Thomas Radetzki

„Bei den Bienen lernt man, still zu werden“

Interviews

Bienen und Bauern müssen gemeinsam gerettet werden. Thomas Radetzki arbeitet seit 45 Jahren mit Bienen und versteht sich als ihr Botschafter. Der Imkermeister darüber, warum es eine Agrarwende braucht.

Thomas Radetzki

Wann sind Sie zuletzt einer Biene nahe gekommen, Herr Radetzki?
Thomas Radetzki Letzte Woche bin ich von einer gestochen worden. Ich hab geschaut, wie die Bienen ausgewintert haben, also wie sie fliegen und ob sie Blütenpollen bringen. Bei einem Volk war ich wegen des Fluglochverhaltens unsicher und habe den Kasten aufgemacht. Dabei habe ich wohl eine Biene gedrückt. Als sie mich stach, dachte ich: Ah, schön, jetzt geht’s wieder los.

Sie arbeiten seit 45 Jahren mit Bienen. Erst als Berufsimker, heute im Vorstand der Aurelia-Stiftung. Erinnern Sie sich noch an Ihren ersten Stich?
Thomas Radetzki Die ersten Stiche habe ich mir bei einem Praktikum geholt. Als ich zu Schulzeiten eher per Zufall eines Tages mit einem Berufsimker auf einem Bänkchen saß und ihm ein Loch in den Bauch gefragt hatte, war mir plötzlich ganz klar, dass ich Imker sein will. Ein Studium brauchte ich dafür nicht. Aber Erfahrung.

Bei einem bienenwissenschaftlichen Institut bekam ich einen Praktikumsplatz und konnte in den Schulferien ein paar Wochen mitarbeiten. Beim ersten Stich kroch mir eine Biene ins Hosenbein, während ich dem Imkermeister die Waben halten musste. Aber der Lohn dafür war, das Frühjahr in seiner ganzen Dichte zu erleben, mit der ganzen Fülle der Natur.

„Wenn ich im Frieden mit mir bin und mit dem Herzen dabei, dann ist alles wunderbar friedlich. In der Begegnung mit Bienen wie mit Menschen bildet sich ein Resonanzraum.“

Sie leben ja immer noch mit Bienen. Wir sind eben durch den Bienengarten der Stiftung an ein paar Kästen entlangspaziert, vor denen reger Flugbetrieb herrschte. War das noch keine Kontaktaufnahme für Sie?
Thomas Radetzki Das hängt davon ab, wie schnell ich laufe. Wenn ich ein bisschen innehalte und tatsächlich auf mich wirken lasse, wie der Flug ist, dann komme ich in Kontakt. Das ist schwierig in Worte zu fassen. Aber dann habe ich das Gefühl, ich komme an bei den Bienen.

Früher in den Imkerkursen war mein Spruch immer: „Bei den Bienen lernt man, still zu werden.“ Das ist heutzutage schwierig. Auch für mich. Die Bienen erziehen mich dann. Wenn ich nervös bin, mich mit jemandem gestritten habe, dann weiß ich, dass die Bienen unfreundlich auf mich reagieren. Und wenn ich im Frieden mit mir bin und mit dem Herzen dabei, dann ist alles wunderbar friedlich. In der Begegnung mit Bienen wie mit Menschen bildet sich ein Resonanzraum. So nennt es jedenfalls der Jenaer Soziologe Hartmut Rosa.

„Von den mehr als 500 Bienenarten ist die Hälfte sehr gefährdet. Einige Arten sind bereits dauerhaft verloren.“

Und wie ist der Resonanzraum in unserer Gesellschaft für Bienen und Bauern?
Thomas Radetzki Schlecht. Absolut defizitär. Resonanzraum würde heißen, dass tatsächlich Begegnung, Beziehung und Verständnis stattfindet. Aber die Bauern werden in ihrer Problematik, ihrer Argumentation nicht wahrgenommen. Deswegen gehen sie auf die Straße. Und zwar sowohl die ökologisch orientierten Bauern als auch die konventionellen. Sie haben zu Recht Wut im Bauch.

Das müssen Sie erklären.
Thomas Radetzki Nehmen wir das Beispiel der Düngeverordnung der EU zum Schutz des Trinkwassers. Erst hat das Landwirtschaftsministerium über Jahre gesagt, dass die Anforderungen unberechtigt und übertrieben seien, und die Landwirte beraten, riesige Ställe zu bauen. Obwohl auch unser Umweltministerium die Nitrat- und Antibiotika-Belastung aus den Ställen kritisiert. Und jetzt, nachdem Hunderttausende Euro Strafen pro Tag drohen, schwenkt die Politik um und lässt die Bauern im Stich.

Gibt es einen Zusammenhang zwischen Höfesterben und Bienensterben?
Thomas Radetzki Ja, der ist offenkundig. Große Betriebe schlucken kleinere und brauchen immer größere Flächen für ihre Monokulturen – so zerstören sie die Landschaft. Wenn Tümpel mit der Planierraupe zugeschoben und Hecken niedergemäht werden, verschwinden Lebensräume. Pestizide töten und schädigen viele Nützlinge. Da ist die Landwirtschaft kein lebendiger Organismus mehr. Blütenbestäuber, die an bestimmte Pflanzen als Nahrung und Nistplatz gebunden sind, verschwinden schlicht. Von den mehr als 500 Bienenarten ist die Hälfte sehr gefährdet. Einige Arten sind bereits dauerhaft verloren.

„Die Statistik zeigt aber nicht, dass selbst unsere robusten Honigbienen auf der Intensivstation liegen.“

Die Zahl der Bienenvölker nimmt aber doch in den letzten Jahren stetig zu.
Thomas Radetzki Ja, auf dieser Statistik beharren die Vertreter von Bayer, Syngenta und BASF immer. Sie stimmt auch, betrifft aber nur die Honigbiene. Weil die Bienenhaltung in der Stadt zunimmt, es immer mehr Imker*innen gibt. Die Statistik zeigt aber nicht, dass selbst unsere robusten Honigbienen auf der Intensivstation liegen.

Sie überleben nur, weil sie zweimal im Jahr mit Medikamenten behandelt werden und weil sie in aller Regel zur Überwinterung mit Zucker gefüttert werden. Insbesondere auf den Agrarflächen haben wir einen dramatischen Rückgang der wilden Blütenbestäuber, in Artenzahl und Individuenzahl. Der Bericht des Weltbiodiversitätsrates hat das 2019 bestätigt.

Werde Magazin-Mit Bienen leben

Was hat es für eine Auswirkung, wenn die Blütenbestäuber verschwinden?
Thomas Radetzki Das Verschwinden der Bestäuber hat fatale Auswirkungen auf die Biodiversität, die quasi das Immunsystem des Planeten, jeder Landschaft und eines jeden Hofes ist. Ihr Sterben zerstört den Lebenszyklus zahlloser Blütenpflanzen. Frucht- und Samenbildung bleiben aus. Wissenschaftler haben schon lange gemahnt, dass sogar Pandemien wie nun Corona infolge des Verlustes von Lebensräumen und Arten auftreten werden.

„Lebensmittel müssen wieder einen größeren Teil unseres Einkommens beanspruchen. Denn wir leben nicht vom dritten Kurzurlaub mit dem Flugzeug, sondern vom täglichen Brot.“

Bauern und Bienen hängen also zusammen. Das berücksichtigt auch die Europäische Bürgerinitiative, die Sie gemeinsam mit einer Reihe von Organisationen ins Leben gerufen haben. „Bienen und Bauern retten!“ heißt sie. Was fordern Sie?
Thomas Radetzki Zunächst: Wir können es nicht brauchen, dass sich die gesellschaftlichen Gräben zwischen Landwirten und Umweltschützern vertiefen. Sie sind ohnehin eine Illusion, denn am Ende geht es hier um Gemeingüter: Boden, Luft, Nahrung. Die Antwort muss daher ein systemischer Wandel sein – eine Agrarwende: Die Agrarproduktion wird dabei auf ökologisch umgestellt, chemisch-synthetische Pestizide werden dann nur noch bis 2035 eingesetzt. Und die Agrarförderpolitik orientiert sich dabei am Gemeinwohl.

Diesen Wandel kann Deutschland nur schwer im Alleingang machen. Der Hebel liegt in der EU. Europa hat es sich vor Jahren zum Ziel gesetzt, mit Agrarprodukten am Weltmarkt konkurrenzfähig zu sein. Von den Optionen Masse oder Qualität hat Europa sich für Masse entschieden, auf Kosten von uns allen. Eine Umorientierung zu ökologischer Qualität würde uns am Weltmarkt zu einer Insel machen. Wir könnten ohne Weiteres hochpreisiger verkaufen.

Auch die Preise für konventionelle Produkte berücksichtigen nicht die Kosten unserer Umwelt und Gesundheit. Lebensmittel müssen wieder einen größeren Teil unseres Einkommens beanspruchen. Denn wir leben nicht vom dritten Kurzurlaub mit dem Flugzeug, sondern vom täglichen Brot.

Wie wahrscheinlich ist es, dass Ihre Bürgerinitiative die Agrarwende anstößt?
Thomas Radetzki Aktuell befindet sich die EU in der entscheidenden Verhandlungsphase über die neue Gemeinsame Agrarpolitik, kurz GAP. Alle sieben Jahre werden damit die europäischen Agrarfördermittel neu budgetiert. Es geht um einen Finanzrahmen von mehr als 360 Milliarden Euro. Was die Bauern machen, ist in extrem hohem Maße von diesen Geldern abhängig.

Und deswegen versuchen wir jetzt, mit der Bürgerinitiative politischen Druck zu erzeugen. Wenn wir eine Million Unterschriften zusammenbekommen, ist die EU-Kommission zu einer schriftlichen Stellungnahme verpflichtet. Aber wir brauchen zusätzlich eine Weiterentwicklung des parlamentarischen Systems.

„In einem Bienenstaat kann eine ganz normale Arbeiterin ohne Rang und Namen mit einem Lösungsvorschlag die Wende bringen.“

Was meinen Sie damit?
Thomas Radetzki Da bin ich Fan von David Van Reybrouck, einem belgischen Wissenschaftler, der das sogenannte birepräsentative System propagiert: Die Hälfte oder zumindest ein Drittel der Parlamentarier sollten ganz normale Bürger sein, die per Losverfahren ausgesucht, wie die anderen Abgeordneten finanziert werden und eine Stimme im Parlament haben.

Die Bienen zeigen uns, wie das geht. In einem Bienenstaat kann eine ganz normale Arbeiterin ohne Rang und Namen mit einem Lösungsvorschlag die Wende bringen. Wenn zum Beispiel die Spurbienen eines Schwarms sich bei der Wahl einer neuen Bienenwohnung eigentlich schon geeinigt haben, wird trotzdem jeder neue und vielleicht bessere Vorschlag aufgenommen und geprüft.

Was wollen uns die Bienen noch mitteilen? Sie sind ja Bienenbotschafter.
Thomas Radetzki Auf diese Bezeichnung kam ich nicht selbst, aber sie mag durch meine Biografie berechtigt sein. Ich habe konventionell gelernt und gearbeitet, aber nach und nach gab es eine Fülle von Fragen. Als Mensch inspirieren mich Bienen zunehmend in Bezug auf die innere Haltung, die wir brauchen, um unser Miteinander konstruktiv und fruchtbar zu machen. Geben und Nehmen im Gleichgewicht, Leben ohne Zerstörung natürlicher Ressourcen, Versöhnung von Gemeinwohlorientierung und individueller Stärke. Als 2017 über das Insekten- und Bienensterben berichtet wurde, hatte ich schon 30 Jahre dazu gearbeitet, mich auf den Weg zu einer wesensgemäßen Bienenhaltung begeben.

Bienenschwarm

Wesensgemäß – was bedeutet das?
Thomas Radetzki Es geht um die Beziehung zu Bienen und das Verständnis des Bienenvolkes als Organismus. Wesensgemäße Haltung ist kein fundamentalistisches Ideal, sondern ein persönlicher Entwicklungsprozess mit den Bienen. Ich habe dabei gelernt, dass „zurück zur Natur“ nicht mehr geht. Wir haben die alten Wälder, die Landschaften nicht mehr, und im Übrigen hatte die Kultur des Landbaus die Vielfalt der Arten im mitteleuropäischen Raum ja lange gefördert.

Das Gegenteil bewirkt die sogenannte „neue Gentechnik“: Die Honigbiene soll genetisch manipuliert werden, um sie gegen Pestizide resistent zu machen. Dagegen stellen wir uns mit einer Petition (www.biene-gentechnik.de).

Wie wird es den Bienen in 10 Jahren in Berlin gehen?
Thomas Radetzki Noch besser als jetzt. Berlin mit seinen wunderschönen blühenden Alleen, Parks und Kanälen ist ein Hort der Biodiversität. Ich ernte hier so viel Honig, wie ich nirgendwo sonst geerntet habe. Ohne Zucker zu füttern. Es ist wunderbar hier. Aber wie es den Bienen in der Fläche gehen wird, das ist eine andere Frage.

Und was können wir alle tun?
Thomas Radetzki Den angemessenen Preis bezahlen, ökologisch erzeugte Lebensmittel essen und deutlich weniger Fleisch. Keine Pestizide im Haus- und Kleingarten einsetzen und mit Blumenkästen auf dem Balkon die Bienen zum Frühstück einladen. Trotz Corona, nein, wegen Corona weiter für Bienen und Umwelt spenden und sich aktiv engagieren.

 

Zur Person
Thomas Radetzki arbeitet seit 45 Jahren mit Bienen. Als Imkermeister war er an der Entwicklung der Richtlinien für ökologische Bienenhaltung beteiligt und ist Mitglied in der Arbeitsgemeinschaft der deutschen bienenwissenschaftlichen Institute. Der Vorstandsvorsitzende der Aurelia-Stiftung setzt sich für einen wesensgemäßen Umgang mit Bienen ein.

www.aurelia-bienenundbauern.de

www.radetzki.com

 

Kulturtipps von Thomas Radetzki

Hören Daniela Maul: „Euer Liebeslied“
Musik höre ich eigentlich nur von meiner Frau Daniela. Sie komponiert Lieder für Hochzeitspaare, singt bei uns zu Hause und spielt Harfe. Das erwärmt mein Herz. Ansonsten höre ich kaum Musik, weil ich zu wenig Zeit habe. Hauptsache, die Bienen summen.

Lesen Maja Göpel: „Unsere Welt neu denken“
Maja Göpel ist Initiatorin von Scientists for Future und macht nachvollziehbar, warum unsere Art zu wirtschaften zwangsläufig ökologische und soziale Ressourcen weltweit ausräubert und welche neuen Paradigmen jetzt zu setzen sind, um unsere Welt zu retten.

Sehen „Matrix I“
Ein Film, der mich außerordentlich berührt hat. Ob ich ihn jedem empfehlen soll, weiß ich nicht. Aber die aktuellen Gefahren sowie alle Grundmotive und Sehnsüchte, die uns in der westlichen Welt in den Knochen stecken, sind da verarbeitet.

Dieses Interview ist erschienen in Werde 02/2020
Text Leonie Sontheimer
Foto Florian Amrhein