Jedes weggeworfene Lebensmittel bedeutet unnötige CO2-Emissionen und Ressourcenverschwendung. Wie sich das ändern lässt, darüber haben sich Katharina Reuter und Alexander Piutti Gedanken gemacht – und Lösungen gefunden. „Billigfleisch ist in Wirklichkeit enorm teuer“, sagt Katharina Reuter vom Bundesverband Nachhaltige Wirtschaft. Sie fordert transparente und wahre Preise für Lebensmittel. Piutti stemmt sich mit seinem Start-up SPRK gegen die steigende Verschwendung: Jährlich landen weltweit 2,5 Milliarden Tonnen Lebensmittel im Abfall.
Welche Info vermisst du am meisten, wenn du Lebensmittel (im Supermarkt) einkaufst?
Katharina Reuter Ich vermisse wahre Preise. Dann würden wir automatisch zu den Produkten greifen, die gut für Umwelt, Klima und uns Menschen sind. Die Pestizid-Weintrauben wären dann nämlich teurer als die Bio-Trauben. Und ich vermisse Voll-Transparenz aller Zutaten inklusive einer deutlichen Herkunftsangabe aller Zutaten. Wusstet ihr, dass die meisten Sonnenblumenöle aus der Ukraine kommen? Ich nicht.
Alexander Piutti Regionale und nachhaltig produzierte Lebensmittel finden immer mehr den Weg ins Regal, das ist super. Was ich aber vermisse, ist eine auf den ersten Blick ersichtliche und authentische Kennzeichnung, woher die Produkte tatsächlich stammen. Ich würde mir wünschen, dass die Produkte deutlicher gekennzeichnet werden und man als Verbraucherin oder Verbraucher keine Lupe benötigt, um den Ursprungsort zu erkennen – umso die Erzeuger entsprechend zu unterstützen.
„Es ist ein riesiges Problem, dass wir die ökologischen und sozialen Kosten eines Produkts völlig ausblenden.“ (Katharina Reuter)
Warum ist der Lebensmittelmarkt nicht transparent?
Katharina Reuter Weil gute Produkte eine Story haben, schlechte Produkte hingegen nicht. Auch wenn das paradox klingt, ist das genau der Grund dafür, warum wir keine Schweine auf Vollspaltenböden auf der Wurst-Verpackung sehen. Keine Hochleistungsmilchkühe im Stall auf der Milchtüte. Die schlechte Story lässt der Lebensmittelmarkt einfach unter den Tisch fallen – und schon war´s das mit der Transparenz. Leider ist auch völlig undurchsichtig, wie viel vom jeweiligen Produktpreis bei den Produzentinnen und Produzenten ankommt.
Alexander Piutti Vor der Gründung von SPRK im Jahr 2020 war ich selbst vier Jahre lang in der Branche unterwegs, um den Markt und seine Akteure kennenzulernen, die Zusammenhänge in der Lebensmittellieferkette zu verstehen und mir ein Gesamtbild zu machen. Der Lebensmittelmarkt ist sehr komplex, teilweise intransparent und bestimmt von Preiswettkämpfen. Das führt zu einer massiven Ineffizienz, die gerade von der aktuellen WWF Studie belegt wurde.
Die traurige Nachricht: Die Lebensmittelverschwendung ist weltweit von 1,6 auf 2,5 Milliarden Tonnen pro Jahr gestiegen. Wahnsinn, wenn man an die Ressourcen-Verschwendung und den korrespondierenden Klimaschaden denkt. Zehn Prozent aller Treibhausgase resultieren aus der Überproduktion bzw. dem Überschuss an Lebensmitteln. Die Begründung, einfach formuliert, lautet: ein systematisches, dynamisches Zusammenbringen von Angebot und Nachfrage bzw. von Überangebot und Überschuss fehlt. Tatsächlich werden aber Transparenz und Nachhaltigkeit immer wichtiger. Beides bietet einen Wettbewerbsvorteil, besonders am Lebensmittelmarkt, da Verbraucherinnen und Verbraucher immer genauer überlegen, welche Produkte sie kaufen.
Wir sprechen aktuell mit Agrarverbänden und Erzeugern, die in der Lieferkette ganz vorn stehen, um zum Beispiel Äpfel von Landwirtinnen und Landwirte aufzunehmen, die für den Verkauf zu klein, zu groß oder zu krumm sind. Daraus stellen wir zum Beispiel Apfelsaft her, der wiederum im Supermarkt verkauft werden kann. Damit der Kunde nachvollziehen kann, woher der Apfelsaft genau kommt, könnte mit Hilfe der sogenannten Blockchain-Technologie Transparenz geschaffen werden.
Warum sind unwahre Preise ein Problem?
Katharina Reuter Es ist ein riesiges Problem, dass wir die ökologischen und sozialen Kosten eines Produkts völlig ausblenden. Denn das führt zu unfairen Märkten für den Klimaschutz, für Menschenrechte in der Lieferkette und für eine intakte Umwelt. All die nachhaltigen Unternehmen, die diese Aspekte heute schon umsetzen, müssen auf unfairen Märkten agieren. Und wir Verbraucherinnen und Verbraucher werden von unwahren Preissignalen bewusst in die Irre geleitet: Billigfleisch ist eben in Wirklichkeit enorm teuer.
Alexander Piutti Unwahre Preise sind problematisch, weil die in der Lebensmittelproduktion etwa durch Überproduktion entstehenden Schäden an Natur, Klima und Mensch nicht mitberücksichtigt werden. Tatsächlich sind die Auswirkungen bzw. die Kosten für Umwelt und Klima erheblich, gerade bei Fleisch oder tierischen Produkten. Eine Packung 500 Gramm Hackfleisch aus konventioneller Herstellung müsste beispielsweise 7,63 EUR kosten, statt 2,79 EUR, so die Kalkulation von Wissenschaftlern. Zu zeigen, welcher Preis die Herstellung eines Produkts insgesamt hat, könnte Verbraucherinnen und Verbraucher bewusstere Kaufentscheidungen treffen lassen. Das wiederum könnte den Griff zu nachhaltigen und regionalen Lebensmitteln steigern.
Wie erfahren Verbraucher von überschüssigen Lebensmitteln in ihrem Umfeld?
Katharina Reuter Zum Beispiel mit Hilfe der App von Too Good To Go. Oder sie schauen in die Retter-Kühlschränke von foodsharing, in den Sirplus-Rettermärkten und ihren „Rettomaten“ an ausgewählten Bahnhöfen – und natürlich im Berliner Deli von SPRK.
Alexander Piutti SPRK versteht sich in erster Linie als B2B-Partner, denn die meisten Lebensmittelüberschüsse entstehen am Anfang und in der Mitte der Lieferkette. Unsere Zielgruppen sind vor allem Landwirte, Produzenten, der Groß- und Einzelhandel, Gastronomen, Caterer, aber auch gemeinnützige Organisationen. Über unsere Distributionsplattform werden alle vernetzt und quasi stündlich über neue Überschüsse informiert, die dann über unsere Plattform gezielt umverteilt werden.
Mit unserem Ladenlokal “Deli by SPRK” als unser B2C Showcase in Berlin und den Produkten aus der SPRK.manufactory wenden wir uns an die Verbraucherinnen und Verbraucher. Die SPRK-Mahlzeiten und -Produkte bestehen größtenteils aus überschüssigen Lebensmitteln, darauf weisen wir deutlich hin.
Es ist ja oft von der Macht die Rede, die wir als Verbraucherinnen und Verbraucher haben. Wie groß ist sie wirklich und wie werfen wir sie am besten in die Waagschale?
Katharina Reuter Ja, wir Verbraucherinnen und Verbraucher haben Macht, die konnten wir zum Beispiel beim Shell-Boykott aufgrund des Umgangs mit der Ölplattform Brent Spar in der Nordsee eindrucksvoll erleben. Der Druck der Öffentlichkeit auf den Konzern war riesig, dieser konnte die Plattform nicht wie ursprünglich geplant im Atlantik versenken – mit all seinen negativen Folgen für den Lebensraum Meer.
Aber es ist nicht okay, die ganze Verantwortung auf uns abzuwälzen. Es braucht politische „Leitplanken“, damit die Agrar- und Ernährungswende Wirklichkeit wird. Der Bio-Markt zeigt ganz deutlich: Der Wunsch nach guten Lebensmitteln (für Mensch, Natur und Klima) ist heute Mainstream, ein Ende des Marktwachstums ist nicht in Sicht. Ich bin auch begeistert von Initiativen wie „Du bist hier der Chef“, wo die Verbraucherinnen und Verbraucher im Vorfeld Verantwortung übernehmen, mit welchen Eigenschaften ein Produkt auf den Markt kommen soll.
Alexander Piutti Die Nachfrage bestimmt das Angebot. Mit unserem Kaufverhalten haben wir Einfluss darauf, ob Ressourcen geschont werden. Dennoch tragen Verbraucherinnen und Verbraucher nicht die Hauptverantwortung für eine nachhaltige Lebensmittelbranche. Wir von SPRKsehen hier ganz klar alle Akteure der Lieferkette in der partnerschaftlichen Verantwortung, sowohl auf der Anbieter- als auch auf der Abnehmerseite – dazu zählen auch verarbeitende Betriebe, wie etwa Industrie Caterer, Krankenhäuser und Kantinen.
60 Prozent der Lebensmittelüberschüsse fallen nämlich bereits am Anfang und in der Mitte der Lieferkette an. Hier setzt SPRK an: Im ersten Schritt verteilen wir Überschüsse gezielt um. Langfristig geht es aber darum, über Mustererkennung die Überschüsse frühzeitig vorherzusagen, zu vermeiden und insgesamt runterzufahren und damit Ressourcen und Klima zu schützen.
Immer mehr Akteure erkennen, dass sie durch die Umverteilung hohe Entsorgungskosten sparen und zugleich mit dem Zeitgeist gehen, indem sie nachhaltiger agieren. Aus unserer Sicht ist das Problem lösbar: es braucht einen von Technologie getriebenen, konzertierten Ansatz. Dazu sind wir mit SPRK angetreten und konnten in der kurzen Zeit einige große Akteure überzeugen, zusammen mit uns die SPRK Mission fokussiert und mit Nachdruck umzusetzen.
„Ein Kilogramm an unnötig entsorgten Lebensmitteln führt im Durchschnitt zu einer Umweltbelastung von circa 2,5 Kilogramm CO2-Äquivalenten.“ (Alexander Piutti)
Wie kann der Handel nachhaltiger werden?
Katharina Reuter Das hat verschiedene Ebenen. Im stationären Handel ist das einerseits der Betrieb der Märkte. Hier geht bei den Themen Energieeffizienz und Versorgung mit echtem Ökostrom schon einiges in die richtige Richtung. Die Themen Wärme inklusive Abwärme-Nutzung und Mobilität sind noch ausbaufähig.
Andererseits geht es darum, welche Produkte im Sortiment sind. Hier ist ein stärkeres Commitment zu bio, fair, regional oder vegan zu beobachten. Was ich nicht verstehe: Warum fliegt nicht deutlich und entschieden Billigfleisch aus den niedrigen Haltungsstufen raus? Warum finden vegane Industrie-Produkte voller fieser Zusatzstoffe immer noch den Weg ins Regal? Und warum werden Mehrweg-Lösungen (und / oder unverpackt) nicht viel stärker gepusht?
Alexander Piutti Für Lebensmittelüberschüsse entlang der Lieferkette gibt es verschiedene Gründe: Das Obst und Gemüse entspricht nicht der Norm und schafft es gar nicht ins Regal, das Mindesthaltbarkeitsdatum läuft ab oder die Produkte werden mangels Abnahme im großen Stil entsorgt. Die Lösung liegt darin, einen Sekundärmarkt für diese Lebensmittel aufzubauen und sie an passende Abnehmer anzubieten: die Nachfrage ist gegeben. Aus zu kleinen Äpfeln kann man schließlich literweise Apfelsaft herstellen, da spielt die Größe keine Rolle.
Mit unserer Plattform bauen wir diesen Sekundärmarkt auf: Wir kooperieren mit Händlern und Produzenten, identifizieren überschüssige Lebensmittel und verteilen diese entweder um oder verarbeiten sie systematisch zu neuen Produkten – aus Tomaten wird etwa Tomatenketchup. Künstliche Intelligenz (KI) hilft bei der Mustererkennung und dem Antizipieren entsprechender “Use Cases”.
Das ist unersetzlich, wenn es darum geht, dass alle Stakeholder den positiven Impact maximieren und die systematische Überproduktion verhindern wollen. Einen vergleichbaren Impact zu erreichen, wäre für einzelne Teilnehmende der Lebensmittellieferkette nicht möglich, weshalb Industrie und Gesellschaft von der KI-getriebenen Distributionslösung profitieren.
Vom Feld auf den Teller: Ist Direktvermarktung die Lösung und ist sie massentauglich?
Katharina Reuter Direktvermarktung ist definitiv ein wichtiger Teil der Lösung. Hier kommt zusammen, was Ernährungswende und -souveränität ausmacht: Bäuerinnen, Gärtner, Brauerinnen und Bäcker – im direkten Kontakt mit denen, die ihre Produkte konsumieren. Nähe. Absolute Transparenz über Produktions- und Haltungsbedingungen. Gerade in der solidarischen Landwirtschaft wird die Herausforderung des Anbaus miterlebt und mitgelebt. Der Bezug dazu, wo unser Essen (und Trinken) herkommt, wird gestärkt.
Alexander Piutti Dieser Ansatz mag für frische Produkte wie Obst und Gemüse am besten funktionieren. Ob es allerdings massentauglich ist, bezweifle ich, da der Ansatz derzeit operativ nicht umsetzbar ist. Wenn es eine hyper-lokale Herangehensweise gäbe, der Angebot und Zielgruppen lokal verbindet, könnte das gelingen. Auch das ist über einen technologischen Ansatz abbildbar.
Gerade bei Produkten, die verarbeitet sind wird es schwieriger. Hier kommt es vielmehr darauf an, Angebot und Nachfrage langfristig und lokal besser in Einklang zu bringen und dafür zu sorgen, dass Überschüsse nicht entsorgt werden und langfristig nicht mehr entstehen. Den Lebensmittel verarbeitenden Betrieben kommt eine wichtige Rolle zu: Kantinen, Gastronomen und Caterer können selber einen Impact erzielen, in dem sie ihre Bestellprozesse flexibler aufstellen und einen Teil flexibel sourcen.
Statt wie bislang 100 Prozent der Waren mit einigen Tagen Vorlauf vorzubestellen, könnte man 20 Prozent Luft lassen im Bestellprozess, um kurzfristig überschüssige Waren anzunehmen und zuzubereiten. Das spart nicht nur Einkaufskosten, sondern ermöglicht auch die Zubereitung von nachhaltigen Gerichten – hergestellt aus überschüssigen und regionalen Lebensmitteln.
Was möchtest du mit deiner Arbeit erreichen?
Katharina Reuter Ich möchte meinen Teil zur Transformation der Wirtschaft beitragen. Der Hebel liegt vor allem darin, die politische Stimme der nachhaltigen, zukunftsorientierten Unternehmen laut zu machen. Ich will klimafreundliche Lösungen aufzeigen, in der Politik und in den Medien. Damit es künftig nicht mehr heißt: „Die“ Wirtschaft bremst beim Klimaschutz. Denn so viele Unternehmen und grüne Startups sind schon viel weiter als die Politik!
Alexander Piutti Wir wollen ermöglichen, dass die Lebensmittel Lieferkette effizient arbeitet. Hierzu schaffen wir mit unseren Partnern die technologischen Grundlagen als Distributionsplattform, quasi als digitale Handelsplattform. Mit SPRK möchten wir so die Lebensmittelüberschüsse in der Lieferkette nachhaltig reduzieren und langfristig eliminieren. Ein Kilogramm an unnötig entsorgten Lebensmitteln führt im Durchschnitt zu einer Umweltbelastung von circa 2,5 Kilogramm CO2-Äquivalenten.
Bei den CO2-Emissionen der Überschüsse in der Lebensmittellieferkette anzusetzen, bedeutet, einen enormen Hebel für den Klima- und Ressourcenschutz zu bewegen. Bislang konnten wir mit SPRK rund 150 Tonnen Lebensmittel umverteilen oder verarbeiten, das entspricht rund 375 Tonnen CO2-Äquivalenten, die nicht unnötig anfielen. Und das ist erst der Anfang. Wir möchten so schnell wie möglich so viele Akteure wie möglich an unsere Plattform anbinden. Das erste Etappenziel: Berlin in vier bis fünf Jahren frei zu machen von Lebensmittelüberschüssen in der Lieferkette.
Letztlich sind wir davon überzeugt, dass unser Ansatz global funktioniert. Erfreulicherweise konnten wir letztes Jahr weltweit den 1. Platz belegen bei der XTC Extreme Tech Challenge, Kategorie ‘Smart Cities’ was dem SPRK Konzept enormen Rückenwind gegeben hat. Wir können als Spinne im Netz agieren und so einen starken Beitrag leisten.
Zur Person
Katharina Reuter (44) ist Agrarökonomin und Lobbyistin für eine zukunftsorientierte Wirtschaft. Als Geschäftsführerin des Bundesverbands Nachhaltige Wirtschaft arbeitet sie eng mit den Pionieren der Nachhaltigkeit zusammen. Sie ist Co-Gründerin der Regionalwert AG Berlin-Brandenburg.
Alexander Piutti (53) ist ein Impact-orientierter Seriengründer, Angel-Investor und Innovationscoach. Er möchte seine Erfahrungen für eine gerechtere und nachhaltigere Welt einsetzen und gründete 2020 SPRK, ein Start-up, das sich dem weltweit ungelösten Problem der Lebensmittelverschwendung mit einer KI-basierten Distributionsplattform annimmt.
Living Soil Journey
Bei der digitalen Dialogserie Living Soil Journey diskutieren Expert*innen, Aktivist*innen und andere Interessierte darüber, wie die Transformation hin zu regenerativer Landwirtschaft und mehr Bodengesundheit gelingen kann. Katharina Reuter und Alexander Piutti waren als Speaker beim zweiten Dialog der Living Soil Journey dabei, unter dem Motto „Vom Feld auf den Teller“. Die Living Soil Journey ist ein Projekt von Weleda und ProjectTogether, Werde ist Medienpartner.
Schaue dir hier den ganzen zweiten Dialog der Living Soil Journey als Aufzeichnung an. Ab 15. September geht es bei der Living Soil Journey weiter – melde dich jetzt an für die nächsten Dialoge.
Interview Kristina Hartmann
Foto Jewgeni Roppel , BNW e.V. / Jörg Farys, Alex Piutti, Barbara von Woellwarth