18 Millionen Tonnen Lebensmittel werden jährlich in Deutschland weggeworfen – daran möchte das Berliner Startup „SIRPLUS“ etwas ändern. Das Team rettet Lebensmittel, die trotz des abgelaufenen Mindesthaltbarkeitsdatums genießbar sind und verkauft sie in „Rettermärkten“ und im Onlineshop. Ein Gespräch mit dem Gründer Raphael Fellmer über sein Engagement gegen die Verschwendung von Lebensmitteln.
Was ist die besondere Idee hinter eurem Startup SIRPLUS?
Raphael Fellmer Wir holen Lebensmittel ab, die wo anders übriggeblieben sind oder deren Mindesthaltbarkeitsdatum abgelaufen ist. Wenn sie noch genießbar sind, bringen wir sie zurück in den Kreislauf. So verhindern wir, dass sie im Müll landen. Jeder Mensch in Deutschland kann ganz einfach über unseren Onlineshop Teil der Lösung werden, mit unseren „SIRPLUS Boxen“ oder „Rettermärkten“ Geld sparen und gleichzeitig Gutes für die Umwelt tun. Wir schaffen Bewusstsein für Lebensmittelwertschätzung und den achtsamen Umgang mit unserem Essen und machen das Retten salonfähig.
Was bedeutet der Name SIRPLUS?
Raphael Fellmer Der Name unseres Startups kommt vom englischen Wort Surplus, das bedeutet Überschuss. Aus „Sur“ wurde „Sir“, um auf den Service aufmerksam zu machen, den wir bieten – wie ein Buttler, der den Überschuss wertschätzend serviert. Mit unseren „Rettermärkten“ und „SIRPLUS Boxen“ hat jeder die Möglichkeit, von zu Hause aus dem wahnsinnigen Überschuss an Lebensmitteln in Deutschland ein Ende zu bereiten und die Lebensmittel zu essen, die ansonsten vernichtet werden. Lebensmittel, die nicht der Norm entsprechen, die abgelaufen oder überproduziert sind, aber dennoch genießbar. Und einfach zu schade zum Wegwerfen.
Wie finanziert sich euer Startup?
Raphael Fellmer Wir sind noch nicht profitabel. Bislang haben wir über drei Millionen Euro an Geldern von Impact Investoren aufgenommen, außerdem 900.000 Euro durch ein Crowdinvesting und zwei erfolgreiche Crowdfunding Kampagnen. Derzeit sind wir auf Geldsuche, um weiter wachsen zu können – schließlich wollen wir noch mehr Wirkung erzielen.
Was hat dich zu diesem Thema gebracht?
Raphael Fellmer Angefangen hat das, als ich ein Kind war – schon damals habe ich gespürt, dass ich mich dafür einsetzen möchte, dass alle Menschen genügend zu essen haben. Richtig los ging es im Jahr 2009. Damals habe ich einen Film über Menschen gesehen, die Lebensmittel aus einer Mülltonne bei einem Supermarkt geholt haben – Lebensmittel, die noch gut essbar waren. Das konnte ich kaum fassen. Also habe mich davon überzeugt und bin selbst zum Mülltaucher geworden.
Dann habe ich während meines fünfjährigen Geldstreiks die Lebensmittelretter-Bewegung aufgebaut und groß gemacht. Heute kennen das die meisten unter dem Begriff Foodsharing: Freiwillige Helfer*innen holen das Essen bei 8000 Betrieben in Deutschland, Österreich und der Schweiz ab und verteilen es kostenfrei an Andere oder essen es selbst. Das ist eine unglaublich starke Bewegung, die viel Kraft entwickelt hat. Über 45 Millionen Kilogramm Lebensmittel haben wir damit schon gerettet.
Was waren bei deinem Geldstreik die größten Herausforderungen?
Raphael Fellmer Am Anfang war das recht entspannt. Ich war alleine unterwegs auf meiner Reise. Per Anhalter durch Europa und per Segelboottramper über den Atlantik, dann von Brasilien bis nach Mexiko. Als meine Frau schwanger wurde, war das mit dem langen Reisen nicht mehr so einfach. Schließlich sind wir dann auch an unsere Grenzen gekommen, als unser zweites Kind auf die Welt kam. Als vierköpfige Familie einen geeigneten, kostenlosen Wohnraum zu finden, ist deutlich schwieriger und komplexer. Das führte dann auch dazu, dass ich mich nach fünfeinhalb Jahren mit der Hilfe meiner Frau dazu entschlossen habe, den Geldstreik zu beenden und Geld als neutrales Mittel des Wandels zu sehen. Richtig eingesetzt kann es seine positive Kraft der Veränderung entfalten und ist nicht per se etwas Schlechtes.
Mit Foodsharing und der Geldstreik hast Du aber noch nicht erreicht, was du wolltest?
Raphael Fellmer Genau – ich wollte das Thema Lebensmittelverschwendung noch bekannter machen. Wir sind alle dafür verantwortlich, Lebensmittel wertzuschätzen. Lebensmittelverschwendung ist nicht nur ein europäisches Wohlstandsproblem, sondern ein globales Thema. Weltweit verschwenden wir ein Drittel aller Lebensmittel. Das würde ausreichen, um alle hungernden Menschen viermal zu ernähren. Ein Neuntel der Weltbevölkerung leidet an Unterernährung. Ich wollte das Retten von Lebensmitteln zum Mainstream zu machen und nach der Vegan-, Bio und Fairtrade-Bewegung in die Mitte der Gesellschaft bringen.
Was kann jeder einzelne gegen die Lebensmittelverschwendung tun?
Raphael Fellmer Wir alle sind Teil des Problems und damit gleichzeitig auch Teil der Lösung: 50 Prozent der Lebensmittelverschwendung in Deutschland und den meisten anderen reichen Ländern finden in den eigenen vier Wänden statt. Hier müssen wir ansetzen und schauen, wie wir dieses Problem lösen können. Foodsharing ist noch nicht das richtige, es ist eher eine Nischenlösung. Schließlich kann nicht jeder um 13 Uhr im Bio-Supermarkt sein, um die Lebensmittel abzuholen, sie zu sortieren und weiter zu verteilen. Mein Wunsch war es, Foodsharing für alle zugänglich zu machen. Alle sollen mitmachen können. Also habe ich meinen Geldstreik nach fünfeinhalb Jahren beendet und zusammen mit Martin Schott das Startup SIRPLUS gegründet.
Was wollt ihr mit eurem Startup erreichen?
Raphael Fellmer Unsere Vision ist, dass alle Menschen genügend zu essen haben. Im Jahr 2017 haben wir erfolgreich damit begonnen, online und offline gerettete Lebensmittel zu verkaufen. Seither haben wir über drei Millionen Kilogramm Lebensmittel gerettet und über 15 Millionen Menschen mit unserer Message erreicht. Wir sehen uns als Impact-Startup: Wir wollen erreichen, dass die Menschen einen anderen Bezug zu Lebensmitteln entwickeln und lernen, sie wertzuschätzen. Gemeinsam mit unseren Kund*innen werden wir fünf Millionen Tonnen bis zum Jahr 2030 retten. Denn wir können es uns zwar ökonomisch leisten, so verschwenderisch zu leben, aber ethisch und ökologisch ist es nicht akzeptabel. Es ist respektlos, wie wir mit den Menschen, Tieren, Lebensmitteln und Ressourcen umgehen. Wir können wir nicht einfach sagen, dass nur die Firmen Schuld an der Verschwendung tragen. Es ist auch unsere Verantwortung.
Nimmst du bereits Veränderungen in der Gesellschaft wahr?
Raphael Fellmer Wir leben in der größten Transformation der Menschheitsgeschichte! Noch nie gab es so viele Menschen auf der Erde, noch nie so viele, die Lesen und Schreiben können und über das Internet Zugang zu unbegrenztem Wissen haben. Es entsteht gerade ein Umdenken, ein neues Handeln. Die enkeltaugliche, faire, nachhaltige Entwicklung wird beschleunigt und Lebensmitteln wird immer stärker ihr ideeller Wert zugemessen. Ich bin davon überzeugt, dass die Menschen achtsamer konsumieren und erkennen, dass mancher Konsum gar nicht notwendig ist. Wir müssen nicht immer durch die halbe Welt jetten. Vor allem seit der Corona-Pandemie haben viele Menschen neue Möglichkeiten entdeckt: Man muss nicht zu einem Meeting fliegen, sondern macht einfach eine Videokonferenz.
Welche Visionen hast Du, wie geht es weiter?
Raphael Fellmer Ich denke, dass noch viel mehr möglich ist. In der Krise sehe ich eine große Chance für unsere Gesellschaft. Diese Chance sollten wir nicht verpassen. Nun haben wir die Möglichkeit, eine nachhaltige Wirtschaft zu entwickeln – und nicht einfach nur zu retten, was vorher da war, also den Status quo wiederherzustellen. Wir können uns gegenseitig stärken und voneinander lernen. Wir sind eine Spezies, eine Familie, Brüder und Schwestern, wir sitzen alle im selben Boot. Gemeinsam können wir auf die Klimakrise – die ja die große Krise ist, die schon seit vielen Jahren schwelt – mit der gleichen Aufmerksamkeit schauen, die wir dem Corona-Thema widmen. Wenn wir wollen, dann können wir. Das hat die Pandemie uns gelehrt. Zusammen kann die Menschheit Berge versetzen. Jeder kann bei sich im Kleinen beginnen. Und gemeinsam werden wir die Transformation in eine enkeltaugliche und soziale Gesellschaft schaffen.
Zur Person
Raphael Fellmer ist Mitgründer des Lebensmittelretter-Startups SIRPLUS. Gemeinsam mit seinem Team kämpft er gegen den verschwenderischen Umgang von Lebensmitteln.
Gerettete Lebensmittel gibt es auch im Café „Raupe Immersatt“, dem ersten Foodsharing-Café Deutschlands. Hier findet ihr das Interview mit Katrin Scherer und Maximilian Kraft vom Verein „Raupe Immersatt“, der das Café betreibt.
Text Anna Zaczek Fotos Sirplus, Markthalle Neun, Joasia Fidler-Wieruszewska