Susan Leopold Heilkräuter Foto Katharina Poblotzki

Rettung für Heilkräuter

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Die Ethnobotanikerin Susan Leopold und ihre Organisation United Plant Savers setzen sich für Heilkräuter und gegen verbotene Arzneipflanzensammlung ein. In dem Refugium auf einem ehemaligen Kohleabbaugebiet in den Appalachen wachsen mehr als 500 Pflanzen-, 120 Baum- und 200 Pilzarten.

Susan Leopold Heilkräuter Foto Katharina Poblotzki

Kurz nachdem im Frühjahr in Süd-Ohio, USA, der letzte Schnee getaut ist und das Schmelzwasser in kleinen Bächen von den Hügeln gurgelt, tauchen sie wieder auf. Den Anfang macht oft die Sanguinaria, eine Pflanze, die ihren Namen ihren blutroten Wurzeln verdankt und für ihre antibakteriellen Eigenschaften geschätzt wird. Die Nächsten sind meist die Waldlilien, die bei Blutungen und Geburten eingesetzt werden. Und die Orangenwurzeln, populär bei Erkältungen.

Dann kommen auch bald die ersten Heilkräutersammler, die mit ihren Säckchen durch die Wälder ziehen, die Füße in Stiefeln zum Schutz gegen die Schlangen. Selbst wenn es schließlich sommerlich heiß wird, tragen sie oft weiterhin lange Hosen, die sie unten in die Socken stecken, damit die Zecken nicht an ihre Waden kommen, während sie durchs Unterholz steigen.

Kräuterdiebe abschrecken

Doch das erste Halbjahr ist eigentlich keine gute Zeit um Heilkräuter zu sammeln, zumindest hier in den Appalachen, einem bewaldeten Gebirgszug im Osten Nordamerikas. Traditionell werden von den Pflanzen dieser Region vor allem die Wurzeln medizinisch eingesetzt. Und die „sind biologisch am aktivsten, wenn sich die Pflanze auf den Winter vorbereitet“, sagt die Ethnobotanikerin Susan Leopold. Anders gesagt: im Herbst.

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Aber Armut und Drogenabhängigkeit – leider beides in den Appalachen verbreitet – übertrumpfen solche Überlegungen regelmäßig. „Wer Geld braucht oder tablettensüchtig ist, erntet zu jeder Jahreszeit“, hat Leopold festgestellt. Sie muss darum schon früh im Jahr anfangen, mit ihren Helfern das knapp 150 Hektar große Heilpflanzenschutzgebiet abzulaufen, das sie betreut. Dass soll Kräuterdiebe abschrecken.

Susan Leopold ist Ende vierzig, trägt eine bestickte Jeans, eine Bluse mit weiten Ärmeln und das lange braune Haar im Nacken zusammengebunden. In ihrer Freizeit besteigt sie gerne hohe Bäume, weil sie sich dabei, paradoxerweise, der Erde näher verbunden fühlt. Doch beruflich bleibt die Ethnobotanikerin auf dem Boden. Sie leitet eine Organisation namens United Plant Savers (Vereinigte Pflanzenretter), die vermutlich die einzige in der Welt ist, die sich dem Schutz von Heilpflanzen widmet. „Zumindest kenne ich keine andere“, sagt Leopold.

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Sie findet das „verrückt“ angesichts der Bedeutung, die Heilpflanzen bis heute haben. Bereits vor rund 5000 Jahren wurden die ältesten überlieferten Rezepte für Pflanzenpräparate vom chinesischen Kaiser Shen Nung aufgeschrieben. Von den 365 Gewächsen, die sein Buch benennt, werden noch immer viele als Arzneimittel eingesetzt, etwa Ginseng, Kampfer, Enzian oder der Stechapfel.

 

„Verbraucher kaufen in blindem Vertrauen. Sie wissen nicht, wo die Pflanze herkommt, wie sie wächst oder wer sie gesammelt hat.“ Susan Leopold

 

Sanfte Medizin

Zweifellos begann die Pflanzenmedizin aber schon lange bevor Menschen dies schriftlich protokollierten. Vor ein paar Jahren entdeckten Forscher etwa im Zahnstein eines 50.000 Jahre alten Neandertaler-Skeletts genetische Überreste von Pappeln. Die Rinde dieses Baums enthält Salizylsäure – der gleiche Wirkstoff, der in manchen Schmerztabletten steckt. Der Neandertaler kaute die Zweige vermutlich, um einen Zahnabszess zu behandeln.

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Gut möglich ist, dass sich die frühen Menschen manche Therapien von den Tieren abguckten. Laut den Überlieferungen der Navajo begann dieser Stamm etwa Infektionen und Magenbeschwerden mit dem Oshá-Kraut zu behandeln, nachdem sie beobachtet hatten, dass Braunbären diese Pflanze zerkauten und ihr Fell damit beschmierten.

Bis heute verlassen sich 80 Prozent der Weltbevölkerung in den Entwicklungsländern bei der Therapie von Gebrechen weitgehend auf Pflanzen, schätzt die Weltgesundheitsbehörde WHO. Aber auch in den Industriestaaten, wo Pharmakologen routinemäßig Medizin in Labors synthetisieren, hat die alternative Kräuter- und Naturmedizin viele Anhänger.

Sie gilt als sanfter und verträglicher als die moderne Medizin. Entsprechend wird ein schwunghafter Handel mit sogenannten botanischen Therapeutika betrieben. Verlässliche Zahlen sind schwer zu bekommen, doch nach Meinung von Experten ist das Geschäft mit Pflanzen, die Gesundheit und Wohlergehen fördern, jährlich zwischen drei und 100 Milliarden Dollar wert.

Deutschland ist dabei einer der größten Importeure. Von der Teufelskralle gegen Rheuma bis zu ätherischen Ölen für die Aromatherapie erfreut sich die Heilkraft der Pflanzen hierzulande einer enormen Beliebtheit. Was viele Verbraucher aber nicht ahnen: 60 bis 90 Prozent der Pflanzen, die als Tees, Dragees oder Öl verkauft werden, stammen aus der freien Natur. Das heißt: Sie werden gesammelt. Viele Pflanzen bringt das zunehmend an den Rand des Aussterbens.

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In den Appalachen sind dies keine abstrakten Fakten, sondern Alltagserfahrungen. Die Bergkette, die sich von Kanada nach Alabama zieht, ist geologisch uralt. Seit Jahrmillionen haben Tektonik, Erosion und Wetter die Landschaft hier gefaltet und geschliffen. Sonnengewärmte Grate wechseln sich ab mit schattigen Tälern und bewaldeten Wasserläufen. Viele Namen klingen wie Geschichten – Teufelsnasenberg oder Lästiger Bach. Die wechselhafte Landschaft bietet Nischen für besonders viele Arzneipflanzen, darunter Ginseng, die Traubensilberkerze oder das Falsche Einhorn. Seit Jahrhunderten seien die Appalachen als „Hotspot“ bekannt, sagt Leopold.

In den frühen 1990er-Jahren kam eine Pflanzenheilkundlerin aus Vermont in die Gegend, sah eine der vielleicht global letzten großen Ansammlungen an Orangenwurzeln, fiel auf die Knie und weinte. Rosemary Gladstar war jemand, der schon damals bemerkt hatte, dass die Heilkräuter aus den Wäldern verschwanden. 1994 gründete sie die United Plant Savers (UpS). Etwas später kam das Schutzgebiet dazu – ein Sanktuarium für die Arzneipflanzen der Appalachen.

Das Gelände liegt in Rutland, Ohio. In dem Refugium – teils unberührter Wald, teils wiederbegrüntes Kohleabbaugebiet – wachsen mehr als 500 Pflanzen-, 120 Baum- und 200 Pilzarten, darunter auch die Ansammlung an Orangenwurzeln, die Rosemary Gladstar so gerührt hatte.

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Trampelpfade leiten durch Gehölze, die zu Jahresbeginn licht sind und gesprenkelt mit den weißen, gelben und rosa Blüten der Frühjahrskräuter, dann im Lauf des Sommers immer undurchdringlicher grün überwuchern. Es riecht nach feuchter Erde. Vögel singen, ein Specht hämmert. Die Brise rüttelt die samtigen Blätter einer Rot-Ulme.

Doch die Arbeit der UpS reicht weit über die Appalachen hinaus. Finanziert durch Mitgliedsbeiträge, Spenden und Fördermittel, veranstaltet die Organisation Konferenzen zu Arzneipflanzen, führt Aufklärungen durch, sammelt Bestandsinformationen und unterstützt das Artenschutzübereinkommen CITES dabei, den Gefährdungsgrad von Heilkräutern zu evaluieren.

Heilkräuter richtig sammeln

So idyllisch das Sanktuarium ist – die Gegend rundherum ist es weniger. Von vielen Häusern im Umkreis blättert die Farbe. Unkraut sprießt aus Autowracks in Vorgärten, um die sich schon lange niemand mehr gekümmert hat. Das Wasser in manchen Bächen fließt durch Verunreinigungen gelb – eine Altlast des Bergbaus. Einst ein Kohlegebiet, sind viele Regionen der Appalachen seit dem Niedergang der Industrie geprägt von Arbeitslosigkeit, Strukturschwäche und der Opioid-Krise. Das wirkt sich auch auf die Wälder aus.

Susan Leopold Heilkräuter Foto Katharina Poblotzki

Je weniger Einkommen die Menschen haben, desto öfter gehen sie Heilpflanzen sammeln, um sie zu verkaufen. „Man kann an einem Nachmittag ein paar Hundert Dollar aus dem Boden graben“, sagt Chip Carrol, der Manager des UpS-Sanktuariums. Dieses Sammeln hat eine lange Tradition. Schon im 19. Jahrhundert wurde in den Bergen der Appalachen jährlich tonnenweise Ginseng geerntet und nach Asien verschifft. Doch es ist auch problematisch. „Anders als bei der Minze, von der man die Blätter zupft, überleben Pflanzen, bei denen die Wurzel verwendet wird, das Ernten nicht“, sagt Leopold.

Das gilt in den Appalachen für viele Kräuter, etwa die Traubensilberkerzen, Waldlilien oder Haselwurzen. Ein Großteil der Sammler hat zudem weder das Training noch die Motivation, naturschonend vorzugehen – etwa nur ältere Pflanzen auszugraben, die sich bereits vermehren konnten. Oder nach dem Ernten eines Krauts noch die Samen und Beeren im Boden zu verscharren, damit wieder Ableger keimen.

Eine Kundin, die in der Drogerie oder im Naturkostladen nach pflanzlichen Dragees greift, ahnt davon gewöhnlich wenig. „Verbraucher kaufen in blindem Vertrauen“, sagt Leopold. „Sie wissen nicht, wo die Pflanze herkommt, wie sie wächst oder wer sie gesammelt hat.“ Oder von den verschlungenen Pfaden, die etwa eine Traubensilberkerze aus dem Wald von Ohio zurücklegt, bis aus ihr ein Pflanzenheilmittel gegen Wechseljahrsbeschwerden im Ladenregal wird.

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In den Appalachen steht oft – ganz buchstäblich – ein Mann auf einem Parkplatz am Anfang dieser Kette. Er taucht vielleicht einmal im Monat vor einem bestimmten Einkaufszentrum auf, um den Sammlern abzukaufen, was sie im Wald an Heilkräutern gefunden haben. Wann und wo genau der Einkäufer zu finden sein wird, spricht sich herum. „Hier in der Region ist das eingebunden in den Altmetallhandel“, sagt Leopold.

Für Ginseng zahlt der Mann bis zu 1000 Dollar pro Pfund getrocknete Wurzeln. Für die meisten anderen Pflanzen ist es weit weniger, oft nicht einmal zehn Dollar pro Pfund. Gerade in den USA, wo die Industrie weitgehend unreguliert ist, wandert die Pflanze anschließend in ein Netz aus Zwischenhändlern, das meist so undurchsichtig ist, dass selbst eine Expertin wie Leopold den Durchblick verliert.

Etwa jede fünfte der geschätzt 30.000 Heilpflanzen in der Welt wird mittlerweile als gefährdet eingestuft. Nicht allein wegen des Sammelns, sondern auch weil Heilkräuter zunehmend Lebensraum verlieren. Dinge wie der Bergbau, die Holzwirtschaft und Neubausiedlungen zerstören Wälder. Und auch andere menschliche Einflüsse verändern die Ökosysteme, auf die Heilpflanzen angewiesen sind. In den Appalachen haben etwa die Rehe überhandgenommen, seit vor gut 100 Jahren die letzten Wölfe in der Region abgeschossen wurden.

Das Rotwild weidet nun vermehrt Heilkräuter, auch im Sanktuarium. Trotzdem möchte UpS nicht, dass die Menschen aufhören, Pflanzenmedizin zu nutzen. Aber man muss einen Weg finden, dies zu tun, ohne die Gewächse auszurotten. Nur wie?

Bei Ginseng gelang es, nach langen Mühen, ihn auf Feldern anzubauen. Im US-Bundesstaat Wisconsin gibt es heute gewaltige Farmen, in denen die Heilpflanze unter Sonnensegeln wächst, die den Schatten der Wälder simulieren. Bei vielen anderen Arzneikräutern wurde das bisher noch nicht einmal probiert. Darum ist unklar, wie machbar das wäre. „Viele Heilpflanzen haben einzigartige Symbiosen mit dem Boden, die wir noch nicht verstehen“, sagt Leopold.

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Probeweise pflanzte ein UpS-Team jüngst eine Reihe von Orangenwurzeln – ein erster Versuch. Zumindest beim Ginseng ist zudem die mit Dünger und Insektenschutzmitteln gezogene Variante vom Feld weniger populär als der wilde Ginseng. Für Letzteres zahlen etwa die Verbraucher in Asien weit höhere Preise. Entsprechend wird weiter wilder Ginseng gesammelt.

United Plant Savers versucht es nun mit einer Art Kompromiss. Die Organisation betreut ein Programm, bei dem sich Landbesitzer als „Waldbauern“ registrieren können. Als solche kultivieren sie Arzneipflanzen in ihrer gewohnten Umgebung und greifen unterstützend ein, um den Bestand zu sichern und zu vergrößern.

Beispielsweise indem sie die Beeren und Samen gezielt um eine Mutterpflanze herum aussäen und sich verpflichten, eine Mindestanzahl von Jahren zu warten, bevor sie Kräuter ernten. Das Programm ist noch klein. Knapp drei Dutzend Waldbauern haben sich bisher angemeldet.

Wenn im Sommer die roten Beeren des Ginsengs im Wald leuchten, sind die Frühjahrsblüher wie Sanguinaria oder die Orangenwurzel längst wieder im Boden verschwunden. Sinken dann im Herbst die Temperaturen, färben sich auch die Ginseng-Blätter und fallen ab.

Dann wird es wieder still im Wald. Für die United Plant Savers aber geht die Arbeit über das ganze Jahr weiter. Rund 5200 Mitglieder hat die Vereinigung mittlerweile. Die Gründerin Rosemary Gladstar gibt sich optimistisch, was die Zukunft von Heilpflanzen betrifft: „Früher haben wir noch nicht einmal über den Schutz dieser Gewächse geredet. Heute tun wir es.“

Noch ein Grund für Zuversicht: Gut 200 UpS-Mitglieder haben mittlerweile beschlossen, auch ihre eigenen Grundstücke und Ländereien zu Sanktuarien für Arzneipflanzen zu erklären. Wie Ableger sprenkeln diese zusätzlichen Schutzzonen nun den nordamerikanischen Kontinent. Sie seien „lebende Samenbanken“, sagt Leopold – Rettungsanker für die Pflanzen, die uns heilen.

Text Ute Eberle
Foto Katharina Poblotzki

Alle im Text erwähnten therapeutischen Empfehlungen müssen vor einer Anwendung mit dem Arzt besprochen werden.

Werde übernimmt keine Verantwortung für Wirksamkeiten oder Nebenwirkungen.

 

Dieser Beitrag ist erschienen in Werde 03/2021