Die Geschwister Zoé und Ferdinand tauschten in französischen Dörfern Kinoabende gegen Saatgut. Jetzt bewirtschaften sie einen Biohof im Libanon und säen dort neue Hoffnung
Eine ungewöhnliche Idee
Seit einer Stunde hockt Zoé da. Unauffällig. Den Kopf nach vorne gebeugt über eine kleine Palette, die sie auf ihren Oberschenkeln balanciert. Behutsam setzt sie winzige Paprikasamen in das Sprossengefäß wie bei einem Geschicklichkeitsspiel. Gekonnt legen Daumen und Mittelfinger die Saatkörner jeweils in die kleinen mit Erde gefüllten Fächer, eins nach dem anderen, bis die Palette voll ist.
Der 24-jährigen Französin gefällt diese Arbeit. Ganz für sich sein, in Ruhe und in ihrem eigenen Rhythmus. Ihr Bruder Ferdinand ist ganz anders. Auf dem Gemüseacker berät er sich mit einem syrischen Mitarbeiter, inspiziert die neue Bewässerungsanlage, die gerade entsteht, und pflückt im Vorbeigehen eine große Ackerbohnenschote. Ferdinands Gang ähnelt einem Mäandern, hin zum nächsten Menschen auf dem Hof, der ihm begegnet, mit dem er ein neues Gespräch beginnt. Er ist drei Jahre älter als seine Schwester, und seine langen Dreadlocks sind in einem Land wie dem Libanon ungewöhnlich. Genauso ungewöhnlich wie die Idee eines Biohofes im Bekaa-Tal, wo eine halbe Million Geflüchtete in Hunderten von Lagern leben. Der Gedanke wurde im Juni 2015 geboren, als die Geschwister ein halbes Jahr durch Frankreich, Italien, Griechenland und die Türkei bis in den Libanon reisten. In ihrem Kleinbus transportierten sie eine vier mal sechs Meter große Leinwand und einen Beamer und zeigten Filme, jeden Abend in einem anderen Dorf. Es ging immer darum, wie der Generationswechsel im ökologischen Landbau gelingen kann. Der Eintritt war frei. Fast: Im Tausch gegen den Kinoabend baten Zoé und Ferdi um Saatgut alter Sorten.
Ein Ort des Willkommens
Ihr Projekt „Graines et Cinéma“ (Saatgut und Kino) sprach sich unter Landwirten und Aktivisten schnell herum, und der Laderaum des Transporters füllte sich von Kilometer zu Kilometer mit Saatgut. „Wir hatten die reine Biodiversität an Bord. Zuletzt waren es zum Beispiel allein über 130 Tomatensorten, die wir von Bauern bekommen hatten“, sagt Zoé. „Zu jeder Sorte erzählten uns die Landwirte etwas von der Herkunft, Aufzucht, ihrer Widerstandskraft gegen Krankheiten etc.“ Bis die beiden im März 2016 mit der Fähre von Antalya nach Tripoli übersetzten, hatte Ferdi eine Tabelle mit 17.000 Zeilen an Informationen zusammengetragen. Wertvolles Material für die Zukunft der Landwirtschaft.
Schon 2014 verbrachte Ferdi ein halbes Jahr auf der Domaine de Taanayel, einem Klosterhof, der 1863 von Jesuiten im Libanon gegründet wurde. Er arbeitete ehrenamtlich in einer Art Freilichtmuseum, half, einen Garten anzulegen, und trug Hunderte Arten von Samen alter Sorten zusammen, die bis heute dort lagern. Der aus Syrien geflüchtete Landwirt Waled half ihm dabei. Man freundete sich an, teilte die Vision nachhaltiger ökologischer Landwirtschaft und träumte vom gemeinsamen Hof. Heute bewirtschaften die drei zusammen mit Waleds Frau und 20 Mitarbeitern „Buzurna Juzurna“ (arabisch „unser Saatgut sind unsere Wurzeln“), ihren eigenen Hof am Ortsrand des Dorfes Saadnayel, eine Autostunde östlich von Beirut.
Neue Chancen
„In Syrien hat der biologische Landbau heute bessere Chancen denn je“, erklärt Ferdi. „Der Krieg, zerstörte Straßen und Geldmangel machen den konventionellen Ackerbau dort unmöglich. Alles ist viel zu teuer. Wir zeigen Alternativen, und die Leute kommen zu uns. Das ist die Idee des Hofes: ein Ort des Willkommens zu sein, an dem man etwas über Landwirtschaft lernen kann oder einfach nur die Sprache Arabisch. Niemand muss hier arbeiten, aber wer will, der kann.“ In erster Linie kommen syrische Bauern, die etwas über ökologischen Landbau erfahren wollen. Letzte Woche nahmen auch Palästinenser an einem Workshop teil, die auch auf dem Hof gewohnt haben. Wenn Ferdi auf Englisch erzählt, tut er das mit französischem Akzent und lässt hin und wieder ein „R“ rollen, so wie im Arabischen. In den knapp drei Jahren im Libanon haben er und Zoé so gut Arabisch gelernt, dass sie sich unterhalten können. „Unsere syrischen Mitarbeiter haben ihr Arabisch an unser Niveau angepasst. Wir haben quasi eine gemeinsame Sprache gefunden“, sagt Ferdi.
Es ist kurz nach acht, als das Melken der Schafe beginnt. Acht syrische Fettschwanzschafe gibt es seit Neuestem auf dem Hof, finanziert aus dem Einkommensüberschuss einzelner Mitarbeiter. „Unser Ansatz ist, dass alle gleich viel verdienen. Und wenn am Ende des Monats etwas übrig bleibt, regen wir unsere Mitarbeiter an, in den Hof zu investieren. So sind wir zu unseren Schafen und Hühnern gekommen“, sagt Ferdi, während er das große Zelt am Rand des Hofes betritt. Von außen ist es nicht von den Tausenden von Zelten zu unterscheiden, in denen die syrischen Geflüchteten im Bekaa-Tal leben: eine Konstruktion aus hellgrauer Lkw-Plane, aufgespannt auf ein einfaches Holzgerüst, das Dach beschwert mit alten Autoreifen.
Nachhaltig wirtschaften
Ganz hinten links im Zelt, im Herzen des Hofes hinter einem Verschlag, arbeitet Ferdis Frau Lara. Hier, im winzigen Saatgutlager, sortiert sie Hunderte von Pflanzensamen. Zählt, wiegt und beschriftet kleine Tütchen, die sie behutsam in luftdichte Plastikboxen legt. Allein über fünfzig verschiedene Tomatensorten hat sie in den Regalen der klimatisierten Kammer archiviert. Links das Saatgut, das verkauft werden soll, rechts jenes für die Zucht. Auf ihrem Tisch herrscht Chaos, rund um eine Briefwaage stapeln sich Papiertütchen und durchsichtige Kunststoffcontainer. Auf einem steht „Gift Seedbox“, Saatgut-Geschenke. „Es besuchen uns hier Menschen aus der ganzen Welt, um ihre Erfahrungen und auch Saatgut mit uns zu teilen. Diese Solidarität fühlt sich sehr gut an“, sagt Lara und lächelt.
Alte Sorten retten
„Der Kampf um den Erhalt alter Sorten wird weltweit geführt. Bei
den kommerziellen Sorten geht es ausschließlich um gleiche Größe und Beschaffenheit. Je gleichförmiger, desto besser. Auf unserem Hof konzentrieren wir uns auf Geschmack und Individualität. Wir müssen die alten Sorten jetzt retten, sonst sind sie endgültig verloren.“
Auch im Seminarraum nebenan geht es um Saatgut. Heute hören zwölf Teilnehmer einen Vortrag über Baumkunde. Männer und Frauen aus Syrien und dem Libanon. In der Mitte eines großen Tisches liegen dünne Zweige, die Versuchsobjekte. Jeweils drei Personen widmen sich einer zarten Pflanze, die veredelt wird: Behutsam, wie bei einer komplizierten Operation, wird die Rinde geritzt und eingeschnitten, werden Ästchen eingesetzt und die verletzten Stellen schließlich fest mit Bast eingewickelt. Es ist ein Gemeinschaftsprojekt: Der eine hält den Zweig, die andere schneidet, der Dritte beobachtet und gibt Tipps.
Mittags tragen zwei Männer einen Tisch aus dem Seminarraum auf den Vorplatz. Auf einer riesigen Aluminiumplatte sind Reis mit Kartoffeln, Hühnchenstücke, Erdnüsse und Erbsen angerichtet. Dazu gibt es knackige Blätter vom Romanosalat und eine große Schüssel Taboulé, jenen typisch libanesischen Bulgursalat aus geschrotetem Weizen, Tomaten, Zwiebeln und Minze. Jeder nimmt sich, setzt sich auf einen der selbst gezimmerten Stühle oder auf eine kleine Mauer, den Teller auf dem Schoß und isst mit einem Löffel.
Neuen Mut schöpfen
2011 ist Mustafa mit seiner Frau und den beiden Söhnen aus dem nahe gelegenen syrischen Dorf Zabadani dem Krieg entkommen. Vier Jahre später sind seine Jungs auf dem Seeweg nach Deutschland geflüchtet. Inzwischen lebt Mohamad in Trittau bei Hamburg und Hassan im bayerischen Landshut. Drei Jahre hat der 63-Jährige seine Söhne nur auf dem Smartphone gesehen. Mustafa war früher Colonel der syrischen Armee, und es fällt ihm schwer, seine Trauer zu beherrschen. Bevor eine Träne seinen gepflegten Vollbart erreicht, wischt er sie weg: „Jetzt will ich lernen, wie ich einen kleinen Bio-Gemüsegarten anlegen kann. Vielleicht eines Tages auch wieder in Zabadani – Insch Allah.“
Zoé wird heute Abend in die andere Richtung fahren, über die Libanonberge nach Beirut, in ihrem zerbeulten Mitsubishi. Dort verkauft sie einmal pro Woche Biotüten, die zuvor per WhatsApp bestellt wurden. Vorher zupft sie noch Frühlingszwiebeln aus der rotbraunen Erde. „Zurzeit haben wir nicht so viel Gemüse – eher Blumen. Die Saison beginnt erst wieder. Letztes Jahr hatten wir etwa 50 Kunden, und ich hoffe, dass es heuer noch mehr werden“, erzählt sie, während sie die klebrige Erde von den Knollen streift, Wurzeln und Zwiebelhaut abtrennt. Auch ihre Helferinnen haben noch viel zu tun, bevor es in die Hauptstadt geht.
Auf nach Beirut
Im Blumenfeld schneidet Charlotte geduldig Calendula, Kornblumen, Physalis und Salbei, die sie zu leuchtend bunten Sträußen bindet. Zwischen den mannshohen Ackerbohnen sticht Majsas gelbes Kopftuch heraus. Neben ihr bahnen sich Wala und Esma ihren Weg durch das dichte Feld. Jede der drei Frauen aus Aleppo hat die Hände voller Ackerbohnenschoten, manche so lang wie ein Unterarm. Ab und zu pulen sie sich eine der prallen Bohnen aus der Schote, schälen geschickt ihre dicke Schale ab und stecken sie in den Mund. Als gegen 16 Uhr die Gebetsrufe der Muezzine erklingen, beladen Zoé, Charlotte und Ferdi das Auto: Grüne Kisten mit Frühlingszwiebeln, Bananen und Zitronen sowie ein Korb Koriander kommen in den Kofferraum. Die braunen Papiertüten mit Zupfsalat und eine Kiste mit Blumensträußen landen auf dem Rücksitz.
Als Zoé den klapprigen Wagen anlässt, erzählt sie vom Hotel The Grand Meshmosh (arabisch Aprikose) in Beiruts hippem Stadtteil Gemayze. Dort können ihre Kunden bis 21 Uhr ihre Bestellungen abholen. „Die Leute, die dorthin kommen, sind eigentlich untypisch für unser Projekt. Die finden es chic, sich mit uns auszutauschen. Doch unser wirklicher Schwerpunkt ist die gemeinsame Arbeit mit Geflüchteten. Aber das hier ist auch wichtig, um unser Projekt außerhalb des Bekaa-Tales bekannt zu machen und vielleicht den einen oder den anderen zu uns zu locken.“
Während sie den Hof durch das verrostete Maschendrahttor verlässt, arbeiten Ferdi und seine Mitarbeiter am anderen Ende des Geländes. Das neu verlegte Bewässerungssystem ist fertig, und jetzt werden zarte Salatsetzlinge gepflanzt. Für Tomaten, Zucchini und Melonen wird das Wasser von unten kommen. Für Koriander, Petersilie und andere Blattpflanzen von oben, wie Regen. Und im Abendlicht hört es sich fast an wie eine Prophezeiung, als Ferdi sagt: „In ein paar Monaten wird man hier kein Stückchen Boden mehr sehen. Nur mannshohe Pflanzen und üppige Früchte.“ Dann gibt er Waled einen dicken Kuss auf die Wange. Einfach so.