Tel Aviv City Tree

Baumschule auf Hebräisch

Stories

Mit ihrer Wohngemeinschaft „Ez BaIr – City Tree“ machen die Israelis Tami Zori und Alon Eliran vor, wie nachhaltiges Leben in der Stadt aussehen kann – ausgerechnet im teuren und schnellen Tel Aviv.

Tel Aviv City Tree

Verhutzelte Granatapfelschalen, „die kommen in den Tee“; Eseldisteln von der Straßenecke, die noch von den Stacheln befreit werden müssen; Malvenblätter; Äpfel in unterschiedlichen Existenzzuständen – die Arbeitsfläche in der Küche der Fünf-Zimmer-Wohnung im 3. Stock erinnert an eine herbstliche Bauernwiese.

Bei „Ez BaIr“, dem „City Tree“, landet wirklich nur Unverzehrbares im Müll – und der fermentiert als Kompost in einer Armada von alten Farbeimern auf dem Balkon vor sich hin. Einat Last, 22 Jahre alt und elfenzart, wuchtet eine Glaskaraffe auf den Tisch. Auf dem Kopf trägt sie eine warme Mütze mit Ohrenklappen. Sie lebt in der vielleicht einzigen Wohnung in Tel Aviv, die weder über Klimaanlage noch Heizstrahler verfügt.

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Den Essig haben sie im Sommer mit Mango- und Zitronenschalen angesetzt, jetzt mischt Einat ihn mit Senfsaat, die von einem Beutezug durch die urbane Flora stammt. „Dijon-Senf“, scherzt ein junger Mann mit wilden Locken und Trekking-Sandalen. Er überlegt ebenfalls einzuziehen, ist heute zum Schnuppern da und dann doch etwas erstaunt, als Einat erklärt, dass sie mit der Paste, die vom Essig-Machen zurückbleibt, das Geschirr waschen. Natürlich mit einem Luffa-Schwamm. Das Abwasser wiederum spült dann die Toilette – in der WC-Papier nur für Gäste bereitliegt.

Im Dörrautomaten trocknen Dattel-Cracker mit Fenchelsamen, auf dem Herd köchelt eine Brühe aus Gemüsestrünken. Immer wieder löst sich einer aus der Küchentruppe, eilt durch Zimmer mit offenen Türen, um in einem der vielen Regale und Schubfächer, gezimmert aus alten Obstkisten und Fensterläden, eine weitere Zutat oder ein Küchenwerkzeug hervorzuholen.

Auf dem Boden im Wohnzimmer liegen Papierknäuel von der Pappmaschee-Herstellung, auf dem Schreibtisch Baumwollblütenflusen, selbst gemachte Seifen und Schälchen aus getrockneten Zitrusschalen. „Abfall für scharfe Gegenstände“ steht auf einer Dose. „Auf den ersten Blick ist das hier völlig konfus“, sagt der junge Lockenkopf. „Auf den zweiten entdeckt man die Ordnung.“

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Mit den in der Wintersonne flirrenden Blättern vor den Fenstern, den Hängepflanzen und Reisigbündeln an den Wänden und dem erdigen Geruch fühlt man sich bei City Tree tatsächlich wie in einem riesigen Baumhaus. Von draußen dagegen würde man kaum erwarten, dass ausgerechnet hier, in einer der gepflegtesten und teuersten Straßen der Stadt, eine grüne Kommune wohnt; ja, eine gelebte Antithese zur Konsumgesellschaft.

Zwar ist das Gebäude im Bauhaus-Stil das einzige am Platz, das noch nicht renoviert wurde, und sieht deshalb nicht so gepflegt aus wie die Umgebung. Doch gleich daneben steht das alte Rathaus, in dem sich heute ein Museum befindet. Die Bialik Street ist nicht nur nach Israels Nationaldichter benannt, jener lebte auch in seiner eklektischen Villa nebenan, wie auch der Maler Reuven Rubin und andere prägende Figuren der ersten jüdischen Stadt. In dieser Gegend wurde Tel Aviv vor 100 Jahren erdacht: als Gartenstadt, mit privatem und öffentlichem Grün, Kibbuz-artigem Gemeinsinn und möglichst viel Lebensqualität.

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Und hier in der Bialik Street mit ihren exotischen Gärten sieht man der Stadt immer noch nicht an, dass sie schon seit Jahrzehnten aus allen Nähten platzt und der Beton die Erde frisst, wie Tami Zori sagt. „Dass wir ausgerechnet in dieser symbolischen Straße nun schon die dritte Wohnung gefunden haben, ist Fügung“, findet Tami.

Denn die Gründerin von City Tree hat eine Vision für Tel Aviv: eine Stadt, in der Pflanzen und Häuser symbiotisch verschmelzen und ihre Bewohner nach den Prinzipien der Permakultur leben, von den Früchten ihrer Gärten – die durchaus auch vertikal und auf Dächern wuchern dürfen. Sie nennt es „Waldstadt“. „Dabei gehörte Selbstversorgung bereits zu den Ideen der Stadtgründer“, erklärt ihr Partner Alon Eliran auf Deutsch. „Meine Omasprache“, sagt er, während er in zu großen Turnschuhen und erdverschmierten Jeans in der Küche umherhuscht und an einem Stückchen Blumenkohl knabbert.

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Eliran hat einen Doktortitel in Umweltwissenschaften und kümmert sich um die Gärten von City Tree – Brachflächen in der Nachbarschaft, deren sie sich angenommen haben. Hinter dem Liebling-Haus, benannt nach seinen Bewohnern aus der Gründerzeit und mit seiner makellos hergerichteten kantigen Bauhaus-Fassade heute ein Denkmalpflegezentrum, hat Eliran mit Freiwilligen einen Museumsgarten angelegt: „Zuckerrohr, Moringa, Möhren und Radieschen.“

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Er streift mit den Händen über die Blätter. „Ursprünglich baute man hier wohl, so wie wir, Nutzpflanzen an. Aber dann hatten die Städter immer weniger Zeit.“ Wieder zeigt Eliran den Weg, verschwindet in einem Hauseingang. Dahinter wartet diesmal ein Dschungel, in dem sich Papaya-Kronen über Curry-Pflanzen, indischen Basilikum, Hirse-Dolden und Auberginen-Stauden beugen. Ein paar Zierpflanzen sollen Vögel und Insekten anziehen, der Rest ist entweder essbar oder Heilpflanze.

Aus dem Dickicht zupft er zielsicher ein silbern schillerndes Blättchen. „Auf Hebräisch heißt das ‚salzig‘, weil es als Salzersatz dient.“ Eine Wüstenpflanze. „Wir wollen herausbekommen, was in unserem Klima möglichst pflegeleicht und ressourcenschonend wächst.“ Ein guter Teil des Gartens ist deshalb mit Süßkartoffeln bedeckt, deren Blätter im Salat landen. „Das war alles toter Boden“, sagt er, darauf bedacht, keinen Keimling zu zertreten.

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Der einzige Hinweis darauf, dass dieser Urwald menschengemacht ist, sind die Komposteimer am Gartenzaun. Sie sind luftdicht verschlossen, damit ist die Bokashi- Methode auch geruchsarm und stört die Nachbarn nicht. Ein Mann grüßt über den Zaun und bedankt sich für eine Papaya, die er vorher gepflückt hat. In erster Linie versorgt der Garten die Kommune, aber was im Überfluss da ist, dürfen auch die Nachbarn nehmen. „Wir kaufen nicht viel und nie im Geschäft“, sagt Eliran. „Wenn, dann direkt von einer echten Person mit guter Haltung.“

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Apropos Nachbarn. „Die meisten beäugen uns ziemlich argwöhnisch“, sagt Tami Zori. Allerdings herrsche in Tel Avivs Mietmarkt ein Kommen und Gehen. „Oder sie finden uns seltsam“, sagt sie und zeigt an sich herunter. Graulockig, mit strenger Miene statt Make-up und in alter Jogginghose wirkt die 53-Jährige tatsächlich eher wie eine resolute Bäuerin als eine hippe Städterin. Dabei habe sie selbst früher konsumiert wie eine Wilde, sagt Zori: „Ich war eine richtige Kapitalistin.“

„Das Leben in der Gemeinschaft ist unsere Zukunft. So etwas lernt man in der Schule leider nicht.“

Acht Jahre lebte sie in New York, arbeitete in Design und Marketing, ging viel shoppen und täglich essen. Es war keine Erleuchtung, die sie umdenken ließ, sondern eher ein allmähliches Aufglühen. Zori litt an Allergien und Asthma. Auf den Rat einer Bekannten verzichtete sie erst auf Milchprodukte. Dann auf Fleisch. Dann begann sie darüber nachzudenken, woher unser Essen kommt – und wohin es geht.

Wieder in Tel Aviv, stellte sie fest, dass es damals auf Hebräisch kaum Informationen zum nachhaltigen Leben gab. Schon gar nicht in der Stadt. Also begann sie selbst einen Blog zu schreiben, den „Ez BaIr“. Das war 2006. Der Rest wuchs drum herum. Missionieren wollten sie nicht, eher ein Basislager sein für Interessierte, ein Baum, dessen Wurzeln immer tiefer im Boden ankern und dessen Zweige sich in alle Richtungen strecken. „Wir verknüpfen Gleichgesinnte in Israel und geben unser erworbenes Wissen weiter.“

Wissen, das man leider nicht in der Schule lerne und für das sich auch die Stadtverwaltung erst allmählich öffnet. Im Treppenhaus hängt das Überbleibsel eines ersten Kooperationsversuchs: eine Stadtkarte, auf der sie alle Orte in der Stadt eingezeichnet haben, die kompostieren. Sie selbst hätten sicher 26 Tonnen Erde produziert in 15 Jahren, behauptet Zori. Und kaum Müll. Und das in einer Stadt, in der einem Plastikbeutel und -becher an jedem Kiosk nachgeworfen werden.

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Aber wieso ausgerechnet Stadt und dazu noch Tel Aviv, eine der teuersten der Welt? „Ich war schon immer ein Citygirl“, sagt Zori schulterzuckend. „Ich glaube, man bewirkt da am meisten, wo man sich auskennt.“ Sie zeigt auf die Futons, die sie nachts von Sofas zu Betten umbauen: „Erst mit City Tree habe ich verstanden, dass die Zukunft in der Gemeinschaft liegt.“ Sie und ihr Partner Alon seien beide eigentlich nicht besonders gesellig. Aber in der Wohnung gibt es keinen Privatraum. „Wir sind keine WG, eher ein Kloster, in dem man voneinander lernt.“

Das bedeute allerdings auch, dass keiner der festen Bewohner, meist sind es vier bis fünf, plus diverse Besucher, einer üblichen Erwerbsarbeit nachgeht. Derzeit seien sie etwas im Minus, sagt Zori. Privatvermögen habe sie nicht mehr. Das Haushaltsgeld kommt über den Verkauf von Selbstgemachtem wie Seife, Essig und Kombucha herein, dazu Spenden von Unterstützern – vor allem aber über Touren durchs Haus und Workshops. Eigentlich derzeit auf digitalen Plattformen. Themen: wie das nun praktisch funktioniert, wenn man auf Klopapier verzichtet; wie man aus der selbst gezogenen Baumwolle Wattestäbchen bastelt; oder warum sich Gemüse in Stoffsäckchen länger hält.

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Heute jedoch wollen die Bewohner selbst etwas lernen, und zwar wie man ein Terrarium im Glas anlegt. Der neueste Zuwachs im Haus, Sagi, ein Gärtner, will mit den Mini-Ökosphären ein Hostel in Tel Aviv ausstatten. Zwar lebt er nahe der Wüstenstadt Beer Sheva und habe Tel Aviv und die Städter immer gemieden, erzählt Sagi. Aber seitdem er Tami Zori bei einem Workshop kennengelernt hat, hat er bei City Tree ein zweites Zuhause gefunden und pendelt. Seine Augen leuchten, als er von der Komposttoilette erzählt, die er gerade mit Tamis Partner Alon konstruiert. Dass das Zierterrarium ein wenig vorbeigeht an Zoris praktischer Philosophie, wird schnell klar.

„Wir wollen herausfinden, was in diesem Klima möglichst ressourcenschonend wächst.“

Der Workshop Leiter, ein Landwirtschaftsstudent, hat einen ganzen Sack voller Totholz zur Deko mitgebracht. „Mit Chlor alle Bakterien abgetötet, damit das Ökosystem nicht kippt“, erklärt er stolz – und man merkt deutlich, wie es in den Köpfen rumort. „Du entscheidest also, was im Glas wächst?“, fragt Tami Zori.

Dann erinnert sie sich wieder an ihre Gastgeberrolle, lacht versöhnlich und zupft ein Blatt von einer lebendigen Deko-Pflanze. „Schmeckt auch lecker!“ Aufs Stichwort steht eine der Frauen auf, um Teig für ein Spelzenbrot und Buchweizen-Pfannkuchen anzurühren. Bald wuselt es wieder in der Küche. Man könnte meinen, die Geschäftigkeit sei für den Besuch inszeniert, sagt Avital Cohen. „Aber hier geht’s immer so zu!“

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Als die 46-Jährige vor gut drei Jahren das erste Mal zur Tür reinkam, wollte sie gleich wieder gehen. „Die spinnen doch“, dachte sie. Schließlich blieb sie nicht nur zu einer zehntägigen Fastenkur, sondern gab ihr altes Leben auf und zog ganz ein. „Ich war damals depressiv, übergewichtig und einfach unglücklich“, sagt Cohen. Sie hasste ihren Job, hatte keine Freunde. „Wie ein Zombie.“ Dass sie ihr altes Leben so radikal aufgab, kann sie sich trotzdem kaum erklären. „Ich war schon skeptisch und hatte auch Angst.“ Das erste Jahr habe sie sich in einem der Zimmer verkrochen, die Leute waren ihr zu viel.

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Mit einem Auge auf die Pfannkuchen vermengt sie nebenher Salz mit Natron und Kokosöl für die Zahnpasta; sie ist aus. Der Gärtner kommt dazu und erzählt, dass er nur noch einen Lakritzzweig zum Putzen nehme. „Die Leute glauben immer, wir hocken hier nur faul herum“, sagt Avital. „Aber wenn wir alle machten, was wir wollten, würde dieser Ort so nicht existieren.“ Morgens dagegen ließen sie es alle langsam angehen.

Tami Zori mache Yoga und meditiere, Alon Eliran schlafe lange, und sie geht am Strand spazieren. Selbstpflege wird bei City Tree mindestens so großgeschrieben wie die Rettung der Welt. Nesthäkchen Einat Last ist die Einzige in der Wohnung, die sagt, sie sorge sich um Klima und Umwelt, seit sie sich erinnern kann. Und damit fühlt sie sich selbst in ihrer eigenen Generation ziemlich allein. „Die Leute sind so auf den Nahostkonflikt konzentriert“, sagt Einat. Nach dem Motto: „Die Araber wollen uns umbringen, was kümmert mich da der Wassermangel?“

Die Facebook-Seite von Fridays for Future hat in Israel gerade mal 300 Likes. Tel Aviv gilt zwar als Veganer- Mekka, Israel als eine der vegansten Nationen der Welt. „Aber viele essen trotzdem Junkfood, in Plastik eingewickelt. Ich bin da draußen verrückt geworden“, sagt Einat Last. „Bei City Tree habe ich das erste Mal gemerkt, dass nicht ich die Verrückte bin.“ Sie hat selbst gerade erst ihren Wehrdienst beendet, als Computerspezialistin war sie in ihrer Einheit für IT zuständig. Nach der Armee ist es üblich, dass junge Israelis erst mal ein Jahr um die Welt reisen. Doch nun kam die Pandemie dazwischen. Ihre Freunde haben alle gleich angefangen zu studieren oder zu arbeiten. Einat Last wollte eigentlich nur raus aus der Stadt, ein paar Monate auf Ökofarmen in Israel arbeiten. Sie zeigt auf das Gewusel in der Küche: „Nun ist dies hier meine Reise.“

Dieser Beitrag ist erschienen in Werde 01 / 2021
Text: Agnes Fazekas   
Foto: Jonas Opperskalski