltung. „Es geht dabei nicht um den größtmöglichen Honigertrag, sondern vor allem um das Wohl der Bienen.“ Ihre Warrébeuten haben nur drei Seiten, in denen die Insekten ihre Waben selbst bauen, sie werden nicht umgesetzt, um Krankheiten und Stress zu vermeiden. „Und trotzdem können wir genug überschüssigen Honig ernten“, sagt Nick.
Auch rund um die Bienenschwärme geht nichts verloren: Restprodukte wie Wachs verarbeitet er zu Kerzen oder Salben, aus Pollen und Waben wird Met. Den Umgang mit den fleißigen Pollenträgern haben Nick und Kirsten ebenfalls in einem ihrer Kurse gelernt, von Tim Malfroy, Australiens Meister der natürlichen Bienenhaltung. Inzwischen veranstalteten sie eher zwei als sechs Kurse im Monat. „Das ist besser zu schaffen und etwas familienfreundlicher“, sagt Kirsten. Denn viel brauchen die drei zum Leben nicht. Sie müssen weder ein Haus abbezahlen noch Australiens hohe Mieten verdienen. Durch glückliche Umstände landeten sie vor zwei Jahren mitten in der Zukunft, die sie für sich erträumten – in Melliodora.
„So etwas wollten wir uns eigentlich selbst aufbauen“, sagt Kirsten und zeigt durch den Wintergarten des kleinen passiven Solarhauses nach draußen. Vor den raumhohen Fenstern reifen unter losen Netzen Oskar-Äpfel und Nashi-Birnen, Korn raschelt in der Spätsommerbrise. Gänse watscheln unter Weiden in den See, die frechste Gans hat einen Apfel geklaut und rennt mit ihrer süßen Beute laut schnatternd davon. Mehr als 140 Bäume produzieren auf der Farm Guaven und Pfirsiche, Äpfel und Birnen, Macadamia-Nüsse und Feigen, Oliven und Nektarinen – die Liste ließe sich lange fortsetzen.
Der Erfinder der Permakultur
Melliodora, benannt nach einer blassgelb blühenden Eukalyptusart hinterm Haus, ist eine knapp einen Hektar große Farm in Hepburn Springs, gut eineinhalb Stunden nordwestlich von Melbourne in Victorias sogenanntem Spa Country – rund um Hepburn und das benachbarte Daylesford sprudeln mehr als 70 Mineral- und Heilquellen. Vor 35 Jahren kaufte Australiens Permakultur- „Erfinder“ David Holmgren hier ein Stück Land, um seine eigenen Theorien zu verwirklichen. 1978 hatte Holmgren mit Bill Mollison „Permaculture One“ veröffentlicht, ein Werk, das zu einer Art Bibel wurde für Lebens- und Anbauweisen, die naturnahen Kreisläufen folgen. Viele der Ideen werden seither auch im urbanen Umfeld und sozialen Miteinander gelebt.
Mit seiner Partnerin Su Dennett und vielen Helfern verwandelte Holmgren den von wilden Brombeeren überwucherten Hang zum lebendigen Beweis für die Gültigkeit seiner Theorie: Das Zusammenwirken von Menschen, Tieren und Pflanzen lässt sich so kombinieren, dass sie dauerhaft funktionieren und die Bedürfnisse aller so weit wie möglich erfüllen. Nebenbei reparierten sie die Natur, anstatt sie weiter auszubeuten. Nick greift am Hang einen dunkelgrünen Zweig, ein simples Beispiel für eine der Permakultur-Grundlagen: „Das ist ein Tagasate, eine sprossende Zwergginsterart. Die Ziegen lieben die Blätter, die abgenagten Zweige werden zerkleinert und bedecken als Mulch die Beete. Zugleich verbessern Tagasate, ebenso wie die Akazien zwischen den Obstbäumen, den Stickstoffgehalt im Boden.“ Als das zweite Haus auf der Farm leer stand, lud Holmgren die junge Familie ein, dort zu leben und bei der Arbeit auf der Farm zu helfen. Die Idee des Teilens bekam eine völlig neue Dimension, der gute persönliche Kontakte, die gleiche Lebensphilosophie und gutes Timing halfen.
Nick, Kirsten und Ashar „besitzen“ den Grund und Boden, auf dem sie leben, nicht, aber sie sind glücklich, ihn zu bestellen und die Erträge zu ernten. „Mir bedeutet die Gemeinschaft um uns herum inzwischen mehr als Besitz um des Besitzens willen“, sagt Kirsten. Vor ihr türmen sich 20 Kilogramm Gurken, die sie mit raschen Bewegungen klein schneidet und zu eingelegten Senfgurkenhappen verarbeitet. Das Miteinander, das Lernen und verantwortungsvolle Arbeiten vermitteln ihr ebenso wie der gute Kontakt zu den Leuten im Ort, in dem sie leben, mehr Sicherheit als ein Grundbucheintrag. „Wir wissen noch nicht, wie diese Art Nachfolge oder ,Verwalten statt besitzen‘ langfristig funktionieren wird, aber wir sind glücklich, den Weg gemeinsam ausprobieren zu können“, sagt Kirsten Bradley.
Auf dem Küchentisch liegt ein Beutel mit der Aufschrift „Just Reishi“ – getrocknetes Pilzpulver, das laut Packung das Immunsystem kräftigt. „Die Pilze sind auf australischem, braunem Demeter-Reis gewachsen, zwölf Stunden dehydriert und dann zu Pulver verarbeitet“, erklärt Nick begeistert. Aber ebenso wie die Mischung freut ihn dessen Herkunft: „Das Reishi hat eine frühere Kursteilnehmerin geschickt. Marita hat sich nach einem unserer Kurse selbstständig gemacht.“ Seine blauen Augen leuchten, das Reishi ist für ihn ein doppeltes Geschenk, der ideale Erfolg der Seminar-Idee und der Beweis, dass seine Arbeit vielerlei Früchte trägt.