Niemand kennt das Tote Meer besser als Sigalit Landau. Seit vielen Jahren benutzt die Israelin den Salzsee als Bühne für ihre Kunst, schaut ihm beim Schrumpfen zu – und versucht, die Entscheidungsträger endlich zum Handeln zu bringen.
Der Bus aus Jerusalem windet sich in die Judäische Wüste hinunter; in den Senken glühen die Wellblechdächer der Beduinen. Kein Zaun, kein Schild weist darauf hin, dass sich das nahe Nordufer des Toten Meers eigentlich im Westjordanland befindet. Da ist nur der Ausguck am Straßenrand mit der Markierung: „Meeresspiegel“. Jetzt geht es unter null.
See ohne Fische
Unwirklich liegt es da, wie eine Luftspiegelung – dieses Meer, das eigentlich ein See ist, ohne Ebbe und Flut. Das gegenüberliegende Ufer verschwimmt unter der Bergkette am Horizont. Die Felsen auf der jordanischen Seite schälen sich erst später rötlich aus dem Dunst, bis sie in absurdem Rosa im Wasser untergehen.
Gescheiterter Frieden
Als Sigalit Landau vor rund 20 Jahren in diesem Bus saß, trug sie eine Wassermelone auf dem Schoß. Kaum 30 Jahre alt, hatte sie bereits eine Documenta und eine Biennale vorzuweisen und sich in New York vom aufkeimenden „Riot Grrrl“-Feminismus mitziehen lassen. Israel versetzte damals die Zweite Intifada in Angst und Schrecken, der Friedensprozess war endgültig gescheitert. Aufgewühlt hatte Landau mit einer Ausstellung in Tel Aviv reagiert: Aus Seiten der Zeitung „Haaretz“ formte sie 600 „Früchte“ und tauchte sie in rote Farbe – eine blutige Ernte. Die Installation traf das Gefühl vieler Israelis; es war eine Realität, die sich kaum in Worte fassen ließ.
Als sie an diesem Tag mit der Melone ins Tote Meer stieg, hatte sie jedoch anderes im Sinn. Ihre Mutter war gerade gestorben. Landau wollte ihre Geschichte erzählen und mit ihr die Geschichte einer Nation von Immigranten. Die Melone stand als Symbol für das Motto der Gründerjahre Israels: „Die Wüste zum Blühen bringen“. Tatsächlich zieht Israel heute in der Wüste Melonen, und paradoxerweise macht sie das salzige Grundwasser nur noch süßer.
Leben und Kunst
Nachdem sie mit dem starken Auftrieb in der Salzlake experimentiert hatte, reiste sie beim nächsten Mal gleich mit einer ganzen Wagenladung Melonen an und einem Kameramann. Sie verknüpfte die Früchte zu einer Spirale. Einige klafften wie Wunden und zeigten ihr rotes Fleisch – und in ihrer Mitte trieb: die nackte Sigalit. Es war eine spontane Entscheidung. Das halbe Gesicht in der Salzlake, das unerträgliche Brennen im rechten Auge, bis sie mit den Melonen langsam aus dem Bild trieb. Sie stellte sich vor, dass ihre Mutter von oben zusah wie die Kameralinse. „Habe ich auch Leben in mir“, fragte sich Landau damals, „oder nur Kunst?“
Im Studio
Es ist nicht leicht, ihr Studio im Süden Tel Avivs zu finden. Die Automechaniker im Untergeschoss haben keine Ahnung, wer diese Frau sein soll, die international als eine der bekanntesten Künstlerinnen Israels gilt. Das enge Studio wirkt zudem viel zu klein für all die Ideen und Assoziationen, die fast hörbar durch Landaus Kopf rattern. „Die Gegend hier ist nichts für zarte Seelen“, sagt die 52-Jährige. „Aber ich ziehe den kulturellen Hinterhof vor.“
Die rosa Strähne im blonden Haar ist ausgewaschen und fällt auf ein knallrotes Brillengestell. Mit ihrer hellen Haut und der handfesten Art wirkt sie zugleich ätherisch und sehr präsent. Wie dieser Ort, der sie nicht loslässt: ein Salzsee am tiefsten Punkt des Afrikanischen Grabenbruchs, 432 Meter unter dem Meeresspiegel. Ein Meer in der Wüste, ohne Wellen und Boote, in dem man nicht untergehen kann.
Der Salzsee ist die einzige natürliche Ressource Israels und doch ein harscher Ort, dem man das Leben abringen muss. Umrankt von düsteren Sagen wie Sodom und Gomorra: Als Lot sich mit seiner Frau aus der Stadt retten konnte, blickte diese zurück und erstarrte zu einer Salzsäule an seinem Ufer.
Von früher
Landau wuchs in Jerusalem auf, bevor die ultraorthodoxen Juden übernahmen und die Freigeister nach Tel Aviv weiterzogen. Von ihrem Wohnhaus auf dem Mount Scopus sah sie den Salzsee an Vollmondnächten schimmern. Heute klingt das verklärt. „Aber damals versperrten keine Siedlungen den Blick in die Wüste“, erklärt die Künstlerin. „Und das Tote Meer hatte fast doppelt so viel Volumen!“
Seit 1930 hat sich auch die Fläche des Sees fast halbiert. Weil er keinen Abfluss hat, kann Wasser eigentlich nur durch Verdunstung entweichen. Seine wichtigste Quelle ist der Jordan. Nicht nur Israel, auch Jordanien pumpen dem Fluss das Wasser ab. Dazu gewinnen beide Länder mithilfe von Verdampfung Mineralien aus dem Salzsee. In den letzten drei Jahrzehnten hat sich die Senkung des Wasserspiegels noch mal beschleunigt. Allein im letzten Jahr fiel er um 1,42 Meter. Gleichzeitig verändert sich damit die Chemie des Sees.
Ein Garten Eden in der Wüste
Vor allem ihre Mutter hatte das Tote Meer geliebt, fast jeden Schabbat fuhren sie in die Wüste hinunter statt wie die anderen Familien ans Mittelmeer. „Wir hatten diesen Spielplatz“, sagt Landau. „Ein Garten Eden in der Wüste.“ Die Ufer seien damals noch üppig bewachsen gewesen, und es gab viele Süßwasserbecken. Dazu die Stille. Unheimlich beruhigend. „Wie im Mutterleib.“ Nach dem Ausflug zögerte die kleine Sigalit das Duschen hinaus. Die Salzkruste auf der Haut fühlte sich an wie eine Umarmung. „Heute empfehle ich das niemandem mehr. Das Salz ist jetzt viel konzentrierter und brennt höllisch.“
Salzkunst
Das Tote Meer scheint fern in Landaus Studio. Doch auf Gerüsten hat sie schon ihre „Readymades“ vorbereitet; Gegenstände, die sie im Juli im Salzsee versenken wird. Gewichte und Schnüre halten die Objekte unter Wasser. Wenn sie am Ende des Sommers wiederkommt, werden sie völlig transformiert sein: zu glitzernden Salzskulpturen.
„Ich wollte zeigen, dass die Vergangenheit geändert werden kann und die Natur Heilung bringt.“ Sigalit Landau
Jeden Sommer macht sie sich auf, erntet ihre Kunstwerke wie die Bauern Feldfrüchte. Die Idee kam Landau damals beim Melonenprojekt: Sie hatte eine Badelatsche im Schlamm vergessen. Nach ein paar Wochen war die von einer Kruste aus Kristallen überzogen.
Wie eine rituelle Wallfahrt fühle sich die Rückkehr zum Salzsee an. „Für mich ist das Tote Meer eine Metapher für Israel, aber auch ein Spiegel.“ Dann sagt sie einen ihrer typischen Stolpersätze: „Manchmal erkenne ich darin einen Teil von mir, der schon gestorben ist.“
Über die Jahre schenkte Landau Geigen, Fahrrädern, Stiefeln und Fischernetzen eine neue Bedeutung. 2016 versenkte sie ein schwarzes Kleid im Toten Meer. Die Idee basierte auf einem alten jiddischen Theaterstück: Eine junge Braut wird exorziert, weil man glaubt, dass sie besessen ist. Die Alchemie des Meeres verwandelte das Symbol für den weiblichen Wahnsinn in ein Hochzeitskleid. Um es unter Wasser zu fotografieren, musste Landaus Partner 75 Kilo Gewicht anlegen. „Ich wollte zeigen, dass eine Braut nicht immer süß sein muss“, sagt Landau. „Dass die Vergangenheit geändert werden kann und die Natur Heilung bringt.“
Ihr Lieblingsmaterial sei jedoch gar nicht das Salz, sagt Landau, sondern die menschliche Bewegung in ihrer Flüchtigkeit. Dazu stelle das Salz jedoch einen wunderbaren Kontrast da: „Salz ist Schweiß und Tränen. Zu viel Salz ist giftig, zu wenig tödlich. Und es konserviert hervorragend.“ Logistisch sind ihre „Pilgerreisen“ ein Wahnsinnsakt:
Alles muss am frühen Morgen erledigt werden, wegen der Hitze. Im Hochsommer hat es oft an die 40 Grad, aber für die Kristallisation benötigt es eine bestimmte Temperatur: „Wir kochen fast im Wasser.“ Um die Objekte zu versenken, nutzt das Team einen Steg, der zu den Fabriken am Südufer gehört. „Dort pumpen sie Sedimente ab, und das Wasser läuft über, während es im Nordteil sinkt.“
Belege für die Nutzung des Salzes aus dem Toten Meer finden sich übrigens schon im Alten Testament. Aber auch andere Mineralien werden hier gewonnen. Neben Magnesium lässt sich vor allem Pottasche herstellen. Sie wird für die Herstellung von Glas, Schmierseife oder Düngemitteln genutzt. Die industriellen Teiche erstrecken sich fast über das gesamte südliche Seebecken. Bis zu 40 Prozent des Wassers verdampft die Industrie im Jahr.
Tiefe Krater
Um dort zu arbeiten, braucht Landau auch die Erlaubnis der israelischen Armee – mitten über den Salzsee verläuft die Grenze zu Jordanien, und jede Bewegung wird von einem Radar und Drohnen überwacht. „Das Ufer sieht jedes Jahr anders aus“, sagt Landau. „Oft müssen wir mit dem Auto umdrehen, weil sich ein neues Sinkloch aufgetan hat.“
Die ersten Krater brachen Anfang der Neunziger auf. Bis zu 50 Meter im Durchmesser und 25 Meter tief, können sie Autos, ja ganze Häuser verschlucken. Etwa 6500 dieser Sinklöcher soll es heute rund ums Ufer geben. Sie sind Resultat einer Art Gulli-Effekt.
Unterirdisches Salz
Je weiter der Salzsee zurückweicht, desto schneller fließt das Süßwasser zu ihm hin. Dabei löst es unterirdische Salzschichten, wodurch große Hohlräume entstehen, über denen sich Senkgruben bilden. Durch die versiegenden Süßwasserquellen am Ufer wiederum sind Tiere und Pflanzen gefährdet. Auch die Zugvögel,die hier einen Zwischenstopp auf ihrem Weg nach Afrika einlegen.
Benutzte die Künstlerin das Tote Meer anfangs als Spiegel, sieht sie sich heute als seine Botschafterin. Mit jeder Ausstellung erinnere sie an den Zustand des Salzsees, appelliere an das ökologische Gewissen der Welt. Vor zehn Jahren, als sie Israel das zweite Mal bei der Biennale in Venedig präsentieren sollte und über eine der vielen Brückchen der Stadt spazierte, kam ihr eine Idee. Was wäre, wenn das Tote Meer, dieses hochpolitische Gewässer, eine natürliche Verbindung zwischen den Nachbarn bilde – anstatt einer Grenze?
Auf der Biennale 2011 sah man dann im israelischen Pavillon Videos mit einem runden Tisch, um den zwölf Leute saßen. Ökologen, Fabrikbesitzer, Politiker und Diplomaten. Während sie über den Bau einer Brücke diskutierten, verknotet unter dem Tisch ein Kind ihre Schnürsenkel: Die Nachbarn bilden eine Schicksalsgemeinschaft. Sie müssen ihre Ressourcen teilen und gemeinsam bewahren.
Jedes Jahr trifft sie sich seitdem mit Politikern und Fabrikanten. Auf eigene Kosten hat sie die Pläne für ihre Brücke zeichnen lassen, Architekten und andere Berater bezahlt sie mit Kunst. Aufgeben wird sie nicht. Immerhin werden 2030 die staatlichen Verträge mit den Fabriken neu verhandelt: „Da verfolgen also gerade jede Menge Experten, was unter und über dem Tisch passiert.“
Die Politik ändern
Ihr Plan sieht nur eine Plattform vor. Mithilfe der Salzkristalle soll die Brücke sich von selbst aus der Mitte des Sees nach Ost und West ausspannen. Jedes Jahr ein wenig wachsen. „Das Ganze ist natürlich eine himmelschreiende Utopie“, sagt Landau. Aber wie schön wäre es, wenn dieser See, der als menschgemachte Wunde der Natur zwischen drei verfeindeten Nationen liegt, tatsächlich zur Heilung beitrüge!