Imeh Ituen Klimagerechtigkeit

„Ich wünsche mir radikale demokratische Lösungen“

Interviews

Um die Klimakrise zu lösen, müssen wir uns mit Kolonialismus beschäftigen, sagt die Aktivistin und Wissenschaftlerin Imeh Ituen. Sie forscht zur Energiewende, geht für Klimagerechtigkeit auf die Straße und hat mit Kleinbäuerinnen in Nigeria gesprochen. Überall fallen ihr koloniale Kontinuitäten auf.

Imeh Ituen Klimagerechtigkeit

Frau Ituen, Sie beschäftigen sich als Wissenschaftlerin und Aktivistin mit der Klimakrise. Wann haben Sie angefangen, über das Thema nachzudenken?
Imeh Ituen Ich trenne die Klimakrise ungerne von der Umweltkrise, denn ich sehe den Ursprung der Klimakrise in der Zerstörung von Ökologien. Die Auseinandersetzung mit dieser Zerstörung hat für mich schon als Kind mit den Erzählungen meines Vaters begonnen. Er hat mir – einem Stadtkind aus Berlin – erklärt, wie in Akwa Ibom, Nigeria, traditionell angebaut wurde. Auf eine Weise, die an Agroforstwirtschaft erinnert, wo der Boden von einem Blätterdach größerer Pflanzen geschützt ist. Diese Anbauart wurde durch den Kolonialismus und die Einführung von Monokulturen verdrängt.

Sie sagen, wenn wir die Klimakrise lösen wollen, müssen wir über Kolonialismus sprechen. Wo sollten wir da am besten anfangen?
Imeh Ituen Eigentlich ganz am Anfang, mit dem westlichen Dualismus. Erst das Denken in Trennung und Opposition, zum Beispiel zwischen Natur und Mensch und Schwarzen und weißen Menschen hat die Versklavung und den Kolonialismus möglich gemacht. Aber wenn wir über historische Ereignisse sprechen, dann nenne ich eigentlich immer zwei Jahreszahlen: 1452 und 1492.

1452 wurden erstmals Schwarze Menschen auf den Zuckerrohrplantagen von Madeira versklavt. Für mich markiert das auch den Beginn der Klimakrise, denn innerhalb weniger Jahrzehnte war die Insel komplett entwaldet, und die klimatischen Bedingungen waren so verändert, dass Dürren den Zuckeranbau erschwerten. Von Madeira aus hat sich die Plantagenwirtschaft 1492 weiter ausgebreitet auf die Karibischen Inseln und nach Südamerika. Auch dort wurde entwaldet, um Platz für Plantagen und Silberminen zu machen.

Hier wird deutlich, dass die Ausbeutung von Menschen immer auch mit der Ausbeutung der Natur einherging. Und das enorme Kapital, das die Kolonisatoren durch diese Ausbeutung angehäuft haben, hat wiederum erst die Industrialisierung ermöglicht, also die Prozesse und Technologien, die massiv Treibhausgase freigesetzt haben. Das ist der Zusammenhang zwischen Kolonialismus und Klimakrise.

An den meisten Schulen wird die deutsche Kolonialgeschichte kaum thematisiert. Bemerken Sie da oft Wissenslücken in Gesprächen?
Imeh Ituen Ja, auf jeden Fall. Ich glaube zwar, dass sich da in den letzten Jahren viel getan hat. Es gibt mehr und mehr Bücher, die darauf eingehen, wie zum Beispiel „Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen, aber wissen sollten“ von Alice Hasters – ein Bestseller. Viele Leute haben also davon gehört, dass Deutschland Kolonien hat. Aber die enorme Gewalt der Kolonialgeschichten ist wenigen bewusst.

Sie haben gesagt, viele Leute hätten davon gehört, „dass Deutschland Kolonien hat“. Ist der Kolonialismus nicht vorbei?
Imeh Ituen Das war ein Freudscher Versprecher. Die damaligen deutschen Kolonien sind mittlerweile längst unabhängig. Aber ich spreche trotzdem von kolonialien Kontinuitäten, denn die Strukturen zwischen Kolonisatoren und Kolonisierten sind weiter wirkmächtig. Das koloniale Denken, Handeln und Sein wirkt bis heute fort. Viele Produkte, mit denen wir uns täglich umgeben – Kaffee, Tabak, Kakao, Baumwolle, aber auch Öl und seltene Erden –, basieren auf der Ausbeutung von Menschen und Ökologien im Globalen Süden. Das wäre nicht möglich ohne Kolonialismus. Und sogar Klimaschutz wird oft auf Kosten von Menschen im Globalen Süden betrieben. Um das zu beschreiben, wurden die Begriffe Kohlenstoff-Kolonialismus oder Grüner Kolonialismus geprägt.

Haben Sie dafür ein Beispiel?
Imeh Ituen In Deutschland gibt es gerade einen Wasserstoffhype. Die Regierung plant, im Rahmen der Wasserstoffstrategie große Mengen von Wasserstoff zu importieren. Derzeit wird erörtert, wie viel Potenzial es in verschiedenen afrikanischen Ländern gibt, um grünen Wasserstoff zu liefern. Die Produktion von Wasserstoff ist aber mit enormen sozialen und ökologischen Kosten verbunden. Es braucht riesige Flächen, um Wind- oder Fotovoltaikanlagen aufzubauen. Dann braucht es riesige Mengen an Wasser. Das kann zu Landnutzungskonflikten in den entsprechenden Ländern führen. Dazu kommt, dass bei dem Umwandlungsprozess von Wasser zu Wasserstoff und Sauerstoff 40 Prozent der Energie verloren gehen.

Was bedeutet das eigentlich für die heimischen Energiemärkte, wenn ein so energieintensives Produkt geschaffen und dann exportiert wird? Insbesondere dort, wo es nicht mal genug Energie gibt, um den nationalen Bedarf zu decken? Meiner Meinung nach fehlt hier ganz klar das Bewusstsein für die kolonialen Verwicklungen.

Imeh Ituen Klimagerechtigkeit

Der Trend in der internationalen Klimaschutzpolitik geht zur CO2-Kompensation. Der Globale Norden zahlt dem Süden Geld, damit dort CO2 eingespart wird, während wir hier weitermachen wie vorher. Wie sehen Sie das?
Imeh Ituen Ich glaube tatsächlich, dass dieser Trend zunimmt. Und er geht in die völlig falsche Richtung! Sogenannte Offsets führen in vielen Ländern bereits jetzt zu Landraub und Vertreibung. Das Absurde daran: Seit Beginn der internationalen Klimaverhandlungen 1992 haben Länder des Globalen Südens stark dafür gekämpft, dass anerkannt wird, dass sie kaum Verantwortung für die Klimakrise tragen.

Der britische Anthropologe Jason Hickel hat berechnet, wie viel Schuld die einzelnen Länder dieser Welt an dem überschüssigen CO2 tragen, das in die Atmosphäre emittiert wurde. Länder des Globalen Nordens gaben zwischen 1850 und 2015 rund 92 Prozent der Überschussemissionen ab – der Globale Süden nur etwa 8 Prozent.
Imeh Ituen Genau. Aber der Leitsatz, dass vor allem der Globale Norden die Verantwortung trägt und Klimaschutz finanzieren sollte, wurde über die Jahre immer mehr aufgeweicht. Mit dem Pariser Abkommen sind Länder des Globalen Südens genauso aufgefordert, ihre Treibhausgase zu reduzieren. Es gab zwar die Vereinbarung, dass der Globale Norden ab 2020 jedes Jahr 100 Milliarden Dollar in einen Topf einzahlt, um Klimaschutz sowie Klimaanpassungen im Globalen Süden mitzufinanzieren.

„Eine kleine Delegation aus Tschad, Niger oder Südsudan hat einfach nicht die gleiche Verhandlungsmacht wie die deutsche oder US-amerikanische.“

Aber die zahlenden Länder erfüllen ihre Zusagen nicht, und insbesondere kleinere afrikanische Länder haben Schwierigkeiten, die Gelder abzurufen. Ich höre: „100 Milliarden Dollar, das ist aber viel Geld.“ Nein, angesichts der enormen Ausgaben, die nötig sind, ist das ein Tropfen auf den heißen Stein. Und es gibt noch keinen adäquaten Mechanismus, um Schäden und Verluste durch Klimawandelfolgen zu kompensieren. Allein der Zyklon Idai hat 2019 in Mosambik Schäden in Höhe von 2 Milliarden Dollar verursacht.

Was ist für Sie die Konsequenz?
Imeh Ituen Für mich ist zentral, wie wir Gerechtigkeit in dieser Krise denken. Gerechtigkeit beginnt hier mit der Anerkennung der bisherigen Ungerechtigkeit. Gerechtigkeit hieße außerdem, dass man auf Augenhöhe an einem Tisch sitzt. Aber da sind wir noch nicht. Bei den Klimagipfeln sind Länder des Globalen Südens natürlich vertreten. Aber eine kleine Delegation aus Tschad, Niger oder Südsudan hat einfach nicht die gleiche Verhandlungsmacht wie die deutsche oder US-amerikanische.

„Wahre Klimagerechtigkeit setzt die marginalisiertesten Menschen in den Fokus; entwickelt Klimaschutzmaßnahmen mit Blick auf sie und in Zusammenarbeit mit ihnen.“

Bei diesen Konferenzen läuft so viel parallel. Wer kein Expertenteam hat, das nachts noch ein 300-seitiges Dokument durchgeht, und wer nicht genügend Delegierte hat, um in allen Nebenzimmern mit am Tisch zu sitzen, ist im Nachteil. Hinzu kommt noch, dass oftmals die Daten fehlen, um regionale Prognosen für das sich verändernde Klima zu erstellen. In Tschad gibt es eben kein Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung.

Sie haben die Auswirkungen des Klimawandels auf die Landwirtschaft 2017 in Nigeria erforscht. Was haben Sie dort gelernt?
Imeh Ituen Ich habe sehr viel mit Kleinbäuerinnen gesprochen, und mich hat beeindruckt, wie dort so verschiedene Pflanzen wie Yams und Pepper sozusagen als Familien miteinander angebaut wurden. Das kannte ich nur aus meinem Permakultur-Kurs und fand schön, dass diese traditionellen Anbaumethoden noch praktiziert werden. Und mir fiel auf, dass alle den Wert und Nutzen von Bäumen in der Landwirtschaft betont haben.

Haben Sie schon mal einen Baum gepflanzt?
Imeh Ituen Ja, einige. Den ersten Baum, eine Limette, habe ich gemeinsam mit meinem Onkel für die Tochter meiner Cousine in Nigeria gepflanzt – zusammen mit der Plazenta. Der ist ganz groß geworden.

Was bedeutet der Begriff „Klimagerechtigkeit“ für Sie?
Imeh Ituen Klimaschutz, wie er aktuell gedacht wird, richtet sich am Schutz der privilegiertesten Menschen aus. Wahre Klimagerechtigkeit setzt die marginalisiertesten Menschen in den Fokus; entwickelt Klimaschutzmaßnahmen mit Blick auf sie und in Zusammenarbeit mit ihnen. Menschen aus besonders stark vom Klimawandel betroffenen Regionen versuchen sich seit Jahren mit aufsehenerregenden Aktionen Gehör zu verschaffen. Das maledivische Kabinett hat 2009 eine Unterwassersitzung abgehalten. Ein philippinischer Delegierter ist 2019 während der COP in Katowice in den Hungerstreik getreten, um auf die Folgen des Hurrikans Haiyan aufmerksam zu machen, durch den mehr als 6000 Menschen ihr Leben verloren.

Dass wir solche Beispiele immer wieder ausblenden können, zeigt die globalen Machtverhältnisse. Fakt ist: Seit Jahrzehnten sterben Menschen an den Folgen der Klimakrise. Deswegen müsste es Fridays for Past and Present heißen, nicht Fridays for Future. Auch in dem Namen dieser Bewegung steckt gewissermaßen eine koloniale Ausblendung.

Imeh Ituen Klimagerechtigkeit

Der deutschen Fridays-for-Future-Bewegung wird vorgeworfen, rassistisch zu sein. Teilen Sie diesen Vorwurf?
Imeh Ituen Nein. Fridays for Future ist nicht willentlich rassistisch. Ich bin sehr dankbar dafür, dass Schwarze Frauen wie Tupoka Ogette und Alice Hasters immer wieder erklären, dass es bei Rassismus um ein System geht, das die gesamte Gesellschaft durchdringt. Insofern ist keine der großen deutschen Umweltbewegungen frei von Rassismen.

Sie sind Teil des Kollektivs Black Earth, einem Zusammenschluss nichtweißer Klimaaktivist*innen. Warum gibt es eine eigene Gruppe?
Imeh Ituen Als wir uns vor zwei Jahren gegründet haben, war der Diskurs noch an einem anderen Punkt. Wir haben uns damals als Schwarze Menschen und Menschen of Colour mit unserer Perspektive nicht widergespiegelt gefunden, auch immer wieder Rassismus erfahren. Das Kollektiv ist ein safer space, ein Schutzraum für uns und gibt uns die Möglichkeit, uns zu organisieren, ohne immer wieder Grundsatzdiskussionen führen zu müssen.

„Auch in Berlin lässt sich beobachten, dass Luftverschmutzung, Lärm und Müll besonders dort auftreten, wo Menschen leben, die von Rassismus und Klassismus betroffen sind.“

Aber auch wir sind natürlich nicht frei von gesellschaftlichen Unterdrückungsstrukturen. In unserem Selbstverständnis steht, dass wir uns immer wieder aktiv mit verschiedenen Formen der Diskriminierung auseinandersetzen. Wir glauben, dass die Klimakrise sich nur intersektional lösen lässt.

Was bedeutet „intersektional“?
Imeh Ituen Den Begriff Intersektionalismus hat die Schwarze Feministin Kimberlé Crenshaw geprägt. Aber natürlich ist das Phänomen, das er beschreibt – nämlich dass sich bei manchen Menschen verschiedene Formen der Diskriminierung überschneiden –, schon viel älter. Interessanterweise korreliert auch Umweltbelastung häufig mit Mehrfachdiskriminierung. Es gibt dazu vor allem Daten aus den USA. Aber auch in Berlin lässt sich beobachten, dass Luftverschmutzung, Lärm und Müll besonders dort auftreten, wo Menschen leben, die von Rassismus und Klassismus betroffen sind.

Das klingt alles schrecklich ungerecht. Was müsste jede*r Einzelne tun, um daran etwas zu ändern?
Imeh Ituen Der erste Schritt ist immer Reflexion. Wir müssen uns fragen: Was heißt Kolonialismus? Wo sehe ich koloniale Kontinuitäten? Wo reproduziere ich sie? Und der zweite Schritt ist dann, diese Erkenntnisse in die Bewertung von Klimaschutzmaßnahmen einfließen zu lassen: Wer profitiert davon? Wer trägt die Kosten? Danach sind gerade weiße Personen mit ihren Privilegien heute gefordert, aktiv zu werden und sich für eine klimagerechte Welt einzusetzen. Mit Aktivismus auf der Straße oder auch mit Geld.

Gibt es konkrete politische Maßnahmen, die Sie sich in diesem Wahljahr 2021 wünschen?
Imeh Ituen Ich halte es zwar für sehr unrealistisch, aber ja: die gesetzliche Anerkennung der Klimakrise als Fluchtgrund. Und ein Gesetz, das verhindert, dass die europäische Dekarbonisierung auf Kosten des Globalen Südens geschieht. Ich wünsche mir wirklich, dass wir wegkommen von den riskanten, technokratischen und autoritären Lösungen und dass wir anfangen, radikale demokratische Lösungen zu diskutieren. Wie zum Beispiel Bürgerinnen-Energie und Degrowth.

Von wem haben Sie sich zuletzt inspirieren lassen?
Imeh Ituen Die letzte Person, die mich wirklich berührt hat, war Lesle Jansen, eine Indigene Umweltanwältin, die ich interviewt habe. Sie hat mich daran erinnert, eine Verbindung herzustellen zwischen den Zielen, die wir haben, und unserer Art und Weise, wie wir uns auf dem Weg dahin verhalten. Mir ging das nahe, denn ich hetze oft durch den Alltag; darauf fokussiert, Dinge zu erledigen. Aber ich weiß: Die Welt, die ich mir wünsche, erfordert eine andere Art, durchs Leben zu gehen.

Zur Person
Imeh Ituen beschäftigt sich als Sozialwissenschaftlerin und Aktivistin mit kolonialen Kontinuitäten. An der Uni Hamburg erforscht sie, ob die Energiewende in afrikanischen Ländern gerecht abläuft. Mit dem Berliner Kollektiv Black Earth vertritt sie die Rechte von Schwarzen, Indigenen und Personen of Colour in der Klimabewegung.

 

Kulturtipps von Imeh Ituen

Hören Third World: „96 degrees in the shade“
Der Song erinnert mich immer daran, dass wir uns in eine lange Geschichte von Widerstandskämpfen einreihen. So aussichtslos es manchmal scheinen mag, es wird auch weiterhin Generationen geben, die diese Kämpfe fortsetzen: „As sure as the sun shines, way up in the sky.“

Lesen Robin Wall Kimmerer: „Braiding Sweetgrass“
Tief bewegt hat mich „Braiding Sweetgrass“ von Robin Wall Kimmerer. Auf poetische Weise verwebt sie Erkenntnisse von westlichen und Indigenen Wissenschaften, die uns eine Welt der Verbundenheit zwischen Menschen und anderen Lebewesen aufzeigen.

Sehen Gloria Rolando: „Eyes of the Rainbow“
Ich liebe Dokumentarfilme und die Möglichkeit, durch diese von Menschen zu lernen. „Eyes of the Rainbow“ über Assata Shakur und „Kanyini“ über Bob Randall sind zwei meiner Lieblingsfilme. Beide Menschen verkörpern für mich eine unglaubliche Ruhe, Widerständigkeit und Weisheit.

 

Text Leonie Sontheimer
Fotos Miriam Klingl, IMAGO/Westend61, picture alliance/REUTERS/AKINTUNDE AKINLEYE

 

Dieses Interview ist erschienen in Werde 01/2021