Gerhard Reese Foto Lena Giovanazza

„Beim Klimawandel müssen wir kollektiv denken“

Interviews

Wer sich um das Klima sorgt, verhält sich leichter klimaschützend, besagt ein Studienergebnis. Gerhard Reese, Professor für Umweltpsychologie, forscht zu unserem Verhalten und stellt auch die eigene Klimafreundlichkeit immer wieder auf den Prüfstand.

Herr Reese, während der Covid-19-Pandemie fällt es den meisten verhältnismäßig leicht, sich einzuschränken, an Ausgangssperren und Kontaktbeschränkungen zu halten. Der Klimawandel ist eine ebenso große Bedrohung – warum bleibt hier der große Impact aus?
Gerhard Reese Bei Covid-19 gibt es eine sehr konkrete Bedrohung, die man am eigenen Leib spüren konnte, oder man kennt zumindest Menschen, die es am eigenen Leib gespürt haben. Das ist hierzulande beim Klimawandel noch nicht der Fall. Die Politik hat gemerkt, dass mit Covid-19 eine konkrete Gefahr auf uns zukommt, und zwar nicht erst in 20 oder 60 Jahren, und mit Maßnahmen und Regelungen reagiert. Und dann ist da natürlich die Hoffnung, dass die Pandemie etwas Temporäres ist – die Klimakrise, die auf uns zurollt, wird mit großer Wahrscheinlichkeit für die kommenden Jahrhunderte das Leben der Menschen beeinflussen.

„Evolutionsgeschichtlich ist Angst sinnvoll. Sie kann ein Motivator sein, wenn man das Gefühl hat, dass man noch etwas ändern kann.“

„I want you to panic“, sagte Greta Thunberg 2019 beim Weltwirtschafts-forum in Davos. Sollten wir mehr Angst vor dem Klimawandel haben?
Gerhard Reese Angst zu nutzen oder hervorzurufen, finde ich persönlich schwierig, aber evolutionsgeschichtlich ist Angst durchaus sinnvoll: Wenn wir Angst vor einer Situation haben, kann es dazu führen, dass wir uns damit auseinandersetzen und überlegen, wie man sie verbessern kann. Angst kann ein Motivator sein, aber nur wenn man das Gefühl hat, dass man noch etwas ändern kann. Wir haben im vergangenen Sommer eine Studie mit 1000 Probanden zum Thema Klimaangst durchgeführt, und da hat sich gezeigt, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen Klimaangst und der Intention, sich klimaschützender zu verhalten.

Gerhard Reese Klimaangst Foto Lena Giovanazza

Welche Erkenntnisse haben Sie noch aus Ihrer Studie gezogen?
Gerhard Reese Ein Teil der Probanden hat angegeben, ein Grundgefühl von Klimaangst zu haben, wobei ich sie eher als Klimasorge bezeichnen würde. Mit dem Begriff Klimaangst bin ich vorsichtig, weil es noch zu wenig belastbare Forschung dazu gibt. Man kann noch nicht sagen, ob das wirklich Angst in einem klinisch-psychologisch relevanten Sinn ist, eine Art der Angststörung, oder eine stärker ausgeprägte Sorge. Dass sich gerade jüngere Menschen Sorgen wegen des Klimawandels machen, kann man wohl nicht abstreiten.

Was lösen Bilder von Waldbränden in Australien und Kalifornien in uns aus?
Gerhard Reese Sie lösen durchaus Emotionen aus. Wir haben 2019 eine Studie gemacht, ein Jahr nach diesem großen Hitzesommer. Der Hälfte der Versuchsteilnehmer haben wir ein Satellitenbild gezeigt, bei dem man eine Veränderung sieht: Im Frühling war die Pfalz ganz grün, im Sommer völlig vertrocknet. Die andere Hälfte hat keine Veränderung gesehen, da war die Landschaft immer grün. Die, die Veränderung gesehen haben, haben viel stärker mit negativen Emotionen reagiert.

Erinnern Sie sich, wann Sie zum ersten Mal bewusst über Klima- und Umweltschutz nachgedacht haben?
Gerhard Reese Als Jugendlicher war mir schon bewusst, dass die Natur schützenswert ist und es sein muss. Ich bin in Nordhessen und auf Rügen aufgewachsen, umgeben von Hügeln, ziemlich viel Wald und eben Meer, das hat sicherlich eine Rolle gespielt. Es gab bereits Berichte über den Treibhauseffekt und den Klimawandel, und wie viele hatte ich das Gefühl, dass wir dabei sind, den Karren an die Wand zu fahren. Damals habe ich mich schon für Umweltschutz, Wind- und Solarenergie interessiert und nach dem Abitur ein Freiwilliges Ökologisches Jahr gemacht.

Was haben Sie damals gemacht?
Gerhard Reese Ich war an der internationalen Naturschutzakademie auf der Ostseeinsel Vilm bei Rügen und half bei der Tagungsorganisation, bei Pflanzungen und habe Führungen für Schüler und andere Gruppen gegeben. Das war die Zeit kurz nach dem Rio-Abkommen 1992, bei dem erstmals Nachhaltigkeit zum internationalen Leitbild erklärt wurde. Und gleichzeitig sind Zehntausende Delegierte nach Rio de Janeiro gejettet.

Wie kamen Sie auf das Thema Umweltpsychologie?
Gerhard Reese Ich habe erst Geowissenschaften studiert, was mir dann aber zu technisch war, und dann gewechselt und Psychologie studiert. Dabei habe ich mich viel für soziale und kulturelle Normen interessiert – und dafür, wie man dieses Wissen für Umweltfragen nutzen kann.

Sie haben online Ihren Klima-Lebenslauf veröffentlicht. Darin steht, dass Sie seit 20 Jahren 99,8 Prozent Vegetarier sind. Und die fehlenden 0,2 Prozent?
Gerhard Reese Einmal im Jahr überkommt es mich, und ich will Fish and Chips essen. Und vor ein paar Jahren war ich auf einer hinduistischen Hochzeit. Da waren 2000 Gäste, ein Koch hat traditionelles Tandoori-Chicken zubereitet – da maße ich es mir nicht an zu sagen: Sorry, das esse ich nicht. Ich bin auch nicht dogmatisch.

Warum sind Sie Vegetarier geworden?
Gerhard Reese Das war 2001, ich erinnere mich so genau, weil es kurz vor 9/11 war. Mit meinem Bruder sah ich eine Dokumentation über Stopfgänse und Foie gras, eine sehr bildhafte Dokumentation. Danach habe ich noch ein bisschen recherchiert und für mich entschieden, dass ich das nicht mehr unterstützen kann und will. Mit den Ansprüchen, die ich habe, müsste ich eigentlich vegan leben. Aber da gibt es leider die ein oder andere Barriere, die mich davon abhält. Tatsächlich esse ich sehr gerne Käse. Aber auch bei Biomilch müssen die Kälber von ihrer Mutter getrennt werden. Es ist nicht einfach!

Sie haben kein Auto und sind 2017 zuletzt geflogen.
Gerhard Reese Ich hatte zweimal im Leben ein Auto, jeweils für ein Jahr, weil ich dachte, das wäre praktisch, aber eigentlich hat es nur genervt, dementsprechend einfach war es, mich davon zu verabschieden. Zuletzt geflogen bin ich zu einer Konferenz nach Schottland, damals steckte ich in dem Dilemma, dass ich nicht so lange von meiner Familie weg sein wollte. Vorletzten September bin ich, wie viele andere, mit dem Zug zu einer Konferenz in Plymouth in Cornwall gefahren, das geht wunderbar. Ich bin begeisterter Zugfahrer.

„Es gibt Verhaltensweisen, die man auf individueller Ebene ändern kann und die einen maximalen Impact haben, ohne dass man auf Politik, Gesellschaft oder irgendetwas warten muss.“

Was antworten Sie jemandem, der fragt: Was bringt es dem Klima, wenn ich als Einzelperson auf einen Flug verzichte?
Gerhard Reese Dann würde ich in Hollywood-Manier antworten: Du bist nicht allein! Aber klar, natürlich ist das ein Megahemmnis, wenn der eigene Beitrag nicht sichtbar ist. Wir sprechen in der Psychologie von fehlender Selbstwirksamkeit, wenn man das Gefühl hat, dass man selbst nichts beitragen kann. Wenn ich mir jetzt einen Kaffee in einem Wegwerfbecher kaufe, ist das insgesamt fürs Klima irrelevant. Wenn ich mich als Teil einer Bewegung sehe, die sich mit mir gegen Wegwerfbecher und den Flieger entscheidet, wird klar: Wir sind doch ziemlich viele. Ohne uns würden wahrscheinlich noch zehn Flieger mehr abheben und noch mehr Plastikmüll generiert werden. Beim Klimawandel und -schutz kommen wir nicht drum herum, da müssen wir kollektiv denken. Als Gruppe können wir wirklich etwas beitragen, ob das jetzt bei Fridays for Future ist oder als Nachbarschaft.

Aber wo fängt man an?
Gerhard Reese Es gibt sogenannte „Big Points“, Verhaltensweisen, die man auf individueller Ebene ändern kann und die einen maximalen Impact haben, ohne dass man auf Politik, Gesellschaft oder irgendwas warten muss. Dazu gehört die Umstellung auf pflanzenbasierte Ernährung. Auf ein eigenes Auto zu verzichten und stattdessen den ÖPNV und das Fahrrad zu nutzen – und wenn man es wirklich braucht, Carsharing-Angebote. Nicht mehr zu fliegen. Ökostrom zu beziehen – es dauert 15 Minuten, sich umzumelden. Was man nicht so auf dem Schirm hat, ist die Frage, wo man sein Geld parkt. Ethische und nachhaltige Banken unterstützen mit dem angelegten Geld den Umwelt- und Klimaschutz.

Warum trinken wir Kaffee aus Plastikbechern, obwohl wir es besser wissen?
Gerhard Reese Das hat eine Vielzahl von Gründen, aber ich fange bei dem für mich mittlerweile Offensichtlichsten an: In unserem gesellschaftspolitischen System wird es uns schwer gemacht, uns umweltbewusst zu verhalten. Es ist kein Wunder, dass die Menschen nicht vom eigenen Auto ablassen, bei einer Infrastruktur, die ausschließlich auf individuelle Automobilität ausgelegt ist. Gerade auf dem Land kann man ohne Auto kein Alltagsleben führen.

Vor Corona war es außerdem extrem verfügbar und günstig, irgendwohin zu fliegen. Ein weiterer Faktor sind individuelle Einstellungen und moralische Vorstellungen. Wenn ich mich beim Einkaufen gegen ein Bioprodukt entscheide, kann das daran liegen, dass ich es zu teuer finde. Oder dass es mir egal ist, wie Produkte hergestellt werden. Das Umfeld spielt natürlich auch eine Rolle. Wenn in der Familie jeden Tag Fleisch auf den Teller kommt, kann man mit Vegetarismus erst mal wenig anfangen.

Gerhard Reese Klimaangst Foto Lena Giovanazza

Was muss passieren, damit wir unsere Bequemlichkeit durchbrechen?
Gerhard Reese Jede Routine, egal wie klein sie ist, erfordert viel Arbeit, um sie zu ändern. Zum Beispiel der Coffee-to-go-Becher. Da könnten wir uns einen Zettel an die Tür oder in die Küche kleben, der uns morgens daran erinnert, unseren Becher mitzunehmen. Oder wenn man weniger Fleisch essen möchte, könnte man erst mal einen Tag in der Woche darauf verzichten, bis man sich daran gewöhnt hat. Und die fleischlosen Tage dann immer weiter ausbauen. Es ist einfacher, wenn die Politik einen unterstützt. Würden Einwegbecher verboten, schätze ich, dass nach vier Wochen 98 Prozent der Kaffeetrinker immer ihren Becher dabeihaben.

„Ich bin kein Ökonom, aber aus meiner Sicht sind Gewinnmaximierung, materieller Konsum und nachhaltiger Klimaschutz nicht miteinander vereinbar.“

Sind Anreize oder Verbote effektiver?
Gerhard Reese Verbote sind nicht zwingend etwas Schlechtes. Für die meisten Menschen sind Verbote akzeptabel, wenn sie diese für sinnvoll halten. Als in den 70ern die Anschnallpflicht eingeführt wurde, gab es einen Riesenaufschrei, weil das eine Freiheitseinschränkung sei. Als dann ein paar Jahre später klar wurde, dass viel weniger Menschen bei Verkehrsunfällen sterben oder schwer verletzt werden, hat man es akzeptiert. Das Rauchverbot hat auch kein Kneipensterben ausgelöst, wie manche befürchtet hatten. Sondern dazu geführt, dass auch Leute mit Kindern wieder in Lokale und Cafés gehen, die vorher richtige Rauchbuden waren. Das habe ich auch an mir selbst beobachtet.

Wir können aber zum Beispiel nicht innereuropäische Flüge verbieten, solange es kein Zugnetz gibt, das es ermöglicht, zwar mit mehr Zeitaufwand, aber ähnlich komfortabel und preislich in Europa unterwegs zu sein. Auch Autos kann man nicht verbieten, solange es keine Alternativen gibt. Menschen, die sich vom Auto verabschieden, könnten aber eine BahnCard 100 für zwei Jahre subventioniert bekommen. Das wäre ein Anreiz, der, glaube ich, bei vielen funktionieren würde.

Unser Wirtschaftssystem ist auf Wachstum und Konsum ausgelegt. Ist nachhaltiger Klimaschutz im Kapitalismus möglich?
Gerhard Reese Ich bin kein Ökonom, aber aus meiner Sicht sind Kapitalismus und nachhaltiger Klimaschutz nicht miteinander vereinbar. Kapitalismus basiert auf Gewinnmaximierung und materiellem Konsum, das kann auf einem Planeten mit begrenzten Rohstoffen nicht funktionieren. Manche Ökonomen sagen, dass es dank des Kapitalismus überhaupt erst technische Lösungen für den Klimaschutz gibt.

Wir Menschen gehen mit diesen technischen Lösungen allerdings nicht gut um. LED-Leuchten und -Fernseher zum Beispiel sind viel sparsamer als Glühbirnen und Röhrenfernseher. Vor 20 Jahren gab es in jedem Haushalt aber nur einen Fernseher. Heute sind oft zehn LED- Bildschirme, in Form von Fernsehern, Computer-Monitoren, Tablets und Smartphones in Betrieb. Wir sparen durch die Technologie also nicht wirklich Energie. Ähnlich ist es mit Autos. Natürlich sind Motoren heute irre effizient, auch Diesel- und Benzinmotoren, aber heute fahren die Menschen zwei oder 2,5 Tonnen schwere SUVs durch die Gegend. Vor 40 Jahren wog etwa ein sehr häufig gekaufter Kompaktwagen gut 800 Kilogramm. Die neueste Version wiegt bis zu circa 1600 Kilogramm.

Sie beschäftigen sich als Umweltpsychologe auch mit der Wirkung der Natur auf den Menschen. Welchen Einfluss haben etwa Naturerlebnisse auf den Klimaschutz?
Gerhard Reese Es gibt Studien, die zeigen, dass Aufenthalte in der Natur, auch in der Kindheit, sich positiv auf das Umweltbewusstsein auswirken, das heißt aber nicht, dass man sich auch so verhält. Wir sprechen von einer „Einstellungs-Verhaltens-Lücke“, auch hier gibt es Studien, die zeigen, dass gerade Menschen mit einem großen Umweltbewusstsein einen höheren ökologischen Fußabdruck haben.

Wie kann das sein?
Gerhard Reese Weil es häufig gut gebildete Menschen sind, die gut verdienen und Umwelt und Natur toll und wichtig finden, aber mit ihrem SUV zum Bioladen und in den Skiurlaub fahren. Ich bin leider auch viel geflogen in meinem Leben, und ausgerechnet auf Reisen hat sich mein Umweltbewusstsein gefestigt: als ich live gesehen habe, was unser Planet so zu bieten hat, zum Beispiel in Neuseeland und La Réunion. Wie bin ich dahin gekommen? Mit dem Flieger. Das ist ein Dilemma, aus dem ich noch nicht herausgefunden habe. Ich glaube schon, dass persönliche Erlebnisse und Erfahrungen eine zentrale Rolle für unser Naturschutzverhalten spielen. Man kann diese Erfahrungen aber natürlich auch innerhalb Europas machen.

Uns bleibt nicht mehr viel Zeit, um das Klima zu retten. Was ist Ihre Zukunftsvision?
Gerhard Reese Meine Vision ist, dass wir es schaffen, innerhalb der nächsten ein bis zwei Dekaden einen gesellschaftlichen Konsens darüber zu finden, dass wir eine nachhaltige Gesellschaftsform brauchen und dieser immer näherkommen. Dass wir irgendwann, nicht nur in Deutschland, sondern global so leben können, dass wir zehn Milliarden Menschen versorgen können – mit den Ressourcen, die wir haben, und möglichst gleichberechtigt.

 

Zur Person
Gerhard Reese, geboren 1981 in Frankenberg (Eder) in Hessen, ist Professor für Umweltpsychologie und leitet den Studiengang „Mensch und Umwelt: Psychologie, Kommunikation, Ökonomie“ an der Universität Koblenz/Landau. 2019 hat er mit internationalen Kolleg:innen „The Psychology of Globalization: Identity, Ideology, and Action“ veröffentlicht. Er forscht unter anderem zu Umwelt- und Naturschutzpsychologie und Umweltgerechtigkeit.

 

Kulturtipps von Gerhard Reese

Hören Die Podcasts „1,5 Grad“ und „REFLEKTA“
„1,5 Grad“ ist der Klima-Podcast von Luisa Neubauer, der Aktivistin und Mitorganisatorin von Fridays for Future. In „REFLEKTA“ geht es um alle möglichen Themen wie Suffizienz und Verzicht, der ist noch ein bisschen vielfältiger. Beide Podcasts sind sehr informativ und geben einen guten Überblick über die Akteure in verschiedenen Bereichen.

Lesen Yuval Noah Harari: „Eine kurze Geschichte der Menschheit“
Ein sehr prägnantes und anschauliches Buch und eine Erklärung für vieles, was heute in unserer Gesellschaft schief-, aber auch gut läuft. Und Harry Potter, aber den mag ja jeder.

Sehen „The Mandalorian“
Die Serie (Disney+) ist einfach fantastisch – für alle, die die Original-„Star Wars“-Filme mochten, aber mit den neuen nicht so viel anfangen konnten.

Text Katrin Hollmer
Foto Lena Giovanazzi 

Dieser Beitrag ist erschienen in Werde 02/2021