Ein verwaister Holzbackofen in den Bergen und jede Menge Leidenschaft sind gute Voraussetzungen für Cecilia Furlan und ihre Freunde in aller Welt. Gemeinsam und ganz langsam bauen sie eine Backstube. Für Ideen, Initiativen und permakulturelles Brot.
Das Postauto hält scheinbar im Nirgendwo. Die Türen öffnen sich träge, man tritt auf eine wenig befahrene Überlandstraße. Rundherum Kuh- und Ziegenweiden, Hecken, Wälder, vereinzelt alte Obstbäume. Ein paar Schritte geradeaus zeigt sich rechter Hand etwas erhöht ein Bauernhaus; eines dieser stattlichen, weiß gestrichenen jurassischen Steinhäuser, die mit ihren kleinen Fenstern und den dicken Mauern kein Wetter und nur wenig Licht ins Innere lassen. Das mehrere Hundert Jahre alte Haus ist das Herz des winzigen Weilers Essertfallon, der zum Dorf Epiquerez gehört und oben auf dem Clos du Doubs liegt – einem etwa 13 Kilometer langen Hügelrücken im Schweizer Jura, um den herum sich weit unten der Doubs durch die stille Landschaft schlängelt.
Achtmal am Tag hält in Essertfallon ein Bus Richtung Saint-Ursanne. Im Allgemeinen steigt selten jemand ein oder aus. Außer wenn die Menschen rund um die „Chouette Boulangerie“ – die „tolle Backstube“ – Besuch erwarten. Dann öffnen sich die Türen des Postautos, und es kann sein, dass Gruppen von jungen Frauen und Männern aus allen Himmelsrichtungen, von Fern und Nah, mit kleinen oder großen Taschen, auf die Straße treten. Denn die Backstube, die mithilfe junger Menschen aus aller Welt ganz langsam entstand und 2018 eröffnete, kennt noch keine festen Öffnungszeiten, und sie ist genau genommen kein Verkaufslokal – aber sie ist Begegnungsort, Genusskulturatelier, Verpflegungszentrum und Bühne für spontane Konzerte.
Cecilia Furlan streift ihre Hände an einer grünen Kochschürze ab. Bis soeben stand sie in der Boulangerie und belegte zusammen mit anderen den Pizzateig, den ihr Kollege Giuseppe aus Italien geduldig geknetet und geformt hat, mit frischen, gekochten und gewürzten Tomaten, Gemüse, Oliven, Kräutern und Pilzen aus den Wäldern der Umgebung.
Vor wenigen Tagen hat das Postauto zwanzig junge Menschen hergebracht. Jetzt sind sie vor dem Bauernhaus stehend, sitzend und auch liegend in angeregte Gespräche vertieft. Kinder kurven auf Spielzeugfahrzeugen um sie herum, die letzten Sonnenstrahlen tauchen alle in weiches Licht. Die Abendluft ist warm, Roberto spielt Gitarre und singt. Der Unterwalliser Romain Jolien ist gekommen, um während zwei Wochen das Brot für die Gäste zu backen, junge Frauen und Männer aus der Schweiz, Italien, Slowenien und den Niederlanden. Es sind Studentinnen und Studenten von Cecilias Sommerakademie, die hier die Prinzipien des Permakulturdesigns kennenlernen werden.
Cecilia Furlan bringt alle diese Menschen zusammen. Und sie bringt der schwach besiedelten Region Ideen und Initiativen – sodass es nicht wundert, wenn Joëlle Codina, die mit ihrer Familie im Jahr 2014 nur kurze Zeit nach Cecilia in das alte Bauernhaus zog und schnell ihre Freundin wurde, über die gebürtige Venetierin sagt: „Cecilia ist bereits ziemlich berühmt hier.“
Ein Bauernhaus
Die Idee mit der Backstube hatten Cecilia und Joëlle gemeinsam. Hausherr Jacques Froidevaux, seit ewig am Ort und bis vor Kurzem der angestammte Bauer (inzwischen hat seine Tochter den Hof mit Bio-Geißkäserei übernommen), erzählte ihnen, dass es in dem Haus einst einen Brot-Holzofen hatte. Und siehe da: Die beiden entdeckten in einem vernachlässigten Teil des Bauernhauses ein Loch in der Wand und dahinter einen alten Ofen. Dass er in ebenso schlechtem Zustand war wie der Raum, sollte die zugezogenen jungen Mütter nicht von ihrem Vorhaben abhalten:
Sie starteten 2015 ein Crowdfunding und hatten keine Mühe, mehr als 11.385 Schweizer Franken (rund 10.500 Euro) zusammenzubringen – die benötigten sie für Reparaturen und Materialien. Was sie den Unterstützenden versprachen, waren – nebst einer Gegenleistung in Form eines Pizzaabends oder mehrerer Tage im Tipi –auf Jahre hinaus gesundes, selbst gebackenes Brot mit Mehl aus alten, regionalen Getreidesorten, respektvoller Bodenbearbeitung und chemiefreiem Anbau, Kreatives für Kinder und mehr.
Der Ort
„Meine Projekte entstehen immer, weil ich ein persönliches Bedürfnis habe“, erzählt Cecilia und beobachtet aus den Augenwinkeln, wie ihre fünfjährige Tochter Camelia stolz die ersten Pizzen aus der Boulangerie zu den Gästen trägt, auf einer der vielen runden, selbst gesägten Holzscheiben. Sie hatte schon zuvor an anderen Orten viele Sauerteigbrote gebacken, das in den Zutaten einfache, aber in der Herstellung anspruchsvolle Brot wurde zu einer Leidenschaft. Dass sie in ihrem neuen Zuhause einen echten, altgedienten Holzofen vorfand, „waren dann ein riesiges Geschenk und eine große Überraschung in einem“.
Furlan leidet nicht an einer Gluten- oder Weizenallergie, aber die 35-Jährige hat sich intensiv damit auseinandergesetzt, wie Backprodukte heutzutage hergestellt werden. Sie fasst zusammen, warum sie nichts Gebackenes mehr isst, das aus handelsüblicher Produktion stammt: „Industrielle Bäckereien produzieren in kurzer Zeit sehr viel Brot, das immer gleich aussehen und schmecken muss. Tag für Tag. Damit das überhaupt möglich ist, braucht es Korn, das reich ist an Gluten, dem ,Leim‘ im Getreide. Glutenreiches Mehl vereinfacht den Backprozess erheblich. Dazu Bierhefe, die ihn zusätzlich berechenbar macht und vor allem bewirkt, dass der Teig sehr schnell aufgeht. So hat man alles unter Kontrolle. Aber gesund ist diese hochgezüchtete Monokultur nicht, deswegen entwickeln viele Leute über kurz oder lang Verdauungsprobleme.“
Zeit für Gärung
Die „Chouette Boulangerie“ verwendet verschiedene Getreidesorten aus verantwortungsvollem Anbau: die uralte Kulturpflanze Einkorn etwa oder Dinkel und Weizen von einem Bauern aus der Region, dessen Arbeitsweise der Philosophie von Cecilia und Joëlle entspricht. Dieses Korn enthält naturgemäß Gluten, aber, so Cecilia: „Durch den langsamen Prozess des Fermentierens, die viele Zeit, die man dem Teig gibt, um lebendig zu werden, gibt es nie zwei identische Brote. Das hat auch damit zu tun, dass die Sauerteigbakterien, die für den Fermentierungsprozess verantwortlich sind, nie in derselben Zusammensetzung in der Luft vorhanden sind. Jedes Brot, das so entsteht, ist einzigartig, auch im Geschmack. Dazu kommt, dass die Bakterien den Teig sozusagen vorverdauen – das macht das Brot gut verträglich und gesund.“
Das Brot aus Ruch- und Vollkorn-Dinkelmehl, das Romain an diesem Morgen mit seiner Sauerteig-Starterkultur, nach der er gut schaut, hergestellt hat, backte im Ofen direkt neben der Holzglut und bekommt so ein besonderes, würziges Aroma.
Fast drei Jahre zogen ins Land, bis aus dem ersten Gedanken an eine eigene Backstube „La Chouette Boulangerie“ wurde. Es war ein Prozess, eine Art Gärung, so langsam und organisch, wie es dem Backen von Sauerteigbrot entspricht. Das Vertrauen, dass dereinst im vernachlässigten Loch in der Wand tatsächlich wieder Brot gebacken und der Raum dazu gelb leuchten würde – das teilten nicht alle mit ihnen. Cecilia Furlan lacht, als sie in der Abendsonne erzählt: „Es gab Zeiten, wo außer Joëlle und mir niemand mehr daran glaubte. Die Leute in unserem nächsten Umfeld flüsterten uns zu: ,Ihr müsst das nun voranbringen, ihr habt ja schließlich das Geld dafür bekommen!‘“
Cecilia, die in Bologna Politikwissenschaften studiert und Bücher des Kommunisten Antonio Gramsci ebenso verschlang wie solche der Philosophen Friedrich Nietzsche und Arthur Schopenhauer, sagt: „Ich glaube, das hat mit dem kapitalistischen System zu tun, in dem wir alle denken und funktionieren: Die Dinge müssen schnell vorangehen, sie müssen effizient sein, weil man ansonsten fürchtet, dass sie nicht zusammenhalten. Ich wusste, dass wir es schaffen werden. Einfach in unserem Tempo.“
Sie legten Pausen ein, weil es Probleme gab mit freiwilligen Volontären, die gekommen waren, um mit ihnen zu wohnen und zu arbeiten. „Ich liebe dieses Communityleben und werde es auch in Zukunft wieder wählen, aber es fordert viel. Jetzt lebe ich mit meiner Tochter auf dem Hof eines befreundeten Bauern unten am Doubs.“ Für Pausen sorgten aber auch andere Projekte. So ist Cecilia Mitorganisatorin des jährlich im Herbst stattfindenden traditionellen Marché Bio im auf dem Freiberge-Plateau gelegenen Saignelégier. Und sie organisiert außer der Sommerakademie regelmäßig weitere Kurse und Workshops zur Permakultur und insbesondere, wie sie sich im Sozialen manifestieren kann.
Autonomie und Permakultur
Hat also die Backstube einen permakulturellen Hintergrund, ohne dass dieser explizit benannt wird? Die Mentorin wird nachdenklich. Das habe sie sich so bis jetzt nicht überlegt, sagt sie zögerlich. Und dann, ganz klar und sicher: „Selber Brot machen ist Teil der Ernährungs-Autonomie. Und die ganze Art, wie wir es backen – nämlich lokal, partizipativ, langsam –, soll verbindend wirken. Es geht um Kooperation, darum, die lokale Gemeinschaft durch Aktivitäten gedeihen zu lassen, die sozial sind, und darüber hinaus natürlich auch Einnahmen zu generieren, die der lokalen Wirtschaft zugutekommen. Ich sehe also verschiedene Prinzipien der Permakultur vereint.“
Cecilia Furlan studierte einst in der Absicht, in die Politik zu gehen. „Ich war in einer Jungpartei und dachte, so könnte ich die Welt ändern. Und realisierte, dass das eine Illusion ist. Ich hatte von Gramsci gelernt, das System von innen heraus zu verändern, und erkannte: Die Politik war nicht mein System. Ich verstand aufs Mal, dass ich mich nicht an etwas Vordefiniertes, mir Fremdes anpassen wollte, sondern Lust hatte auf kleine, lebendige und autonome Communitys, die mir entsprechen und basisdemokratisch sind.“
Noch immer ist sie der Überzeugung, dass es Kampfgeist braucht, um etwas zu bewirken – aber auch Integrität. „Es gibt Leute, die im schwierigen Politsystem etwas erreichen. Darüber bin ich froh. Es braucht beide: die Politiker und uns Grassroot-Leute, die den Boden vorbereiten.“
Bella Ciao
Vor dem alten Bauernhaus in Essertfallon tragen Freunde Cecilias noch immer Pizzen von der Backstube nach draußen. Die Sonne ist inzwischen untergegangen, die jungen Leute diskutieren jetzt noch engagierter, ihr Lachen erhellt die Nacht. Etwa Simon und Louise, beide aus Zürich, sie von Beruf Hochbauzeichnerin, er Umweltwissenschaftler. Sie wollen Neues lernen und sich weiter inspirieren lassen in ihrem Bewusstsein und ihrem Verantwortungsgefühl der Natur und dem Leben gegenüber. Irgendwann am Abend wird Simon sagen: „Es geht doch darum, das schätzen zu lernen, was man schützen möchte.“
Plötzlich dringt laute Gitarrenmusik aus der Backstube, über deren Eingang eine gezeichnete Eule schwebt – die andere Bedeutung des Wortes „chouette“. Roberto steht mit der Gitarre in einer Ecke des Raumes, in dem manche noch immer Pizzateig belegen, die anderen bereits tanzen, und spielt den Police-Klassiker „Every breath you take“. Als er als Nächstes „Bella Ciao“ anstimmt, wird es gefühlt noch wärmer in der Backstube – und egal woher sie stammen: Alle singen jetzt innig den Text des italienischen Volkslieds mit, das zur Hymne gegen den Faschismus wurde. Auch Cecilia singt, mit geschlossenen Augen und sanft sich wiegend im Takt der Musik.
„Alles, was wir tun, ist politisch“, hat sie früher am Tag gesagt. „Auch jede unserer Entscheidungen: wie wir unsere Kinder aufziehen, wie wir mit unserem Partner leben – und wie wir Brot backen. Denn auch die kleinsten Entscheidungen machen einen Unterschied.“
Hier gibt es drei Fragen an Cecilia Furlan