Klimaneutralität Anselm Kissel

Neutralität ist erst der Anfang

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Das Thema Klimaneutralität boomt, auch dank Kompensationsprojekten in aller Welt. Doch es geht um mehr als CO2-Werte. Zu wenige Unternehmen wirtschaften umfassend nachhaltig und stellen sich so der Klimakrise entgegen. Drei gute Beispiele.

Klimaneutralität Anselm Kissel

„Ein Mitarbeiter-Event hier, eine Spende da, ein wenig Ökostrom – und fertig ist die Nachhaltigkeit? Wer so denkt und die Handvoll Obstbäume auf dem Firmengelände gegen seine Treibhausgas-Emissionen aufrechnet, hat Nachhaltigkeit nicht verstanden.“

Der kritische Satz über unangemes- senes, Greenwashing-verdächtiges Wirtschaften in Zeiten von Klimakrise und Artensterben stammt nicht von einem empörten Fridays-for-Future-Aktivisten, sondern von einem handfesten oberschwäbischen Hightech-Mittelständler mit fast 1000 Mitarbeitern: elobau in Leutkirch, Hersteller so staubtrockener Produkte wie Sensoren und Sicherheitstechnik für den Maschinenbau, der sein Credo im Stil eines Sponti-Spruchs verdichtet: „Nachhaltigkeit ist kein Müsli.“

„Es geht um massive CO₂-Reduktion und gleich- zeitig um soziale Nachhaltigkeit. Letztlich geht es um die Frage, wie wir leben wollen.“ Odette Deuber

Wer in den aktuellen Nachhaltigkeitsbericht der Firma schaut, die ausschließlich in Deutschland produziert, bekommt eine Ahnung davon, wie umfassend dort Nachhaltigkeit definiert und gelebt wird. Und warum das Unternehmen schon viele einschlägige Preise und Auszeichnungen eingesammelt hat.

Der Gemeinwohl-Ökonomie und der Kreislaufwirtschaft verpflichtet, lassen die Allgäuer kaum einen Bereich aus, schauen gewissermaßen weit über die „Handvoll Obstbäume auf dem Firmengelände“ hinaus, wie die folgende unvollständige Aufzählung zeigt: Vor fünf Jahren überführte der Chef seinen alleinigen Besitz in ein Stiftungsunternehmen, das sich jetzt quasi selbst gehört, seine Gewinne zu 90 Prozent reinvestiert und nie mehr verkauft werden kann.

Die Betriebsbienen auf den Fabrikdächern werden immer mehr, und die Verbrenner im Fuhrpark immer weniger. SUVs als Dienstwagen sind sogar ausdrücklich verboten. Wo es möglich ist, wechselt das Unternehmen in der Produktion zu biobasierten oder recycelten Kunststoffen, die Firmenkonten führt eine Ethikbank. Bereits seit 2010 produziert elobau klimaneutral, und in der Kantine wird ausschließlich Biokost serviert und immer öfter vegan und vegetarisch. Leiharbeiter verdienen vom ersten Tag an den gleichen Lohn wie Festangestellte. Und alle, die mit dem Fahrrad zur Arbeit kommen, erhalten einen Zuschuss für dessen Leasingrate.

Pionier-Unternehmen

Für Odette Deuber sind Firmen wie elobau Pioniere. Die Umweltingenieurin promovierte über die Klimawirkungen des Luftverkehrs, ist Gründerin und Geschäftsführerin der Tübinger Klimaberatungsgesellschaft DO Climate und als Vorständin beim Bundesverband Nachhaltige Wirtschaft für das Ressort Klimaschutz zuständig. Umso bemerkenswerter ist der Satz der Klimaexpertin: „Klimaneutralität ist längst nicht alles, sie ist nur der Anfang.“ elobau habe das verstanden. Und gehöre genau deshalb zu den Pionieren.

Klimaneutralität Anselm Kissel

Ob sich Unternehmen als klimaneutral bezeichnen können, ist vor allem eine Frage der Definition. Denn Fachleute wie Odette Deuber unterteilen Treibhausgas-Emissionen in dreierlei Kategorien: Zur ersten – Scope 1 – gehören direkte Emissionen aus Öl- und Gasheizungen in den eigenen Bürogebäuden und Werkshallen sowie aus Firmenfahrzeugen.

Scope 2 sind indirekte Emissionen bei Versorgern, die dem Unternehmen Strom, Wärme oder Dampf liefern, bei deren Erzeugung ebenfalls CO2 entsteht. Innerhalb dieser „Systemgrenzen“ klimaneutral zu werden ist keine Fingerübung, aber auch kein Hexenwerk: Man wechselt zu Grünstrom und Biogas, elektrifiziert Maschinen und Fahrzeuge, dämmt Gebäude – und kompensiert zuletzt den nicht vermeidbaren Rest durch Zahlungen an Klimaschutzprojekte. „Manche dieser Maßnahmen sind einfach und kosten nicht viel“, sagt Odette Deuber. „Andere verlangen relevante Investitionen, die sich aber auf Dauer rechnen. Und einige stehen auch ohne das Ziel der Klimaneutralität auf der To-do-Liste jedes vorausschauenden Managers, der einfach nur energieeffizient wirtschaften will.“

Humus aufbauen

Die eigentliche Herausforderung für Unternehmen sind die Treibhausgase der Kategorie 3: Sie entstehen, wenn die Beschäftigten zur Arbeit fahren oder auf Geschäftsreise sind, sie entstehen bei der vorgelagerten Produktion und beim Transport von Rohstoffen oder Bauteilen, die das Unternehmen irgendwo auf der Welt einkauft, und sie entstehen nach der Produktion, wenn die Ware von Kunden benutzt und schließlich entsorgt wird.

Wie die CO2-Emissionen eines Unternehmens auf die drei Kategorien verteilt sind, hängt stark von der Branche und seiner internationalen Verflechtung ab. Ein überraschendes Beispiel dafür liefert Weleda. Bezogen auf seinen Klimafußabdruck durch Energieverbrauch in den ersten beiden Kategorien – rund 10.000 Tonnen CO2-Äquivalente –, ist das Unternehmen seit 2021 (rechnerisch) klimaneutral.

Doch diese 10.000 Tonnen machen nur etwa ein Prozent des gesamten Klimafußabdrucks aller drei Kategorien aus, der etwa 1,2 Millionen Tonnen beträgt. Schon wesentlich größer – acht Prozent – ist der Fußabdruck der Weleda-Produkte, wozu neben den Emissionen aus dem Unternehmen auch jene durch Verpackungen, Rohstoffe, Werbematerialien oder Transporte gehören. Damit die Produkte von 2022 an klimaneutral sind, drückt Weleda die Emissionen durch Effizienzverbesserungen, erneuerbare Energien, Maßnahmen in den Lieferketten und zuletzt durch Kompensation.

Die Verantwortung endet nicht am Werkstor

Weitere acht Prozent des Klimafußabdrucks entstehen durch Steuern und Abgaben, die Weleda zahlt und mit denen der Staat zum Beispiel Straßen baut. Neun Prozent der Klimawirkung entfalten die 2500 Mitarbeitenden, die ihre Löhne und Gehälter für Lebensmittel, Mobilität und warme Wohnungen ausgeben. Und 14 Prozent der Emissionen sind den Guthaben und Geldanlagen des Unternehmens und seiner Vorsorgestiftung in der Schweiz zuzurechnen.

Der mit Abstand größte Teil der Emissionen allerdings – 58 Prozent oder etwa 770.000 Tonnen CO2-Äquivalente – entsteht, wenn die Produkte längst hergestellt und verkauft sind. Etwa beim Duschen und Baden mit warmem Wasser, wofür meist fossile Energien verbrannt werden. „Daran wird deutlich, dass unsere Verantwortung fürs Klima nicht am Werkstor oder bei den eigenen Produkten endet“, meint Stefan Siemer, Leiter Nachhaltigkeit bei Weleda.

Humus aufbauen für Klimaneutralität

Bis zum Jahr 2025 will Weleda seinen kompletten Klimaabdruck um 350.000 Tonnen CO2 verringern und ausgleichen. „Ein extrem ambitioniertes Reduktionsziel um fast ein Drittel im Scope 3“, sagt Siemer. Doch das gelinge nur, wenn Lieferanten, Mitarbeiter und Kunden sensibilisiert und aktiviert werden könnten für neue Klimaschutzideen. „Wenn wir alle auch bei den kleinen alltäglichen Entscheidungen etwas mehr fürs Klima und für die Natur tun, ergibt das insgesamt eine sehr starke positive Wirkung, die uns allen zugutekommt.“

Klimaneutralität Anselm Kissel

Siemer nennt das „impact positive“: der gedankliche Umstieg vom „weniger schlecht“ zu „mehr gut“. Der Wechsel von der Schadensminimierung zur Idee, wie man Positives bewirken kann. Zum Beispiel beim Thema Böden. „Mindestens so dringend wie Klimaschutz braucht die Welt den respektvollen Umgang mit Böden. Hier bedeutet ,impact positive‘: Es muss nicht nur die Bodendegradation gestoppt werden, vielmehr muss neuer fruchtbarer Humus aufgebaut werden.“

„Wer weiß schon, wie lange ein frisch gepflanztes Bäumchen, das CO₂ binden soll, stehen bleiben darf?“   Frank Lehmann

Das Beispiel Weleda zeigt, wie sich das Bemühen um Klimaneutralität wie von selbst zu einem riesigen Aufgabenfeld weitet. Eines, auf dem es keineswegs nur um die Reduktion von Treibhausgasen innerhalb bestimmter „Systemgrenzen“ geht. Sondern um Wechselbeziehungen über Grenzen hinweg zwischen Unternehmen untereinander, mit Investoren und Banken. Und mit Lieferanten, Mitarbeitern, Kunden, Anwohnern, Bürgern, staatlichen Institutionen.

Das meint auch die Umweltingenieurin Odette Deuber, wenn sie sagt, Klimaneutralität sei nur der Anfang. Sie ist eine technische Herausforderung, aber noch viel mehr eine kommunikative, psychologische, soziale. „Ein klimaneutrales Unternehmen ist nichts rein Rechnerisches“, sagt die Beraterin. „Ein klimaneutrales Unternehmen ist eines, in dem der Geist der Nachhaltigkeit verankert ist und von allen gelebt und nach außen getragen wird.“

Über den Ernst der Lage macht sich die Klimaexpertin nichts vor: „Wir laufen auf ein Desaster zu.“ Umso wichtiger sei es, den Blick auf Pionier-Unternehmen zu richten. Auf solche, die ein anderes Wirtschaften praktizieren. In denen Mitarbeiter motiviert werden, ins Handeln zu kommen und die notwendige gesellschaftliche Transformation voranzubringen.

„Ja, es geht auch um massive CO2-Reduktion“, sagt Deuber, „und gleichzeitig um soziale Nachhaltigkeit. Dass Mitarbeiter in Unternehmen sich auf Augenhöhe begegnen und über gemeinsame Ziele und Werte verständigen können. Zum Beispiel darüber, ob und wie sehr Gewinne auch dem Allgemeinwohl zugutekommen sollen. Letztlich geht es um die Frage, wie wir leben wollen.“

Greenwashing erkennen

Das erklärt auch, warum die Beraterin Kompensation von CO2-Emissionen durch Klimaschutzprojekte nicht uneingeschränkt befürwortet: „Ich halte es für Greenwashing, wenn Unternehmen sich klimaneutral geben,  indem sie die Emissionen CO2-intensiver Produkte extern kompensieren, ohne gleichzeitig ihre Geschäftspraktiken auf allen Ebenen auf Lösungen für eine klimaneutrale Welt auszurichten.“

Der Turnschuh, den ein Discounter im vergangenen Jahr als „klimaneutral“ bewarb, sei auf den ersten Blick ja interessant. Auf den zweiten aber höchst fragwürdig, wenn man wisse, dass er gerade mal 12,99 Euro kostete. „Die Frage ist schlicht, ob das Geschäftsmodell nachhaltig sein kann, wenn es unverändert auf kurzfristige Gewinnmaximierung durch möglichst billige Massenartikel setzt.“

Mit der Frage eines nachhaltigen Geschäftsmodells beschäftigt man sich bei den Ensinger Mineral-Heilquellen schon seit Jahrzehnten. Was nur folgerichtig sei, wie Geschäftsführer Frank Lehmann sagt, „schließlich hängen wir direkt von der Natur ab“.

Zwingend war deshalb auch, dass das Unternehmen in Vaihingen an der Enz irgendwann beim Thema Klimaneutralität landen würde. „Wir hatten in der Vergangenheit schon so viel erreicht auf dem Weg zur Nachhaltigkeit. Deshalb haben wir 2018 beschlossen: Jetzt machen wir den Sack zu und werden klimaneutral.“ Das bescheinigte der TÜV dem Familienunternehmen erstmals Anfang 2020, innerhalb der „Systemgrenzen“ für Scope 1 und 2.

Klimaneutralität Anselm Kissel

Endlich die Klimaneutralität erreichen

Der Weg dahin war lang und der erste große Meilenstein 2012 der Bau eines eigenen Solarparks. Dieser liefert seither CO2-neutral rund ein Fünftel des Strombedarfs. Es folgten der Umstieg auf zugekauften Ökostrom, um die Lücke zur 100-prozentigen Grünstromversorgung zu schließen, und der Wechsel zu Ökogas; später dann die Elektrifizierung der Gabelstapler und 2017 die firmeneigene Lkw-Tankstelle für regenerativen C.A.R.E.-Diesel aus gebrauchtem Speiseöl und Fett, der etwa 80 Prozent weniger CO2 emittiert. „Wir taten das damals trotz Warnungen der Autohersteller und obwohl der Sprit viel teurer ist“, sagt Lehmann.

Mit diesen und weiteren Maßnahmen drückte der Mittelständler (170 Mitarbeiter) seinen Ausstoß an Treibhausgasen im Vergleich mit 1998 um 93 Prozent von gut 5.000 auf 370 Tonnen. Den Rest kompensiert er durch ein Trinkwasserbrunnen-Projekt in Malawi.

Der Kompensationseffekt entsteht dadurch, dass der Zugang zu sauberem Brunnenwasser das Abkochen schmutzigen Oberflächenwassers über Holzfeuern überflüssig macht. „Wir haben bewusst ein Projekt gewählt, bei dem CO2, das wir hier nicht vermeiden können, an anderer Stelle erst gar nicht entsteht“, erklärt Geschäftsführer Lehmann. „Wir wollen die Kompensation durch Aufforstung nicht diskreditieren, aber wer weiß schon, wie lange ein frisch gepflanztes Bäumchen, das CO2 binden soll, stehen bleiben darf, bevor es umgesägt wird?“

Am liebsten wäre den Mineralwasser-Abfüllern, auch die Emissionen jenseits der eigenen Unternehmensgrenzen weiter zu drücken. Bei den Lieferanten von Etiketten, Deckeln, Flaschen und Kisten. Und bei den Spediteuren, die parallel zum eigenen klimafreundlicheren Fuhrpark noch mit klassischen Diesel-Lkw für Ensinger unterwegs sind. „Wir arbeiten daran, auch diese Lücke zu schließen, aber das gelingt derzeit noch nicht zufriedenstellend“, räumt Frank Lehmann ein.

Immerhin: Schon vor vielen Jahren sei es gelungen, einige Hersteller für den Gebrauch von Mehrwegsystemen mit den gleichen Flaschen und Kästen zu gewinnen. Das schmälert zwar die Möglichkeit, sich visuell von Wettbewerbern abzugrenzen, spart aber Kosten und ist gut für die Umwelt. „Das war damals sensationell, und seither haben sich 29 Unternehmen angeschlossen“, sagt Lehmann. Es ist ein Anfang für neues Wirtschaften, in dem Nachhaltigkeit und nicht Konkurrenz das beherrschende Prinzip ist.

Klimaneutralität Anselm Kissel

Ein anderes Vorhaben musste das Unternehmen auf absehbare Zeit aufgeben. Als man 2012 voller Euphorie die eigene Fotovoltaikanlage in Betrieb nahm, habe man davon geträumt, ein paar Jahre später den Energiebedarf komplett aus weiteren Solaranlagen und firmeneigenen Windrädern zu bestreiten. „Wir mussten zur Kenntnis nehmen“, sagt Frank Lehmann, „dass wir da regulatorisch und bei der Bevölkerung an Grenzen stoßen. Das schmerzt, hält uns aber nicht davon ab, weiter auf diesem Weg voranzugehen.“

Das ist auch nötig, wenn Klimaneutralität das große gemeinsame Ziel ist in Unternehmen, bei Verbrauchern, in der Politik. Die Aufgabe ist gigantisch, aber nicht unlösbar, sagen Wissenschaftler. Gerade erst im April legte die Stiftung Klimaneutralität eine ambitionierte Studie vor. Demnach kann Deutschland sogar schon 2045 vollständig auf Kohle, Erdöl und Erdgas verzichten. Ohne politisch verordnete Verhaltensänderungen und bei wachsender Wirtschaft. Und fünf Jahre früher als heute angepeilt.

Text Stefan Scheytt und Susi Lotz
Foto Anselm Kissel

Dieser Beitrag ist erschienen in Werde 02/2021

 

 

 

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