An einem Regentag in diesem Juni setzt Lucia Hiemer ihren Rucksack auf und läuft los. Raus aus ihrem Selbstversorgergarten im süddeutschen Allgäu, hinaus in die Welt. Ein Reisetagebuch.
Lucia Hiemer ist Gärtnerin, diplomierte Permakulturdesignerin und Holzbildhauerin. Die 45-jährige lebt im süddeutschen Allgäu, bewirtschaftet ihren 1000 Quadratmeter Permakulturgarten und gestaltet Holzskulpturen. Ihre Vision: „Ich möchte noch mal Lehrling sein. Deshalb gehe ich ein Jahr auf Wanderschaft, um das Leben und das Denken anderer Menschen auf der Erde zu erkunden. Ich habe drei Kinder großgezogen. Jetzt ist es Zeit, dass der Fluss andersherum läuft und ich mein Rad eine Zeit lang anhalte.“ Die Geschichte ihrer Auszeit als Reisetagebuch.
Ich laufe los
Ich versuche es jetzt einfach, keine Ahnung was mich erwartet, und gehe ins Ungewisse – was das Leben ja eigentlich immer ist – da mein Kalender immer noch bis Ende März 2021 keinen einzigen Eintrag hat. Meine ursprünglich geplante Route werde ich nicht mehr einholen können, zudem liegen ein paar Länder auf der Strecke, die mich in diesen Zeiten doch ein wenig in Unwohlsein versetzen. So wird die Tour in jeder Hinsicht spannend und meinen Weg werden Begegnungen weisen. Am 16. Juni, zweieinhalb Monate später als ursprünglich geplant, setze ich meinen Rucksack auf und laufe bei Regenwetter los, in ein Abenteuer, das ich seit einem Jahr geplant habe. Zwei Kilometer bis zur Bundesstraße mit Fragen im Bauch: Für wie lange wird es sein? Wo wird es mich hinführen? Stimmt die Entscheidung, vor allem in diesen Zeiten? Ein Jahr Auszeit. Pause. Eindrücke sammeln. Mich sammeln. Nochmal eine Lehrzeit machen, mich von anderen Kulturen, Projekten und Denkweisen inspirieren lassen.
„Permakultur und die Suche nach alternativen Lebensmodellen – der rote Faden meiner Reise.“
Mit einem Schild: M (für München) und dem Daumen im Regen steh ich da. Keine Minute dauert es und ein Auto hupt. Klar, mich kennen hier in meiner Heimat viele Menschen und ich werde von einem Bekannten aus dem Dorf zu einem besseren Startplatz gefahren.
Mein Ziel für heute ist der Mienbacher Waldgarten von Hannelore Zech in Niederbayern. Nach fünf Stunden komme ich dort an und werde erwartet. Das Projekt und Hanne kenne ich bisher nur aus Erzählungen. Ich bekomme eine Gartenführung, wir tauschen uns aus. Am nächsten Tag mittags ziehe ich wieder los, fahre per Anhalter bis Passau, um mir die Stadt anzusehen. Trampen übt auf mich immer noch einen Reiz aus.
„Völlig durchnässt steige ich in St. Pölten in den Zug nach Graz. Kein Mensch sammelt einen tropfnassen Pudel vom Straßenrand auf.“
In zwei Tagen lernte ich spannende Leute kennen und führte und intensive Gespräche: Mit dem Umweltbeauftragten des Münchner Flughafens, der mir Flughafenhonig geschenkt hat, einem Bauer aus Straubing im neuen Tesla und einem Lastwagenfahrer, der 25 Tonnen Weißwein transportiert. Alle boten guten Stoff für Gespräche zu dem Thema meiner Reise: Permakultur und die Suche nach alternativen Lebensmodellen – der rote Faden meiner Reise. In Passau auf der Straße treffe ich zufällig Ronja, eine Freundin meiner Kinder, die dort studiert. Ich werde in ihrer WG herzlich aufgenommen.
Die Donau entlang
Am nächsten Tag laufe und fahre ich auf der Bundesstraße durchs Donautal bei warmem Nieselregen Richtung Linz. Die ruhige, fast entrückte Stimmung auf dieser idyllischen Strecke ist gepaart mit Begegnungen und Gesprächen mit Radreisenden auf dem Donauradweg. Fünf Schwestern aus Biberach, im Alter etwa zwischen 60 und 75 Jahren auf ihrer jährlichen Schwesternradtour, geben mir die besten Tipps für Mitfahrgelegenheiten. In Linz treffe ich meine jüngste Schwester Corinna, sie lebt dort.
Ins Waldviertel
Am 19. Juni möchte ich über das Mühlviertel bis Zwettl ins Waldviertel kommen. Mit verschiedenen Leuten darf ich die kurvenreichen Straßen und die hügelige Landschaft erfahren. In Sprögnitz treffe ich Sigrid Drage und Andreas Voglgruber, sie bewirtschaften seit vier Jahren ihren Bauernhof nach permakulturellen Gesichtspunkten. Wir kennen uns schon einige Jahre und sind gemeinsam an der Permakulturakademie im Alpenraum (PIA) als Referenten tätig. Ihr Projekt habe ich allerdings noch nie gesehen, so war für mich klar, einen Besuch hier auf die Route zu legen.
Zwei Tage bleibe ich, beeindruckt von der Fläche und der schönen Anlage ziehe ich, diesmal bei strömendem Regen, Richtung Steiermark weiter. Völlig durchnässt steige ich in St. Pölten in den Zug nach Graz. Kein Mensch sammelt einen tropfnassen Pudel vom Straßenrand auf. In Stainz besuche ich noch Marlies und Josef Ortner, die Gründereltern unserer Akademie. In diesem Corona-Frühling scheinen alle Gärten eine intensive Aufmerksamkeit ihrer Betreuer genossen zu haben. Der Therapiegarten von Marlies ist eine Augenweide, es blüht, brummt und trägt Früchte.
Mein Weg führt nach Slowenien
Am 22. Juni lasse ich mich von Josef zur Autobahn bringen, die slowenische Grenze ist nicht mehr weit. Mein Weg führt mich nach Zreçe, ein Kurort unweit von Slovenska Bistrica. Prija hatte in der Mail geschrieben, ich solle von Zreçe den Wanderschildern zum Berg Golek folgen, kurz unter dem Gipfel läge ihr Hof, der an einer Jurte zu erkennen ist.
„Eine Jurte etwas abseits erzählt von der Zukunft dieses schönen Platzes, es soll einer kleinen Gemeinschaft zur Heimat werden.“
Peter und Prija haben vor einem guten Jahr dieses Stück Land erworben, zwei Hektar Wiese und zwei Hektar Wald mit einem abbruchreifen Bauernhaus in Südhanglage auf 750 Meter. Eine Jurte etwas abseits erzählt von der Zukunft dieses schönen Platzes, es soll einer kleinen Gemeinschaft zur Heimat werden und als Lebensgrundlage dienen. Bis dahin wird es noch viel zu tun geben für die drei.
Der blühend duftende Lindenbaum überragt das alte Bauernhaus von Prija, Peter und ihrer kleinen Tochter Zaria. Im Baum summt es, ein Chor der Insekten. Der Blick ins Tal gleicht meiner Heimat, sogar der Berg mit dem Sendeturm hat fast dieselbe Silhouette des Grüntens, dem Wächter des Allgäus. Vom Nachbarhof hallt ein Dreivierteltakt, Polka gespielt auf Blechblasinstrumenten. Mit Prija knie ich zwischen Gemüse und Erdbeeren. Dämpfig ist es, es hatte heute Vormittag geregnet. Seit zwei Tagen sind wir am Mulchen und Auspflanzen. Die vielen Quadratmeter Mulchbeete messen eine Mulchdicke, die ich nur aus Büchern kenne, 20 bis 30 Zentimeter und es gibt keine Schnecken. Wie das? Ich soll noch darauf kommen. Es gibt Mitbewohner, die Schnecken auf dem Speiseplan haben: Schlangen. Ich kann es nicht leugnen, mich beschleicht sofort die Idee, diese offensichtlich praktischen Mitarbeiter in mein Permakultur-System einzubinden.
Der schwarze See
Am Freitag gehe ich mit Prija noch einkaufen im Tal und wir erfahren, dass seit zwei Tagen die Maskenpflicht in Slowenien wieder eingeführt ist. Dann bin ich bereit für eine Wanderung über die Pohorje. Von Oplodnica aus laufe ich an idyllischen kleinen Bauernhäusern vorbei, mein Tagesziel ist der See Crno Jezero, der schwarzer See.
Immer wieder lassen übervoll hängende Kirschbäume mich Rast machen. Die Temperatur steigt, ganz schön anstrengend mit meinem schweren Rucksack. Doch bald komme ich in die Wälder. Es sind teilweise Überbleibsel der mitteleuropäischen Urwälder. Eine atemberaubende Idylle erwartet mich: Der See auf dieser Hochebene, eingebettet in den Duft der Nadelwälder, scheint die Aufgabe zu haben, dem Himmel einen Spiegel hinzuhalten. Am späten Nachmittag verschwinden die anderen Wanderer und ich wage einen Sprung ins Wasser. Der Name Crno Jezero erklärt sich von selbst: tief moorbraunes Wasser, ein Glücksgefühl durchströmt meinen Körper. Wir beide – der See und ich – werden die nächsten 14 Stunden allein hier oben sein.
Ich stelle mein Zelt auf, koche Suppe mit Reis auf dem Benzinkocher und trinke mit der untergehenden Sonne mein Feierabendbier. Nach einer ruhigen ersten Nacht in meinem Zelt, einem Morgenbad und Kaffee, packe ich zusammen, bevor die ersten Wanderer erscheinen. Prija hat mir zuvor den Weg über diese Ebene erklärt, die unzähligen Waldpfade hätten mich sonst endlos umherirren lassen. Ich komme an Wasserfällen vorbei, an Hochmooren, treffe Rehe und erreiche schließlich mein Ziel in Smolnik.
Unter der Burg in Ljubljana
In Smolnik komme ich bei Duśan, dem Herbergsvater des Naturfreundehauses, unter. Er hat dieses Gebäude vor 30 Jahren gekauft, ein großer Gemüsegarten und ein Fischweiher rahmen diesen weitläufigen Platz in Alleinlage ein. Ich werde erwartet, Prija hat das organisiert. Duśan sitzt mit Nachbarn Hugo auf der Terrasse. In diesem Jahr bin ich der erste Gast, wegen Corona. Über den Sommer ist das Haus normalerweise ausgebucht.
Nach einem ausgiebigen, tiefgründigen trilinguaren Diskurs über Weltpolitik und Beziehungsmodelle werden mir die Zimmer gezeigt, ich kann mir eines aussuchen. Die ausgesprochene Redseligkeit der beiden wird auch der momentanen Situation geschuldet sein. Die Menschen sind ein bisschen ausgehungert von Gesellschaft. Am nächsten Tag fährt mich Duśan ins Dorf hinunter und ich versuche am Sonntag bei brütender Hitze nach Ljubljana zu trampen. Das gelingt nicht besonders gut, aber bis zum späten Nachmittag komme ich doch an.
In der slowenischen Hauptstadt habe ich einen Host angefragt. Jens Wagner ist Diplomat und arbeitet an der deutschen Botschaft, seine Frau Selma ist gebürtige Bosnierin, zusammen mit ihrem einjährigen Sohn Felix leben sie für drei Jahre in Ljubljana. Die Familie hat mich eingeladen, ihr Gast zu sein. Die Wohnung liegt direkt unter der Burg mitten in der Altstadt.
Grüne Stadt Europas
Ljubljana ist „The Greenest City of Europe 2020“ und das sieht man ihr an. Seit eineinhalb Jahren ist die Innenstadt autofrei, das verleiht der Stadt eine unglaubliche Lebensqualität. Es fahren „Kavaliere“, kleine Elektro betriebene Fahrzeuge durch die Gassen, man steigt ein und sagt dem Fahrer wo man hingebracht werden möchte. Meine Gastgeber zeigen mir die Stadt und geben mir Antworten auf geschichtliche und politische Fragen. An den unzähligen Straßencafés kann man ahnen, wie viele Besucher die Stadt sonst um diese Jahreszeit lockt. Im Moment bleiben die Einheimischen und ein paar unerschrockene Besucher unter sich. Das Geschäft bleibt aus. Jens, mein Gastgeber hat vor zwei Tagen am Zaun der deutschen Botschaft Plakate aufgehängt: Eine Ausstellung zu den Themen Vielfalt, Migration, Klimawandel, Völkerverständigung, erneuerbare Energien.