Die Amerikanerin Mary Agnes Chase sprühte vor Mut und Entdeckergeist und erstellte die größte Sammlung von Gräsern weltweit. Als engagierte Forscherin und Feministin machte sie den Weg für nachfolgende Frauen in der Wissenschaft frei.
Es regnet, als im März 1922 eine kleine, exzentrische Frau in New Jersey, USA , im Auftrag des National Field Museum ein Schiff nach Europa betritt. Gegen drei Uhr nachmittags legt die „America“ ab. Die See ist rau, jedenfalls behauptet das ein weiterer Passagier. Er muss es wissen, hat er doch den großen Teich bereits 27-mal überquert. Die Kälte missfällt Mary Agnes Chase mindestens so sehr wie die Tatsache, dass die ganze Besatzung trinkt und raucht. Warm ist es nur im Bett und ganz besonders im Writing Room – doch auch dieser ist verraucht, und da Kälte für ihren seekranken Magen weniger unangenehm ist als Rauch, wandert sie regelmäßig umher, um frische Luft zu atmen. Sie wünscht sich, einen Wal oder einen Eisberg zu sehen; stattdessen begleiten Möwen das Schiff. Nie würde Chase zur See fahren nur um des Fahrens willen, und so ist sie froh, als sie in Europa von Bord gehen und den Zug Richtung Wien nehmen kann.
Botanische Streifzüge
Mary Agnes Chase wird 1869 in Illinois als Mary Agnes Meara geboren. Vaterlos wächst sie in Chicago auf, die Familie ist früh auf ihre finanzielle Unterstützung angewiesen. Wenn sie es sich leisten kann, besucht sie Kurse an der Universität von Chicago und am Lewis Institute, macht jedoch keinen Abschluss. Mit neunzehn Jahren heiratet sie den 34-jährigen William Ingraham Chase, der noch im ersten Jahr der Ehe an Tuberkulose stirbt. Sie wird nie wieder heiraten. Vielleicht haben der frühe Tod von Vater und Ehemann zu ihrer Unabhängigkeit und ihrem Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten beigetragen. Fest steht, dass ihr im Laufe ihres Lebens beides von großem Nutzen sein würde. Warum interessiert sich eine junge Frau in der Großstadt Chicago ausgerechnet für Gräser? Fasziniert von der Pflanzensammlung, die sie 1893 mit ihrem Neffen Virginius Chase auf der Columbian Exposition in Chicago besucht, beginnt Chase, in ihrer freien Zeit Gräser zu sammeln und Feldbücher anzulegen. Dass sie auf einem ihrer Streifzüge dem Botaniker und Priester Ellsworth Jerome Hill begegnet, ist ein glücklicher Zufall. Denn er wird ihr erster Mentor, gibt sein Wissen an sie weiter, macht sie mit dem Umgang des Mikroskops vertraut und mit Charles Frederick Millspaugh, dem Kurator des Field Museum, bekannt. Und Hill wird es sein, der sie dazu ermutigt, sich beim Landwirtschaftsministerium (USDA ) in Washington, D. C. zu bewerben. Anfang des 20. Jahrhunderts tritt sie dort eine Stelle als botanische Zeichnerin an.
Als Frau botanische Illustratorin zu werden war zu dieser Zeit kein Problem, anders sah es aus, wenn Frauen eine wissenschaftliche Karriere anstrebten. Auf Sammelreisen gehen, selbst neue Arten entdecken und erforschen – das war es, was Mary Agnes Chase wirklich tun wollte. Bereits der Philosoph Immanuel Kant war der Meinung, die wissenschaftliche Ausbildung von Frauen widerspreche dem Naturgesetz. Und sein Zeitgenosse Jean-Jacques Rousseau erklärte, die wissenschaftliche Tätigkeit verlange ein Ausmaß an Kraft, das Frauen nicht besäßen. Trotzdem kommt die junge Amerikanerin ihrem Ziel näher. Durch ihren Ehrgeiz und ihre Zeichnungen wird Albert Spear Hitchcock, leitender Spezialist für Gräser am USDA , auf sie aufmerksam und ernennt sie schon bald zu seiner wissenschaftlichen Mitarbeiterin für systematische Agrostologie (Gräserkunde). Sie werden Freunde, arbeiten fast dreißig Jahre intensiv zusammen und schreiben sich regelmäßig.
Im Gefängnis und auf Reisen
1911 plant Mary Agnes Chase eine Forschungsreise nach Panama. Doch Verwaltungsbeamte des Museums verweigern dies, weil sie eine Frau ist. Es ist nur eines von vielen Malen, dass sie aufgrund ihres Geschlechts Diskriminierung erfährt – und es ist nur eines von vielen Malen, dass sich Hitchcock für sie einsetzt. Nicht nur, damit sie an Missionen teilnehmen kann, sondern auch als sie aufgrund ihres politischen Engagements für Frauenrechte verhaftet wird und zweimal ins Gefängnis muss. Vorurteile und Schwierigkeiten halten Chase nicht auf: In den folgenden Jahren unternimmt sie zahlreiche Sammelreisen und setzt ihre Forschungen fort, auch in Europa.
Im Hackel-Herbarium in Wien ist es kalt. „Ich beginne daran zu zweifeln, ob es einen warmen, trockenen Reitort in Europa gibt“, schreibt Chase einige Monate nach ihrer Ankunft in ihr Tagebuch. Die Arbeit dauert lang: Unbestimmte Gräser der Sammlungen müssen klassifiziert, falsch beschriftete korrigiert, verwechselte den richtigen Gattungen zugeordnet werden. ein wesentlicher Aspekt des internationalen Handels zwischen Herbarien ist der Austausch von Duplikaten der Sammlungen gegen fehlende Exemplare. Für Chase ist ein Herbarium „für das studieren von pflanzen das, was ein Wörterbuch für die Literatur ist; es ermöglicht uns, Wörter im gleichen sinne zu verwenden und Wissen präzise zu kommunizieren“.
sie widmet sich ganz ihrer Arbeit und verbringt jeden tag neun stunden im Herbarium, aus dessen Fenstern sie an klaren tagen den Kahlenberg sehen kann. „Ich denke nicht, dass ich in fünf Wochen meines Lebens je so viel geschafft habe“, schreibt sie, ehe sie Wien nach ihrem längeren Aufenthalt verlässt, um weiterzuziehen nach München, Florenz, Pisa, Genf, Berlin, leiden, Brüssel, Paris und London.
Ein Rock voller Pflanzen
Und dann kommt endlich Südamerika: Zwei Jahre nachdem sie europa besucht hat, reist die Pflanzenforscherin das erste Mal nach Brasilien. sie möchte Feldforschung betreiben, neue arten sammeln und die Gräser, die sie aus dem Herbarium in gepresstem Zustand kennt, in natura sehen. Während Hitchcocks beantragte Mittel bereitgestellt werden, verweigern die Behörden ihr wieder jegliche finanzielle Unterstützung. Wie bei vorherigen reisen finanziert sie sich aus eigener Tasche und mithilfe der Organisationen, zu denen sie gehört In Lateinamerika arbeitet sie eng mit Missionaren zusammen, die, wie sie feststellt, wie Botaniker, bescheiden unterwegs sind: „sie gaben mir Informationen, die mir viel Zeit und ärger erspart haben.“ als sich die Regenzeit im frühen Februar dem ende neigt, erreicht die reisende die Provinz Minas Gerais im Südosten des Landes, die vom deutschen Naturforscher Carl Friedrich Philipp von Martius mehr als 100 Jahre zuvor durchquert wurde. In ihren Aufzeichnungen beschreibt sie die Landschaft und das Erlebte so bildhaft, dass man das Gefühl hat, selbst das Dröhnen der Paulo-Afonso-Wasserfälle in der Dunkelheit zu hören, den muffigen Geruch klammer Kleidung zu riechen, die in einem rauchigen Zimmer zum Trocknen aufgehängt wird, die sandigen Savannen des Nordens und die wolkenverhangenen Berge zu sehen. Einmal besteigt sie einen der höchsten Gipfel Brasiliens, Agulhas Negras, dessen Wegrand mit roten Amaryllis gesäumt ist. Oberhalb der Waldgrenze findet sie eine große Anzahl an Gräsern. Der Fußweg hinab dauert drei Tage, Chase kehrt mit einem „Rock voller Pflanzenproben“ zurück ins Camp und arbeitet bei Kerzenschein, bis die gesammelten Pflanzen nach Mitternacht alle in der Presse liegen. Sorgfältig notiert sie Aufbau und Aussehen und findet bis dahin unbekannte Arten, die auch für die Wissenschaft interessant sein werden. Sie schreibt: „Die Schönheit von Gräsern ist etwas, für das die meisten Menschen kein Auge haben.“
Bist du verheiratet?
„Bist du verheiratet? Wie viele Kinder hast du?“ Als Forscherin zieht sie die Aufmerksamkeit auf sich Und sie antwortet so oft, dass sie bald in fließendem Portugiesisch sagen kann: Eu sou viúva, eu não tenho filhos – ich bin
Witwe, ich habe keine Kinder. Um weniger aufzufallen, tauscht sie ihre Hosen gegen Röcke und nennt sich zeitweise Dona Ignez. Die zweite Brasilien-Expedition vier Jahre später ist beschwerlich. Auf den Gebirgszügen der Serra do Mar regnet es ständig. Während die Westseite zerstört, der Wald gerodet und verbrannt ist, befindet sich auf der Ostseite unberührter Urwald. Doch alles ist nass: das Werkzeug, die Kleidung, die Wege, deren roter Schlamm sich anfühlt die „Schmalz oder weiche Seife“. Manchmal legt Chase die Pflanzenpressen über Nacht in einen Ofen, damit die Feuchtigkeit entweicht. Gut, dass die meisten Gräser dünn sind, sodass das Trocknen nicht allzu lange dauert und sie an guten Tagen auch in der Sonne ausgelegt werden können. Weder Regen noch peitschender Wind, weder Wolken winziger Mücken, die zu Tausenden aus den sumpfigen Gebieten aufsteigen und hinter ihre Brillengläser fliegen, noch ein Guide, der um ihr Leben fürchtet – nichts kann Chase davon abhalten, Gräser zu sammeln: „Was ist das Leben ohne die Pflanzen, für die wir gekommen sind?“ Die gesammelten Proben bringt sie zum Konsulat, von wo aus sie in die USA gelangen. Allein auf ihren Reisen in Brasilien entdeckt Chase ungefähr 500 neue arten von Gräsern. sie baut ein umfangreiches Netzwerk für den Austausch von Gräsern mit anderen Serbarien auf, arrangiert Besuche in der renommierten Smithsonian Institution und empfängt Studentinnen der Botanik in ihrem haus in Washington, d. C., der Casa Contenta.
Die weltweit größte Sammlung
Nach ihrem Eintritt in den Ruhestand arbeitet Chase ehrenamtlich und bis ins hohe Alter unermüdlich als Hüterin der Gräser in ihrem Büro unter den roten Türmen am Herbarium. Ihr Werk ist wegweisend für nachfolgende Botaniker im Gebiet der Agrostologie: Es gelingt ihr, Tausende neuer Arten zu klassifizieren und allein zwischen 1905 und 1929 rund 10.000 Sammlungen anzulegen, die die Kollektion des National Herbarium bereichern. Bereits zu ihrer Zeit sind 200.000 Proben im alten Smithsonian Building untergebracht. Bis heute ist sie die größte und bei Weitem nahezu vollständige Sammlung von Gräsern weltweit. Ihr Privatleben – besonders als junge Frau – bleibt rätselhaft. Sie hatte zwei Enkelkinder, über ihre eigenen Kinder ist jedoch nichts bekannt. Teresa Boyd schreibt 2015 in „The Other Side of Mary Agnes Chase“: „Wo ist die junge Mary Agnes Chase? Wer war diese Frau, außer eine weltbekannte Botanikerin? In ihren Briefen finden sich einige Details über Enkel, Schwestern und Familienmitglieder; dennoch bleibt der größte Teil ihres Privatlebens geheimnisvoll. Gab sie ein oder mehrere Kinder zu einem ihrer Geschwister, während sie auf der Suche nach Gräsern um die Welt streifte, wie es zu ihrer Zeit so viele männliche Wissenschaftler taten? Warum wird so wenig über sie gesprochen?“ Mit 89 Jahren erhält Chase, die nie einen College-Abschluss erworben hat, einen Ehrenabschluss der Universität Illinois. Drei Jahre vor ihrem Tod schreibt sie mit einundneunzig Jahren in einem Brief an eine Nichte: „Wenn ich einen Sinn dafür hätte, würde ich die Arbeit am Herbarium und mit den Gräsern beenden, aber es wäre einfacher, mit dem Atmen aufzuhören.“
Über Mary Agnes Chase
Politisches Engagement
Neben ihrer Arbeit an Gräsern setzt sich Chase für die Rechte von Frauen ein. Im Januar 1915 schwört sie, jede Rede von Präsidenten Wodrow Wilson zu verbrennen, auf der das Wort „Freiheit“ steht, solange Frauen kein Wahlrecht haben. Bei den öffentlichen Verbrennungen wird sie zum ersten Mal inhaftiert. Das zweite Mal ist es im Jahr 1918, als sie vor dem Weißen Haus demonstriert. Sie tritt in Hungerstreik und wird zwangsernährt, jedoch keiner weiteren Befragung unterzogen. Chase ist Mitglied in einigen politischen Gruppierungen (u.«a. Women’s Party, Women’s Christian Temperance Union, National Association for the Advancement of Colored People, Socialist Party, Fellowship of Reconciliation, Women’s International League for Peace and Freedom).
Stationen einer Pionierin
• 1869 wird Mary Agnes Meara in Illinois geboren.
• 1893 legt Chase ihr erstes Feldbuch an, lernt ihren Mentor Ellsworth Jerome Hill kennen.
• 1905 beginnt ihre Zusammenarbeit mit dem Gräserkundler Albert Spear Hitchcock.
• 1922 veröffentlicht Chase das „First Book of Grasses“ und reist nach Europa und später nach Lateinamerika, wo sie Tausende neue Arten klassifiziert.
• 1956 bekommt sie von der Botanical Society of America ein Zertifikat, das sie als „eine der weltweit herausragenden Agrostologen“ auszeichnet.
• 1963 stirbt sie mit vierundneunzig Jahren an ihrem ersten Tag in einem Pflegeheim in Maryland.
Die Arbeiten von Mary Agnes Chase sind in den Smithsonian Archives verwahrt, die Hitchcock- Chase-Collection of Grass Drawings am Hunt Institute for Botanical Documentation (Carnegie Mellon University).
Dieser Beitrag ist erschienen in Werde 01 / 2020
Text: Aline Heß